Betr.: Tschetschenien-Konflikt
Unter Verletzung des Abkommens, das zwischen Tschernomyrdin und Maschadow am 23. November 1996 geschlossen wurde, sind russische Truppen seit Anfang September auf tschetschenisches Territorium vorgedrungen. Offiziell begründet wird die Invasion mit der Jagd auf „islamistische Terroristen“, die als Urheber der Unruhen gelten, die Anfang August in Dagestan ausbrachen. Inzwischen ist aus dem Vorstoß ein totaler Krieg geworden, der überwiegend die Zivilbevölkerung trifft – vor allem in Grosny. Worum geht es Päsident Jelzin und seinem neuen Ministerpräsidenten? Wollen sie ihre Macht retten, die im Strudel der Skandale zu versinken droht und die sie über die kommenden Wahlen hinwegretten wollen? Wladimir Putin hat es verstanden, das Gefühl des nationalen Zusammenhalts nach den terroristischen Anschlägen zu nutzen, um sich eine gewisse Popularität zu verschaffen. Aber bislang sieht es nicht so aus, als reiche dies aus, um dem „Jelzin-Lager“ im Dezember eine Mehrheit in der Duma zu verschaffen, ganz zu schweigen vn einem Sieg über Jewgeni Primakow bei den Präsidentschaftswahlen im Juni 2000. Bis zum Frühjahr könnte die russische Armee im tschetschenischen Morast steckenbleiben. Auch hat der Westen noch Gelegenheit, die Aktion eindeutiger zu verurteilen, und die öffentliche Meinung in Russland könnte umschlagen. Sollte man im Kreml aber tatsächlich die Absicht haben, die russischen Interessen in der Region zu verteidigen, so wäre auch dies ein gewagtes Spiel. Der Krieg könnte seine Urheber teuer zu stehen kommen undauf lange Zeit die Erneuerung der Föderation ebenso blockieren wie einen ökonomischen Aufschwung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Das käme den Kräften gelegen, die den Einfluss Moskaus an den südlichen Grenzen reduzieren wollen – nicht zuletzt den USA.
D. V.