09.02.2007

Die Verschwundenen

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Die Verschwundenen

Als Mitarbeiter der uruguayischen Universidad de la República am 2. Dezember 2005 auf einem Feld in der Nähe der Stadt Pando Ausgrabungen durchführten, stieß eine Archäologiestudentin gegen Mittag auf einen Knochen. Bald war klar, dass es sich dabei um ein menschliches Wadenbein handelte. Eineinhalb Stunden später hatte man ein komplettes Skelett freigelegt. Kurz darauf landeten Tabaré Vázquez, der Präsident der Republik, und seine Verteidigungsministerin Azucena Berrutti in einem Armeehubschrauber auf dem Gelände. Erstmals hatte man die Überreste eines der schätzungsweise 260 Menschen gefunden, die in den Jahren der Diktatur verhaftet wurden und spurlos verschwanden. In diesem Fall handelte es sich um einen kommunistischen Arbeiter. Den Aufzeichnungen der Streitkräfte zufolge war er „aus der Haft entflohen“. Tatsächlich hatte man ihn 1974 zu Tode gefoltert und dann auf diesem Feld verscharrt.

Die Erforschung solcher Verbrechen kam unter den ersten demokratischen Regierungen nach dem Ende der Diktatur kaum voran. Obwohl solche Taten nach den Bestimmungen des Völkerrechts nicht verjähren, blieben die meisten dank eines Gesetzes „über die Hinfälligkeit des Strafanspruchs des Staates“ (siehe Artikel oben) bisher ungesühnt. Bevor das Verjährungsgesetz im Parlament verabschiedet wurde, waren die Protokolle der Vernehmungen von Militärangehörigen durch die Justiz „in einem Panzerschrank“ unter Verschluss gehalten worden, wie General Hugo Medina freimütig zugab. Die Präsidentschaft von Luis Lacalle (1990–1995) und die anschließende zweite Amtszeit Julio María Sanguinettis (1995–2000) erlaubten keine weiteren Fortschritte bei der juristischen Aufarbeitung der Diktatur.

Erst unter Jorge Batlle (2000–2005), der wie Sanguinetti der Colorado-Partei angehörte, kam es zur Gründung einer „Kommission für den Frieden“. Ihre Aufgabe bestand darin, den Artikel 4 des Gesetzes in die Realität umzusetzen. Dieser Passus verpflichtet den uruguayischen Staat, die Verbrechen der Diktatur aufzuklären und die Leichen der Verschwundenen zu finden.

Der Kommission gelang es, die Enkelin des argentinischen Dichters Juan Gelman aufzuspüren. Ihre erst 19-jährige Mutter hatte sie 1978 zur Welt gebracht und wurde, obwohl sie keine militante Aktivistin war, kurz nach der Entbindung aus Argentinien entführt und in Montevideo ermordet. Ein uruguayischer Polizeikommissar mit guten Verbindungen zur Colorado-Partei „adoptierte“ das Kind und zog es auf.

Insgesamt lenkten die Nachforschungen und Erkenntnisse der Kommission für den Frieden in dieser ersten Phase eher von ihrer eigentlichen Aufgabe ab. Es gelang ihr weder, die Verbrechen des Militärs zu rekonstruieren noch die Leichen der Opfer zu finden noch die Schuldigen zu identifizieren. Was die große Mehrzahl der „Verschwundenen“ anging, herrschte immer noch drückendes Schweigen.

Eine Merkwürdigkeit bei dem zwar völkerrechtswidrigen, aber immer noch geltenden Verjährungsgesetz ist, dass es nur Militärangehörige vor der Bestrafung schützt – nicht aber die mit ihnen verbündeten Zivilisten. Deshalb war es der uruguayischen Justiz möglich, den ehemaligen Diktator Julio María Bordaberry und seinen Außenminister Juan Carlos Blanco, einen Pionier der „Operation Condor“, zu langen Haftstrafen zu verurteilen. Das Gesetz schützt offenbar auch nicht vor der Verfolgung durch ausländische Justizbehörden. So wurden etwa ein Dutzend uruguayische Polizisten und Militärangehörige verhaftet, weil ein argentinischer Richter ihre Auslieferung beantragt hatte.

Unter der Regierung Tabaré Vázquez wurde an der Universität Montevideo eine Historikerkommission gegründet, die Militärarchive auswerten und Licht in das Dunkel der jüngsten Geschichte Uruguays bringen sollte. Archäologen wurden beauftragt, nach den Überresten verschwundener Gefangener zu suchen.

Die Arbeiten begannen am 17. Juni 2005 auf dem Gelände des 13. Militärbataillons. Hier befand sich das Folterzentrum „300 Carlos“. Es war unter den Verfolgten der Diktatur auch unter der Bezeichnung „Große Hölle“ bekannt. Die bisherigen Nachforschungen haben ergeben, dass das Gelände Ende der Siebzigerjahre in großem Stil umgestaltet wurde, um die Spuren des Geschehens zu verwischen: Auf den Massengräbern der Ermordeten pflanzte man einen Wald, die alten Gebäude wurden abgerissen und durch neue ersetzt. Als Folge ist es heute schwierig, die Vorgänge an diesem Ort zu rekonstruieren.

Am 20. August 2005 übergab die Armeeführung Präsident Vázquez einen Bericht. Darin nannte sie einen Ort auf dem Gelände des 14. Armeebataillons, an dem María Claudia García, die erwähnte Schwiegertochter des argentinischen Dichters Gelman, angeblich begraben war. Der Bericht enthielt außerdem Angaben über die Lage weiterer Einzel- oder Massengräber. Diese Informationen weckten unter den Angehörigen große Hoffnungen, doch die Forschungen der Archäologen ergaben, dass sich weder die Leiche der ermordeten jungen Frau noch die Überreste anderer heimlich begrabener Opfer an den angegebenen Orten befanden oder je befunden hatten.

Leichenfunde und falsche Spuren

Die einzelnen Waffengattungen reagierten unterschiedlich auf die Bitte um Aufklärung und Mitarbeit. Die Marine hüllte sich in Schwiegen. Die Luftwaffe hat bis heute nur eingestanden, für den Tod von zwei Arbeitern verantwortlich zu sein. Diese wurden angeblich auf einem Landgut bei Pando begraben, das man einige Jahre zuvor der Tupamaros-Guerilla abgerungen hatte. Hier identifizierten Archäologen tatsächlich die Überreste von Ubagesner Chaves Sosa, der 1976 auf der Luftwaffenbasis Boiso Lanza zu Tode gefoltert wurde.

Auf dem Gelände des 13. Armeebataillons wurde am 4. Dezember 2005 die Leiche des Universitätsprofessors Fernando Miranda gefunden, dessen Sohn Javier Miranda ein prominenter Anwalt und Vertreter der Organisation von Angehörigen der Verschwundenen (OFDD) ist. Spätestens mit dieser Entdeckung wurden auch die Unzulänglichkeiten in den Berichten der Armeeführung deutlich. Denn in beiden Dokumenten heißt es ebenso übereinstimmend wie tatsachenwidrig, Miranda sei zunächst auf dem Gelände des 14. Armeebataillons begraben, später aber exhumiert und verbrannt worden. Man habe seine Asche in der Bucht von Montevideo ins Meer gestreut.

Einige Tage später, am 15. Dezember 2005, fanden die Archäologen auf einem Areal des 13. Armeebataillons das Fragment eines menschlichen Unterarmknochens. Das Gelände zeigte deutliche Spuren umfangreicher Erdbewegungen und Aufschüttungen. Gefunden wurde der Knochen in der Nähe eines Fußballplatzes, der gerüchteweise als Ort geheimer Bestattungen bekannt war.

Nach einem Jahr ohne weitere Entdeckungen beendete Präsident Vázquez am 19. Dezember 2006 diese Phase der Aufklärungsarbeit. Wenn deren Ergebnisse auch dürftig sind, so erlauben sie dennoch einige wichtige Schlussfolgerungen. Zunächst ist klar, dass der geheime Pakt zwischen den Verantwortlichen der Repressionen und ihren damaligen Untergebenen nach wie vor besteht. Die von der Kommission gesammelten Aussagen und die Auskünfte Militärangehöriger sind in ihrem Wahrheitsgehalt äußerst zweifelhaft.

Sodann wurde nach eineinhalb Jahren Arbeit deutlich, dass die Leichen der Opfer über ein größeres Gebiet verteilt wurden als bisher angenommen – und dass es viel mehr Tote gab, als die Behörden offiziell eingestehen. Drittens hat die Organisation der Angehörigen von Verschwundenen entgegen der Erklärung des ehemaligen Präsidenten Sanguinetti mit ihrer Vermutung Recht behalten, dass die meisten in Argentinien verschwundenen Uruguayer im Rahmen der Operation Condor vom uruguayischen Geheimdienst verschleppt worden sind.

Die Erforschung der Vergangenheit hat nicht nur bei vielen unmittelbar Betroffenen die Hoffnung auf eine Klärung des Schicksals ihrer Angehörigen geweckt – inzwischen findet sie die Unterstützung aller politischen Parteien und der Mehrheit der Öffentlichkeit. Viele Fragen sind noch offen und viele Verbrechen warten auf Aufklärung. Aber die „verschwundenen Gefangenen“ lassen sich heute nicht mehr als ein „Märchen der Linksradikalen“ darstellen – wie es die Rechte noch bis vor kurzem getan hat. José López Mazz

Aus dem Französischen von Herwig Engelmann José López Mazz ist Professor für Anthropologie an der Universidad de la República, Montevideo.

Le Monde diplomatique vom 09.02.2007, von José López Mazz