10.09.1999

Ein islamischer Weg in die Moderne?

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Ein islamischer Weg in die Moderne?

Von GRAHAM FULLER *

WENN im Westen vom „islamischen Fundamentalismus“ die Rede ist, denken viele unweigerlich an bärtige, Turban tragende Männer und schwarz verhüllte Frauen. Zweifellos gibt es in einigen islamistischen Bewegungen deutlich reaktionäre und auch gewaltsame Elemente, doch das sollte nicht den Blick dafür verstellen, dass sich in diesen Bewegungen heute auch starke Modernisierungskräfte zeigen. Das eigentliche Anliegen des politischen Islam ist Veränderung, und das macht seine Modernität aus. Es könnten gerade die islamistischen Bewegungen sein, die dafür sorgen werden, dass sich die muslimische Welt wandelt und die überalterten Regime ihr Ende finden – was an ihre Stelle treten wird, ist weniger klar.

Nach islamistischer Auffassung darf die Religion nicht beschränkt bleiben auf das private Leben und den persönlichen Glauben: Die Aussagen des Islam zur Gesellschaft und zur gerechten politischen Ordnung sind von erheblicher Bedeutung für die heutige Politik. Anders als das Christentum befasste sich der Islam von Anbeginn mit Fragen der Politik und der Regierung – dass noch zu Lebzeiten des Propheten neue Gebiete unter muslimische Herrschaft fielen, machte es notwendig, sich solchen Themen zuzuwenden wie den Grundsätzen für das Zusammenleben, Justiz, Verwaltung, den Beziehungen zu den Nichtmuslimen, der Verteidigungs- und Außenpolitik. Zu den wichtigsten neuen Ideen gehörten klare Vorstellungen davon, was eine gute Regierung, Recht und eine gerechte Gesellschaft ausmacht. Der Prophet war nicht zur Verteidigung des Status quo angetreten, sondern um zu reformieren und zu verändern. Zum Beispiel erhielten die Frauen erstmals einen Rechtsstatus und konkreten rechtlichen Schutz im Rahmen der Gesellschaft.

Wenn sich die Islamisten heute den Status quo der islamischen Welt anschauen, dann gefällt ihnen nicht, was sie sehen. Anstelle der guten Regierung herrschen autoritäre Machthaber, überall Repression, Korruption, Unfähigkeit, wirtschaftliche und soziale Not – eine unerträgliche Situation, die nach Veränderung schreit. Aber worauf soll sich der Wandel gründen? Sind es im Westen die britische Magna Charta, die Französische Revolution oder die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, aus denen sich die Grundsätze der Regierungsgewalt herleiten, so bezieht sich der Islam auf Inhalte des Koran und die überlieferten Aussprüche und Taten des Propheten (hadith). Aus diesen Quellen schöpft das politische Denken in muslimischen Gesellschaften, von hier stammen Sprache und Begrifflichkeit der Einschätzungen. Es ist also nichts Besonderes, dass auch die Islamisten sich dieser nichtwestlichen Begriffe bedienen – sie beziehen sich auf die Vergangenheit als philosophisches Modell, sie wollen nicht etwa das damalige Alltagsleben in die Gegenwart übertragen. Und abgesehen davon, dass es gilt, die Grundprinzipien des Islam zu achten, sind sie sich durchaus nicht einig darüber, was zu tun sei.

Die Erneuerung hat begonnen

WIE sollen diese Grundprinzipien im heutigen Leben Geltung erlangen? Über das Verhältnis zwischen Demokratie und Islam (oder anderen Religionen) lässt sich trefflich streiten, die entscheidende Frage lautet jedoch: Welches Verhältnis haben die Muslime zur Demokratie – was wollen sie? Demokratische Vorstellungen finden unter islamistischen Denkern zunehmend Verbreitung, allerdings wird nicht die kritiklose Übernahme westlicher Systeme empfohlen, sondern man bemüht sich darum, demokratische Prinzipen aus dem islamischen Grundsatz der schura (Beratung) abzuleiten – der besagt, dass die Regierung den Wünschen des Volkes, dem Gott die Gabe der Vernunft verliehen hat, Rechnung tragen müsse. So erklärt sich, dass sich heute die Mehrheit der Islamisten in der Opposition gegen gescheiterte, unfähige, illegitime und repressive Regimes befindet. Sie fordern das Recht auf Kritik an der Regierung, und das hat sie in vielen Ländern zur Zielscheibe für die Sicherheitsdienste gemacht. Tatsächlich rufen einige Extremisten, etwa in Ägypten oder Algerien, zur Gewalt gegen den Staat auf oder führen selbst Gewaltaktionen durch, doch dies sind Reaktionen darauf, dass die Regime dieser Staaten den Islamisten den Zugang zum politischen System verwehrt und sie mit brutalen Mitteln unterdrückt haben.

In der islamischen Welt gehören heute Islamisten zu den aktivsten Kräften im Kampf für Demokratie und Menschenrechte. Sie haben häufig genug am eigenen Leibe erfahren müssen, was es bedeutet, wenn diese Prinzipien missachtet werden, und sie haben begriffen, wie wichtig sie für eine Gesellschaft sind. Und wenn die Islamisten selbst an die Macht kommen? Werden sie diese Ideale achten? Das bleibt fraglich. In Gesellschaften, in denen die Demokratie kaum verwurzelt und ohne Tradition ist, wird kaum eine bestimmte politische Gruppierung in der Lage sein, demokratische Praktiken und die Achtung der Menschenrechte durchzusetzen – das gilt auch für die Islamisten. Es hängt in starkem Maße von der politischen Kultur eines Landes ab, wie sich die Parteien und andere politische Kräfte in der Zukunft orientieren werden.

Als modern erweisen sich die Islamisten auch in der Organisation ihrer sozialen Basisaktivitäten. In allen Ländern, in denen sie nicht verboten sind, wissen sie, im Unterschied zu anderen, regierungsnahen oder sozial elitären Gruppierungen, sehr gut Bescheid über die Stimmung in der Bevölkerung und ihre Interessen. Ihre Basis sind zumeist Organisationen der Nachbarschaftshilfe, die nahe einer Moschee betrieben werden, vielfach unterhalten sie, unabhängig von den staatlichen Institutionen, auch örtliche Hilfsdienste, die verschiedene soziale Leistungen bieten: Krankenstationen, vor allem für Frauen, Unterbringung von Studenten, die vom Dorf in die Großstadt gekommen sind, Freizeiteinrichtungen für Jugendliche, Rechtsberatung, Ausbildungshilfe und anderes mehr. Die finanziellen Mittel für diese Aktivitäten, die den Menschen oft mehr Hilfe bieten als der Staat, kommen im Allgemeinen von religiösen Stiftungen und von großen Banken und Unternehmen, die von Islamisten geführt werden und zum Teil über sehr viel Geld verfügen. In diesem Bereich erweisen sich die Islamisten als weit weniger etatistisch und viel stärker an den Bedürfnissen der ärmeren Schichten orientiert als ihre politischen Konkurrenten. Es geht ihnen darum, sich politische und soziale Unterstützung zu verschaffen, aber ihr Antrieb ist auch der Glaube und ihre islamische Ideologie.

Grundsätzlich ist der Islam verankert in der Tradition von Freihandel und Privatwirtschaft. Der Prophet war ein Handelsherr, auch seine erste Frau betrieb dieses Geschäft. Weder was die Wirtschaft noch was andere Bereiche angeht, hebt der Islam die Rolle des Staates besonders hervor, seine Vertreter haben sich immer wieder gegen sozialistische Wirtschaftsmaßnahmen in der islamischen Welt gewandt. Ihre Vorliebe für die Marktwirtschaft war jedoch geknüpft an die Bedingung, diese müsse sich als „sozial gerecht“ erweisen – eine bedeutsame Einschränkung. Die Islamisten werfen dem Westen vor, er vertraue zur Lösung der meisten sozialen Probleme blind auf die Marktmechanismen; ihre „Kapitalismuskritik“ bezieht sich zumeist auf den westlichen „Konsumismus“ und übertriebenen „Materialismus“.

Besonders häufig, und manchmal zu Recht, ist im Westen die den Frauen zugewiesene Rolle im Islam kritisiert worden. Als besonders primitiv gelten vor allem die Auffassungen der Taliban, die auch von vielen Muslimen als unislamisch abgelehnt werden. Über die Stellung der Frau in der Gesellschaft wird heute in der islamischen Welt eine heftige und anhaltende Debatte geführt, auch wenn grundsätzlich die konservativen Vorstellungen vorherrschen, die die soziale Aufgabe der Frau im Haushalt, in der Kindererziehung und der Erhaltung und Weitergabe moralischer Werte sehen. Man fürchtet eine Entwicklung, die man im Westen zu beobachten glaubt: Frauen werden zu „Sexualobjekten“, sie sind der Ausbeutung ausgeliefert, die Wertordnung in Gesellschaft und Familie bricht zusammen.

Tatsächlich ist heute muslimischen Frauen allein in Afghanistan die bezahlte Arbeit untersagt. Und zugleich sind es gerade die Frauenorganisationen der islamistischen Parteien, in denen heute Millionen von muslimischen Frauen lernen, wie Politik gemacht wird. Zum Teil ergibt sich das Problem der Rolle der Frau in der muslimischen Gesellschaft nicht aus den islamischen Grundsätzen selbst, sondern aus deren extrem konservativer Auslegung und aus traditionellen Gebräuchen, die als „islamisch“ gelten. Heute tritt in vielen Ländern, auch im Iran, eine neue Garde von islamischen Feministinnen an, deren Forderung lautet, man müsse sich nicht auf die Tradition, sondern auf den „wahren“ Islam beziehen. Frauen studieren nun selbst den Koran und das islamische Recht und stellen die konservativen, von Männern bestimmten Auslegungen in Frage. Wo im Koran steht geschrieben, dass Frauen – wie in Saudi-Arabien – nicht Auto fahren dürfen? Und wo steht, dass sie ihr Gesicht verschleiern müssen, dass sie nicht arbeiten dürfen? In vielen Teilen der islamischen Welt haben heute muslimische Frauen den Mut, gegen diese Traditionen anzugehen. Nicht zu vergessen: In der traditionellen hinduistischen oder chinesischen Gesellschaft werden die Frauen nicht besser behandelt.

Die konservativen islamischen Religionsgelehrten, die Teil des bestehenden Systems sind, finden inzwischen neue Gegner in den radikalen Islamisten, nach deren Auffassung der Islam die Aufgabe hat, die schlechte Wirklichkeit im Nahen Osten zu verändern. Es soll Schluss sein mit der Rückständigkeit dieser Region gegenüber der übrigen Welt in fast allen Belangen. Im Laufe der Geschichte haben die traditionalistischen Gelehrten zumeist der weltlichen Macht Reverenz erwiesen und die jeweiligen Könige, Sultane und Generäle unterstützt, indem sie Interpretationen der Idee der Regierung entwickelten, die es dem gläubigen Muslim nicht erlaubten, gegen einen ungerechten Herrscher aufzubegehren: besser Unrecht als Chaos und Anarchie. Nicht zuletzt unter dem Einfluss der westlichen politischen Philosophie argumentieren heute viele Islamisten genau umgekehrt: Es ist die Pflicht der Muslime, sich gegen ungerechte Regierungen zu wenden und sie abzulösen.

Der Begriff „Fundamentalismus“ deutet es an: Die islamistische Bewegung kann auch als Rückkehr zu den Wurzeln, zur ursprünglichen Auffassung des Islam verstanden werden. Dem halten die Modernisten entgegen, es komme stärker auf den Kontext als auf den Text an. Weil viele Vorschriften und Auslegungen aus der Zeit des Propheten und danach nur für die damaligen Umstände gedacht waren, müsse man sie mit Blick auf die heutigen Umstände neu interpretieren, um sie zu verstehen. Eines der bedeutendsten Zentren dieser Richtung der islamischen Religionsgelehrsamkeit hat übrigens seinen Sitz im Westen, wo Muslime erstmals ungehindert forschen, diskutieren, publizieren und ihre unterschiedlichen Vorstellungen auch in Büchern, im Fernsehen, auf Tagungen und im Internet öffentlich vorstellen können. All das ist in ihren Heimatländern entweder unmöglich oder verboten.

Eine Erneuerung des Islam hat begonnen. Überall in der islamischen Welt und darüber hinaus werden lebhafte Debatten geführt. Darüber, wie ein islamischer Staat auszusehen habe und was damit eigentlich gemeint sei, besteht keine Einigung. Aber die Islamisten sind entschlossen, aus der Überlieferung neue Auslegungen zu gewinnen, die für die Gesellschaft von heute taugen. Ihre Kritik an den eigenen Gesellschaften und auch am Westen ist oft sehr treffend – bislang gelingt ihnen das besser als die Entwicklung neuer Modelle. Äußerst empfindlich reagieren sie auf das, was in ihren Augen die Vormachtstellung des Westens in einer neuen Weltordnung ausmacht, in der die Muslime kaum Macht und Einfluss haben. Und wenn es darum geht, die eigene Kultur zu schützen und die islamische Welt gegenüber dem Westen zu stärken, ist ihre Haltung nationalistisch. Natürlich werden sie im Laufe der weiteren Entwicklung Fehler machen und man wird es sicher oft nicht leicht mit ihnen haben, aber sie werden auch hinzulernen. Ihr grundlegendes Ziel ist jedenfalls nicht antiwestlich: Ihnen geht es vor allem um die Reformierung ihrer eigenen Gesellschaften.

Diese Reformierung des Islam wird viel Zeit brauchen, doch sicher nicht so viel wie einst die christliche Reformation. Im islamischen Denken werden die Debatten heute nicht um die Bewahrung des Bestehenden, sondern um den Wandel geführt, darüber wie er beschaffen sein soll und wie man ihn erreicht. Die Vorstellungen von der Rolle des Islam in der heutigen Welt gehen weit auseinander, und die Ziele der verschiedenen Lager sind so unterschiedlich wie die Wege, die dorthin führen. Niemand besitzt ein Definitionsmonopol, und wir werden diese innerislamische Auseinandersetzung, von der kaum ein Staat der islamischen Welt unberührt bleiben dürfte, wohl noch lange Zeit verfolgen können.

dt. Edgar Peinelt

* Graham Fuller war stellvertretender Vorsitzender des National Intelligence Council bei der CIA. Demnächst erscheint sein Buch über islamistische Bewegungen im 21. Jahrhundert.

Le Monde diplomatique vom 10.09.1999, von GRAHAM FULLER