09.02.2007

Vor den Mauern der Parlamente

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Vor den Mauern der Parlamente

von Mathias Greffrath

Ziemlich genau vor neun Jahren drang eine kleine Gruppe schwarzgekleideter Männer und Frauen sanft ins Hinterzimmer eines Berliner Restaurants, in dem Oskar Lafontaine mit Journalisten und Intellektuellen saß, und fragte die Anwesenden, was ihnen zum M.A.I. einfiele. Denen fiel nichts ein, sie kannten es nicht. Die Schwarzgekleideten gingen nach Hause und warfen ihre Computer an. Sie und ihre kanadischen und französischen Genossen verbreiteten weltweit, dass das multinationale Investitionsabkommen, das die WTO ausheckte, zum weiteren Abbau staatlicher Souveränität führen werde. Einige Monate später war das M.A.I. gekippt. Ein Jahr darauf sprengten Demonstranten in Seattle die Millenniumsrunde des IWF, und zwei weitere Jahre später titelte der Spiegel nach dem Gipfel von Genua: „Wem gehört die Welt?“

Das Ziel sozialer Bewegungen ist es, schreibt Peter Wahl vom Attac-Koordinierungskreis, „das Meinungsklima der Gesellschaft zu verändern, ohne parlamentarische Vertretung anzustreben“. Seit Genua sind sechs Jahre vergangen. Heute ruft nicht nur Attac, sondern auch Angela Merkel nach einer Kontrolle der Finanzmärkte, Eon-Chefs und sechzehnjährige Eisbärenfreunde nach einer CO2-ärmeren Welt. Die Trickle-down-Phantasten in den VWL-Fakultäten gehen in Rente, die Börsianer bauen Lawinenzäune gegen den abrutschenden Dollar. Und in Davos fordern die Reichen eine Reichensteuer, weil ihnen die Mittelschicht von der Fahne geht.

Die Krisen der 1990er-Jahre und der Druck der sozialen Bewegungen hat Lateinamerika nach links gerückt, WTO, IWF und Weltbank sind global delegitimiert und in der Dauerkrise, Bush redet vom Klima, und alle Gutwilligen können im Stern hundert Regeln für die ökologische Wende lesen. Das Meinungsklima ist verändert. Das Ziel der sozialen Bewegung ist im Großen und Ganzen erreicht. Mehr ist nicht drin, vor den Mauern der Parlamente.

Und nun? Ungleichheit und CO2-Gehalt steigen weiter, Afrika ist abgehängt, Migranten und Vögel ziehen nach Norden, China wächst, die Temperaturen steigen schneller als jüngst noch berechnet. Klimawandel, Ressourcenerschöpfung und finanzkapitalistischer Johannistrieb wirken zusammen und beschleunigen die destruktiven Prozesse. So ungeheuer schnell, dass – wie der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch „Beschleunigung“ darlegt – auch die denkbar besten politischen Systeme nicht mehr hinterherkommen.

Diese schwarze Analyse scheint die reflexionsstarken Mittelschichten durchdrungen zu haben. Die BAT-IIa-Klasse investiert über ihre Verhältnisse hinaus in die private Ausbildungsergänzung ihrer Kinder, damit die – meinte zu mir in vollem Ernst eine Kollegin – „einmal in Indien eine Chance haben“. Wem es ein wenig besser geht, kauft im Blick auf die Nachkommen ein Stückchen Gletscherrand in Patagonien. Wer auf das Wohl des Landes vereidigt ist, wie Angela Merkel, denkt an die Errichtung einer transatlantischen Handelsfestung – Gore Vidal nannte es einmal „coalition of the white race“. Nicht nur chronisch „Linke“ ahnen: Wir erleben das „Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen“ (Elmar Altvater), und diese Ahnung imprägniert die Panikmache ebenso wie die Beschwichtigungen und die Lebensplanungen.

In dieser Situation lese ich auf den Webseiten der Aktionisten gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm: „Wenn niemand zuhört, müssen wir lauter schreien.“ Dazu Fotos, auf denen junge Frauen in fair getradeten Röcken Weltkugeln aufblasen. Vor meinem inneren Auge tanzen, in Rostock und um Rostock herum, Stelzenläufer mit Totenmasken und Straßentheaterkapitalisten mit Zylindern; die „Aktion gegen Armut“ verpackt Kirchtürme in weiße Baumwolle; Heißluftballons mit Bannern gegen die Ausbeutung fliegen über der Ostseeküste oder werden abgeschossen. Die Hartgesottenen vom „Block G 8“ blockieren die Wege zum 12 Kilometer langen Zaun und werden von 10 000 Polizisten weggesprüht. Aus Köln, wo zeitgleich der Kirchentag stattfindet (Motto: „Die Macht der Würde“) wird ein Gebet an die Ostsee geschickt. Und dann werden die „Kaiser der Welt“ von ihrem „klotzhohlen Gipfeltheater“ (G. Schröder) wieder nach Hause fahren und an die bilaterale Arbeit der Energieversorgung ihrer Nationen gehen; genauso unfähig zu „globalen Lösungen“ wie die vor dem Zaun.

Eine welthistorische Wende findet statt – und die kommende Bildungselite rollt Pappmaché durch Ostseestädtchen. Es ist ein Albtraum – am Ende eines riesigen Erfolgs. Wir sollten die „ökonomische Alphabetisierungskampagne“ für abgeschlossen erklären. Das Klassenziel ist erreicht, der Übergang zur Oberschule steht an, mit dem Lernziel: „Aufklärung, die sich über sich selbst aufklärt, organisiert sich als Arbeit“ (Luhmann).

Dabei ist zunächst ein strategischer Denkfehler der Altermondialisten zu korrigieren – die „Suche nach einem transnationalen Akteur“. Weil die Großprobleme (Klima, Energie usw.) global sind, so das Dogma, könnten sie nur global gelöst werden. Das ist analytisch richtig. Aber ist die Antwort der „transnationale Akteur“? Und wie sollte er aussehen? Ich vermag nicht zu sehen, wie aus der Protestbewegung eine „neue globale politische Kraft“ erwachsen kann. Denn die von „unten“ stehen vor demselben Problem wie die politischen Eliten. Die Schicksale der westeuropäischen Arbeitslosen und der bulgarischen Textilarbeiter, der chinesischen Billiglöhner und der europäischen Sozialbürger, der amerikanischen Rentner und der Heuschreckenopfer werden vom selben globalen System dominiert, aber sie selbst können kein gemeinsames Interesse formulieren.

Bis auf die Bolkestein-Verhinderungs-Initiative ist selbst in Europa keine koordinierte Aktion gelungen. Die „multitude“ ist kein politischer Akteur, und schon gar kein transnationaler. Die Suche nach ihm ist modell-logisch richtig, aber polit-ontologisch falsch, führt schlimmstenfalls in den Weg-mit-hoch-die-Resolutionarismus, also in die Vergeudung politischer Energien.

Das heißt nicht, dass wir mit dem Nachdenken über die „andere Welt“ aufhören sollen. Die wichtigste intellektuelle Aufgabe der sozialen Bewegung ist noch nicht erledigt: massenattraktive, kohärente Visionen für die Zeit nach dem Ende des fossilen Kapitalismus zu propagieren. Und es gibt diese Visionen: vom globalen Marshallplan über die Reformen des internationalen Systems, von Jeffrey Sachs oder Alfred Stiglitz, bis zum Anknüpfen an die Ideen von John Maynard Keynes über eine neue Welthandelsorganisation – Schwarzbrot für die politischen Eliten.

Etwas anderes ist die Notwendigkeit eines Polarsterns, der jenes „enorme Bewusstsein“ generiert, das von den Bevölkerungen der Industrienationen gefordert ist, die sich auf tiefgreifende Veränderungen ihrer Produktions- und Konsumgewohnheiten einstellen und diese Veränderungen als ihr Projekt ergreifen müssen. Als eine Zukunftsgeschichte für sich und ihre Kinder, die an ihren vitalen Bedürfnissen ansetzt, die sie als notwendig und sinnvoll begeistern kann, an der sie aktiv mitwirken können. Nach Lage der Dinge handelt diese Geschichte von der Organisation der Arbeit und dem Übergang zu einer „Solaren Weltgesellschaft“.

Das „Meinungsklima“, das diese beiden Aufgaben begünstigt, ist durchaus da. Was fehlt, sind die Parlamente und Regierungen, die neue transnationale Regelungen anstreben und nationale Gesetze, Verordnungen, Institutionen schaffen, die neues Verhalten ermöglichen und erzwingen. Und die Bürgerkoalitionen, die lokale Inseln des Neuen schaffen – an tausend Orten. Nur aus ihnen kann – solange die demokratischen Regeln noch gelten – der politische Wille zu großen Schritten wachsen. Der Übergang in die Neuzeit zeigt uns, wie eine andere Welt wirklich wird: Inmitten der Auflösung der feudalen Ordnung und der alten Weltbilder, bedroht von Seuchen und Hunger, gründeten Verstoßene des Alten die Vorposten des Neuen: freie Städte, revolutionäre Techniken, Vorstufen staatlicher Organisation, humanistische Hochschulen, neue Formen der Arbeit.

Anders als vor fünfhundert Jahren liegen die Konturen der kommenden Weltordnung vor uns; durch die Wirbel der Beschleunigung hindurch können wir sie sehen. Jetzt kommt alles darauf an, Brückenköpfe des Neuen zu bauen und zu befestigen – Politik ist Arbeit vor Ort, mit lokalen, regionalen, nationalen Kompetenzen, Ressourcen, Widerständen und Kumpanen – statt immer weiter um Hilfe zu rufen vor den Zäunen derer, denen unsere Analysen Machtlosigkeit bescheinigen.

Ich stelle mir vor: 10 000 Polizisten langweilen sich in Heiligendamm. Und zugleich wird in Rostock von Josef Stiglitz, George Soros und Hermann Scheer ein Fahrplan in die solidarische und solare Weltordnung zur Diskussion gestellt, möglichst unter Beteiligung von Charles Windsor, Nelson Mandela, Kofi Annan. Das setzte voraus, dass man die Basismythologie und die Berührungsangst gegenüber Eliten ablegt. Und weiter, dass in der altermondialistischen Bewegung – und sei es um den Preis der Spaltung – die scholastische Diskussion, ob man den Kapitalismus abschaffen oder bändigen will, durch die Arbeit an populären Visionen ersetzt wird.

Ich stelle mir vor, hunderttausend junge Erwachsene besetzten die drei Rentnerparteien instand oder die wackeligen Grünen, statt nach monatelangen Diskussionen und fünf Tagen „kreativer Aktionswerkstatt“ (Großpuppenbau, Rhythmusschulung, Stelzenlauf!) in Heiligendamm heroisch zu „kämpfen“. Das setzte voraus, dass man den eigenen Alphabetisierungserfolgen traut. Also an die Machbarkeit von Energieeinspeisungsgesetzen, neuen regionalen Verkehrssystemen, lokalen Arbeitsbeschaffungsprogrammen glaubt und nach den kurzen Räuschen des Protests die Lust an der nachhaltigen Institutionalisierung von Nestern des Neuen entdeckt. Dass man den symbolischen „Widerstand“ durch die Arbeit an wirklichen Widerständen ersetzt. Vor allem aber setzte es die Überzeugung voraus, dass der demokratische Verfassungsstaat, um den zehn Generationen gekämpft haben, noch nicht am Ende ist. Was wäre denn, wenn?

Ich stelle mir vor, fünfzigtausend Attacis brächten jeweils fünf Bürger zum Kündigen ihres Eon-Vertrags und setzten so eine Kettenreaktion in Gang; Ulrich Wickert setzte in „Wetten, dass …?“ darauf, dass innerhalb einer Woche zwanzig Millionen Wahlberechtigte in Briefen an die Kanzlerin eine einprozentige Vermögenssteuer fordern, mit deren Erlös die Zahl der Grundschullehrer verdoppelt wird.

Und ich stelle mir vor, dass ich und andere, die seit Jahren an globalen Strukturen herumdenken (nach dem Motto: „Sei schlau, bleib im Überbau“) die Lust entwickeln, praktisch zu beweisen – sagen wir in einem Stadtteil von Berlin, in Leer oder in Wuppertal –, dass man nicht nur Köpfe, sondern auch soziale Räume verändern kann. „Wir müssen, auch wenn wir keine konkreten politischen Forderungen haben, in Heiligendamm zeigen, dass wir noch da sind“ – das ist der traurigste Satz, den ich aus dem Inneren von Attac höre, eine Regression auf das bloße politische Da-Sein.

Scham, sagte Marx, ist die nach innen gekehrte Wut. Und so sollten alle, die aus guten Gründen nicht mehr demonstrieren, um bloß „noch da zu sein“, sich ein bisschen schämen, wenn sie zugleich das aufgegeben haben, was man politische Existenz nennt. Die aber hat man nur dort, wo der Widerstand mehr als symbolisch ist: in der Langeweile der Ortsvereine, Elternabende, Gemeinderatssitzungen. Dort, wo immer falsch entschieden wird. Es gibt nicht Gutes, außer man tut es, meinte Erich Kästner. Es ist mir peinlich: Er hatte Recht. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.02.2007, von Mathias Greffrath