09.02.2007

Der Missbrauch der Kulturen

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Der Missbrauch der Kulturen

Identität als Falle von Amartya Sen

Mit der Theorie vom Kampf der Kulturen gibt es zwei Schwierigkeiten. Die erste und vermutlich grundlegendere hat damit zu tun, ob es praktisch überhaupt möglich und signifikant ist, Menschen nach den Kulturen zu klassifizieren, denen sie angeblich „angehören“. Diese Frage ergibt sich lange vor den Problemen, die wir mit der Ansicht haben, die solchermaßen in Schubladen diverser Kulturen sortierten Menschen müssten sich irgendwie in einem Gegensatz zueinander befinden, die Kulturen, denen sie angehören, seien einander feind. Der These von einem Kampf der Kulturen liegt die sehr viel allgemeinere Vorstellung zugrunde, dass es möglich sei, Menschen vorrangig als Angehörige der einen oder anderen Kultur zu betrachten. (…)

Selbst die Gegner der Theorie vom Kampf der Kulturen können dazu beitragen, deren geistige Grundlage zu stützen, wenn sie sich darauf einlassen, dieselbe singuläre Einteilung der Weltbevölkerung zu akzeptieren. Der herzerwärmende Glaube an ein fundamentales Wohlwollen zwischen Menschen, die verschiedenen Kulturen angehören, ist natürlich himmelweit entfernt von dem kalten Pessimismus, der nur Konflikt und Hader zwischen ihnen sieht. Beiden Betrachtungsweisen liegt jedoch dieselbe reduktionistische Überzeugung zugrunde. (…)

Um der groben und gehässigen Verallgemeinerung entgegenzutreten, die Kultur der islamischen Welt sei kriegerisch, pflegt man darauf hinzuweisen, in Wirklichkeit sei sie eine Kultur des Friedens und der Freundlichkeit. Aber damit ersetzt man ein Stereotyp nur durch ein anderes, und obendrein akzeptiert man die stillschweigende Annahme, dass Menschen, die per Religion zufällig Muslime sind, einander im Grunde auch in anderer Hinsicht ähnlich sind. (…)

Der Kampf der Kulturen ist eine ausgesprochen globale These über Konflikte, doch gibt es auch bescheidenere, aber ebenfalls einflussreiche Behauptungen, nach denen die vielen Konflikte und Gräuel, die wir heute in verschiedenen Teilen der Welt beobachten, mit Gegensätzen von Kulturen und Identitäten zusammenhängen (…), woraus quasi „naturwüchsig“ gegenseitige Feindschaft erwächst. Die Konflikte, an denen etwa Hutu und Tutsi, Serben und Albaner, Tamilen und Singhalesen beteiligt sind, werden dann aus erhabener historischer Sicht uminterpretiert in etwas, das sehr viel größer ist als die schäbige Tagespolitik.

Dass der imposante Kultur-Ansatz solchen Anklang findet, ist leicht zu verstehen. Er beschwört die Fülle der Geschichte und die scheinbare Tiefgründigkeit und den Ernst der Kulturanalyse, und er bemüht sich um Tiefe in einer Weise, die der aktuellen politischen Analyse des „Hier und Jetzt“, das als alltäglich und profan empfunden wird, offenbar abgeht. (…)

Mir fällt in diesem Zusammenhang ein fünfzig Jahre zurückliegendes Ereignis ein, kurz nachdem ich aus Indien nach England gekommen war, um an der Universität Cambridge zu studieren. Ein freundlicher Kommilitone nahm mich mit ins Kino, wo der Hitchcock-Film „Das Fenster zum Hof“ lief, in dem James Stewart einen gewitzten, aber an den Rollstuhl gefesselten Fotografen spielt, der eine Reihe sehr verdächtiger Vorgänge im Haus gegenüber beobachtet. Auch ich kam in meiner Naivität wie James Stewart zu der Überzeugung, dass in einer der Wohnungen, die vom Fenster zum Hof aus zu sehen waren, möglicherweise ein grauenhafter Mord begangen worden war.

Mein theoretisierender Begleiter erklärte mir jedoch, er sei sicher, dass kein Mord vorliege und der ganze Film, wie ich bald herausfinden würde, eine schwere Anklage gegen den McCarthyismus in Amerika sei, der alle dazu aufrufe, das Treiben ihrer Nachbarn argwöhnisch zu beobachten. (…)

Ich weiß noch, dass ich meinem enttäuschten Führer zur westlichen Kultur einen starken Kaffee machen musste, um ihn mit der seichten und trivialen Welt zu versöhnen, in der der Mörder seine profane Quittung bekam. In diesem Sinne muss die Frage gestellt werden, ob wir in der Welt, in der wir leben, tatsächlich Zeugen eines groß angelegten Kampfes der Kulturen sind oder ob wir etwas weit Gewöhnlicheres beobachten, das nur entschlossenen Suchern nach Tiefe und Abgründigkeit als ein Kampf der Kulturen erscheint. (…)

Die Erkenntnis, dass wir alle viele verschiedene Identitäten haben können und tatsächlich haben, die an verschiedene wichtige Gruppen geknüpft sind, denen wir gleichzeitig angehören, erscheint manchen kompliziert. Dabei handelt es sich um eine ganz gewöhnliche und elementare Erkenntnis. Im normalen Leben sehen wir uns als Mitglieder einer Vielzahl von Gruppen, denen allen wir angehören.

Dass eine Person eine Frau ist, steht nicht im Widerspruch dazu, dass sie Vegetarierin ist, was wiederum nicht dagegen spricht, dass sie Anwältin ist, was sie nicht daran hindert, eine Jazzliebhaberin zu sein oder eine Heterosexuelle oder eine Verfechterin der Rechte von Schwulen und Lesben. Jeder Mensch gehört zu vielen verschiedenen Gruppen (ohne dass dies irgendwie ein Widerspruch wäre), und jedes dieser Kollektive, denen allen der Betreffende angehört, verleiht ihm eine potenzielle Identität, die je nach Kontext sehr wichtig sein kann. (…)

Falsche Beschreibungen und falsche Vorstellungen können die Welt zerbrechlicher machen, als sie sein müsste. Nicht nur, dass die Annahme einer singulären Klassifikation unhaltbar ist – eine weitere Schwäche der Kultur-Theorie besteht darin, dass sie die Verschiedenheiten innerhalb der benannten Kulturen ignoriert und über die ausgedehnten Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Kulturen hinwegsieht. (…)

Auch die Demokratie wird oft als eine typisch westliche Idee hingestellt, die der nicht-westlichen Welt fremd ist.(…) Es kann natürlich nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass die modernen Begriffe von Demokratie und öffentlichem Diskurs stark von europäischen und amerikanischen Analysen und Erfahrungen der letzten Jahrhunderte beeinflusst wurden, insbesondere von der geistigen Kraft der europäischen Aufklärung. Es wäre jedoch sehr eigenartig, wollte man durch rückwirkende Extrapolation aus diesen relativ jungen Erfahrungen eine wesensmäßige und seit langem bestehende Dichotomie zwischen dem Westen und dem Nichtwesten konstruieren. (…)

Der Glaube an das angeblich „westliche“ Wesen der Demokratie stützt sich oftmals darauf, dass in Griechenland und besonders in Athen schon früh Abstimmungen und Wahlen gebräuchlich waren. Der bahnbrechende Beginn im alten Griechenland war in der Tat bedeutsam, aber vom alten Griechenland zu der These zu springen, die Demokratie sei „westlicher“ oder „europäischer“ Natur, ist verwirrend und aus mindestens drei Gründen widerlegt.

Da ist zunächst die klassifikatorische Willkür, Kulturen weitgehend „rassisch“ zu definieren. Bei dieser Auffassung von unterschiedlichen Kulturen fällt es nicht schwer, die Nachkommen beispielsweise der Goten und der Westgoten als rechtmäßige Erben der griechischen Tradition zu betrachten („sie sind alle Europäer“, sagt man uns). Gleichzeitig sträubt man sich, die geistigen Beziehungen der Griechen zu anderen alten Kulturen im Süden und Osten Griechenlands zur Kenntnis zu nehmen, obwohl die alten Griechen selbst weit mehr daran interessiert waren, mit den alten Persern, Indern oder Ägyptern zu reden, als die alten Ostgoten anzusprechen.

Die zweite Frage betrifft die Nachwirkung des frühen griechischen Experiments. Athen machte sicherlich den Anfang mit Wahlen, aber viele Staaten in der Region haben diesen Weg in den folgenden Jahrhunderten weiter beschritten. Nichts deutet indes darauf hin, dass das griechische Experiment mit gewählten Regierungen in den Ländern westlich von Griechenland und Rom unmittelbare Nachfolge gefunden hätte, beispielsweise im heutigen Frankreich oder Deutschland oder Großbritannien. Anders sieht es mit einigen damaligen Städten in Asien – in Persien, Baktrien und Indien – aus, die in den Jahrhunderten nach der Blüte der athenischen Demokratie demokratische Elemente in ihre kommunale Regierungsform einbezogen. Die Stadt Susa (auch Shushan) im Südwesten Persiens hatte beispielsweise jahrhundertelang einen gewählten Rat, eine Volksversammlung und Richter, die vom Rat vorgeschlagen und von der Versammlung gewählt wurden.

Drittens geht es bei der Demokratie nicht nur um Abstimmungen und Wahlen, sondern auch um die öffentliche Beratung und Debatte, um die „Regierung durch Diskussion“, wie die alte Wendung lautet. Im alten Griechenland erlebte die öffentliche Debatte tatsächlich eine Blütezeit, aber das gilt auch für einige andere alte Kulturen, zuweilen sogar in spektakulärer Weise. Zu den ersten offenen Generalversammlungen, die eigens einberufen wurden, um Differenzen zwischen verschiedenen Standpunkten beizulegen, gehören die sogenannten buddhistischen Konzile in Indien, auf denen die Anhänger unterschiedlicher Ansichten zusammenkamen, um ihre Meinungsverschiedenheiten auszudiskutieren. (…)

Auf die Tradition der öffentlichen Diskussion stößt man in aller Welt. Dafür ein anderes historisches Beispiel: Der buddhistische japanische Kronprinz Shotoku, Regent für seine Mutter, die Kaiserin Suiko, forderte im frühen 7. Jahrhundert in der „17-Artikel-Verfassung“: „Wichtige Entscheidungen sollte nicht eine Person allein treffen. Sie sollten mit vielen diskutiert werden.“ Das ist zufällig sechshundert Jahre vor der Unterzeichnung der Magna Charta im 13. Jahrhundert. (…)

Die öffentliche Diskussion hat in der ganzen Welt eine lange Geschichte. Sogar der unbesiegbare Alexander kam in den Genuss eines guten Beispiels öffentlicher Kritik, als er um 325 v. Chr. im Nordwesten Indiens umherzog. Als er eine Gruppe dschainistischer Weiser fragte, warum sie dem großen Eroberer keine Beachtung schenkten, erhielt er die folgende energische Antwort: „König Alexander, jeder Mensch kann von der Oberfläche der Erde nur so viel besitzen wie das, worauf er steht. Du bist nur ein Mensch wie alle anderen, außer dass du dauernd unterwegs bist und nichts Gutes im Schilde führst, so viele Meilen von deiner Heimat entfernt, eine Plage für dich selbst und für andere! Bald wirst du tot sein, und dann wird dir gerade so viel von der Erde gehören, wie nötig ist, um dich zu begraben.“

Auch in der Geschichte des Nahen Ostens und der Geschichte der muslimischen Völker finden sich viele Schilderungen öffentlicher Diskussionen und politischer Partizipation durch Gespräche. In den muslimischen Reichen um Kairo, Bagdad und Istanbul oder im Iran, in Indien oder auch in Spanien hatte die öffentliche Diskussion viele Verfechter. (…)

In seiner Autobiografie „Der lange Weg zur Freiheit“ schildert Nelson Mandela, welchen Eindruck es auf ihn als Knaben machte, dass die Versammlungen in seiner Heimatstadt so demokratisch abliefen: „Es sprach jeder, der sprechen wollte. Es war Demokratie in ihrer reinsten Form. Unter den Rednern mag es zwar eine Hierarchie geben, was die Bedeutung der Einzelnen betrifft, doch wurde jeder angehört, ob Häuptling oder einfacher Mann, Krieger oder Medizinmann, Ladenbesitzer oder Farmer, Landbesitzer oder Arbeiter.“

Das Verlangen nach Demokratie wurde Mandela nicht vom Westen „aufgezwungen“. Es ging eindeutig von seinem afrikanischen Zuhause aus, aber er hat dafür gekämpft, es „den Europäern“ (man wird sich vielleicht erinnern, dass die weißen Herrscher Südafrikas sich während des Apartheidregimes selber so nannten) „aufzuzwingen“. Dass Mandela sich am Ende durchsetzte, war ein Sieg der Menschlichkeit – und nicht einer spezifisch europäischen Idee.

Nicht minder wichtig ist die Erkenntnis, dass die sogenannte westliche Wissenschaft sich auf das Erbe der gesamten Menschheit stützt. Es besteht ein Traditionszusammenhang zwischen der Mathematik und Wissenschaft des Westens und frühen nicht-westlichen Vorläufern. So gelangte das Dezimalsystem, das in den ersten Jahrhunderten des ersten Jahrtausends in Indien entwickelt wurde, gegen Ende des Jahrtausends über die Araber nach Europa. Zur Wissenschaft, Mathematik und Philosophie, die in der europäischen Renaissance und später in der Aufklärung eine bedeutende Rolle spielten, haben sehr viele Einflüsse aus nicht-westlichen Gesellschaften – u. a. der chinesischen, der arabischen, der persischen, der indischen – beigetragen.

Nicht nur, dass der Westen beim weltweiten Aufblühen von Wissenschaft und Technik nicht als einziger eine führende Rolle spielt – es hat bedeutende Fortschritte gegeben, die auf einem umfassenden internationalen Austausch gänzlich außerhalb von Europa beruhten. Betrachten wir den Buchdruck, laut Francis Bacon eine der Entwicklungen, die das Gesicht der Welt und den Zustand aller Dinge verändert haben. Alle während des ersten Jahrtausends unternommenen Versuche mit dem Buchdruck erfolgten weit außerhalb Europas. Auch gingen sie weitgehend auf Anregungen buddhistischer Intellektueller zurück, denen sehr am öffentlichen Vortrag und der Verbreitung von Ideen gelegen war, und so wurden denn auch die ersten Versuche mit dem Buchdruck in China, Korea und Japan allesamt von buddhistischen Handwerkern unternommen. (…)

Gelehrsamkeit und Denken in der Welt pflegen aufgrund von Entwicklungen in verschiedenen Regionen voranzukommen, und angesichts dessen wäre es unangemessen, den Fortschritt einer imaginierten Absonderung der Kulturen zuzuschreiben. Ideen und Erkenntnisse, die in den letzten Jahrhunderten im Westen entwickelt wurden, haben die moderne Welt dramatisch verändert, aber eine rein westliche Konzeption ist darin schwerlich zu erkennen.

© Le Monde diplomatique, Berlin Amartya Sen ist Professor in Havard. 1998 erhielt er den „Nobelpreis für Ökonomie“. Der vorliegende Text ist, leicht gekürzt,entnommen aus: Amartya Sen, „Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt“ .Erscheint am 22.Februar im Verlag C. H. Beck, München.

Le Monde diplomatique vom 09.02.2007, von Amartya Sen