11.03.2011

Jenseits von Entweder – Oder

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Jenseits von Entweder – Oder

von Stefan Ripplinger

Im Denken führen alle Wege zum selben Ziel. Egal, welchen du einschlägst, du kommst, wenn du nur lange genug gehst, immer am selben Ende raus. Auf diesem Lehrsatz könnte ich eine Kirche, eine Sekte oder wenigstens einen Workshop begründen. Leider stammt er nicht von mir. Ich habe ihn von Herbert Marcuse.

Marcuse schreibt in seiner „Kritik des Hedonismus“, der Gegensatz zwischen dem Genusssüchtigen und dem Gesellschaftskritiker sei ein bloß künstlicher. Denn wenn der Genusssüchtige, der Genussphilosoph, eben der Hedonist oder Eudämonist, lange genug – und bitte möglichst praktisch! – seiner Philosophie gefrönt habe, stoße er von selbst auf die Probleme, die der Kritiker immer schon kannte, auch wenn dieser kaum je in den Genuss eines Genusses gekommen ist. Der Hedonist wird nämlich bemerken, dass ihm die Gesellschaft ganz ungerechterweise Genussmittel vorenthält, die sie andern leichthin gewährt. Wenn der Genuss nur zäh genug verfolgt wird, führt er zur Erkenntnis von Ungerechtigkeit.

Der Kritiker weiß von Anfang an über diese Ungerechtigkeit Bescheid, opfert sich, um gegen sie zu protestieren, einem Leben in Armut und Kritik, aber wird sich doch irgendwann einmal fragen müssen, wofür und für wen das Ganze. Dass die Gesellschaft schlecht ist, ist deutlich zu sehen, aber was wäre eine gute? Kann ich überhaupt wissen, was falsch ist, wenn ich nicht wenigstens ahne, was gut sein müsste? Da hier alles ungerecht zugeht, worin bestünde Gerechtigkeit? Da wir uns immerzu mit Plörre betäuben müssen, was wäre ein guter Tropfen? Und nach so vielen Jahren, in denen er sich einen bitterbösen Artikel nach dem anderen vom Mund abgespart hat, entringt sich ihm der heisere Ruf: „Bordeaux für alle!“

Also haben diese beiden, der Hedonist und der Kritiker, zwar zwei verschiedene Wege eingeschlagen, aber kommen, einige Konsequenz vorausgesetzt, am selben Punkt an. Der Hedonist wollte das Problem nicht sehen, bekam es aber bald zu spüren. Der Kritiker wollte den Genuss nicht haben, aber brauchte irgendwann doch einen Zweck, ein Negativ seines Negativs, kurz etwas Gutes.

Dafür, dass das auch nur annähernd so bei Marcuse steht, kann ich mich nicht verbürgen. Ich las es vor dreißig Jahren, und das Büchlein, in dem der Aufsatz stand, ist mir längst abhanden gekommen. Immerhin sind dreißig Jahre eine lange Zeit, um solch einen Gedanken auf die Probe zu stellen. Ich habe das seither immer wieder getan und ihn immer wieder richtig gefunden. Wo man geht und steht, bittere Genussmenschen und Kritiker, die ihre reifen Jahre im Wein ertränken, wenn auch nicht immer in Pauillac.

So kam ich dazu, den Gedanken zu verallgemeinern. Wenn es diesen beiden Kontrahenten, dem Genießer und dem Vermieser, so ergangen ist, warum sollte es nicht allen andern auch so ergehen? Und siehe da, auf diese Weise lässt sich praktisch jede Uneinigkeit im Nu beseitigen. Man könnte sogar ein Spiel daraus machen. Nenne mir einen angeblich nicht zu überbrückenden weltanschaulichen Gegensatz, und ich zeige dir, dass er, ehrlich zu Ende gedacht, gar keiner ist. Dabei ist der naheliegende Gegensatz – Kapitalismus vs. Sozialismus – fast nur eine Variante des bei Marcuse diskutierten Falls.

Der überzeugte Kapitalist glaubt an die Selbstregelung, der überzeugte Sozialist an die Planung. Wenn er nur hart mit sich ins Gericht geht, wird der Kapitalist zum Schluss kommen müssen, dass kapitalistisch regulierte Gesellschaften sich fortwährend spalten, die Ungerechtigkeit, das Unwohlsein und das Unglück fortwährend vergrößern. Zwar werden die Produktivkräfte stimuliert, aber die Leute verkommen neben den neuen Maschinen. Mancher hat einen Job und wird trotzdem nicht satt. Davon, dass eine heillos florierende Ökonomie viele kleine in Afrika zugrunde richtet, ganz zu schweigen.

Das Problem, dass sich seine Gesellschaft spaltet und sie Hunger, Unfrieden und Elend befördert, hat der Sozialist erst mal nicht, aber er kriegt seinen Kram, bei aller Planung, auch nicht geregelt. Erst haben zwar alle zu essen, weil ja genug da ist, aber es entwickelt sich nichts, weil die Stimulanz fehlt. Und die Stimulanz ist der Egoismus oder, sagen wir es vorsichtiger, das Interesse. In sozialistischen Gesellschaften gibt es manchmal weder Hedonismus noch Kritik. Da alle schon die Lösung haben, vergessen sie das Problem. Und das ist problematisch.

Also hat doch der eine, der Kapitalist, den Impuls, aber nicht die Lösung, der andere, der Sozialist, hat die Lösung, aber nicht den Impuls. Und ohne Impuls, Interesse, Gier kommt man der Lösung keinen Schritt näher, ja noch nicht mal aus dem Bett. Das könnten Kapitalist und Sozialist einsehen, sich die Hände reichen und, wie schon der Hedonist und der Kritiker, ihre gemeinsamen Sorgen gemeinsam in Bordeaux ersäufen. Tun sie aber nicht. Aus einem ganz einfachen Grund: Niemand geht seinen Weg bis ans Ende, alle bleiben irgendwann einmal stehen.

Beim Kapitalisten ist es leicht zu begreifen. Zwar gibt es auch vom Kapitalismus Überzeugte, die kein Geld haben, aber in der Regel sind sie doch Vorstandsvorsitzende und Bahncard-100-Fahrer, wenn nicht Learjet-Flieger. Sie werden den Teufel tun und zugeben, dass ihr System nicht funktioniert. Beim Sozialisten mutatis mutandis dasselbe.

Die großen Unterschiede werden nicht von den Weltanschauungen und den in ihnen Wandernden, sondern von den Stehenbleibern geschaffen. Irgendwann sagen die Hedonisten, Kritiker, Kapitalisten und Sozialisten, selbstverständlich auch die Hedonistinnen, Kritikerinnen, Kapitalistinnen und Sozialistinnen: „Bis hierhin denke ich und nicht weiter! Ich bleibe mir und meiner Partei treu, lasse sie mir von niemandem, schon gar nicht von mir selbst, verderben und bleibe ehern bei meinem Glauben bis ans Ende meiner Tage.“ Das erhöht die Geselligkeit, aber mindert das Denkvergnügen. Aber ich gebe zu, dass Denken auch etwas Zerstörerisches hat.

Immerhin zerstört Denken nicht nur Gewissheiten, sondern auch Zweifel. Kommen wir also zur Theologie. Da scheint es tatsächlich nur zwei Möglichkeiten zu geben: Entweder einer glaubt an Gott oder er glaubt nicht an Gott. Das mag am Anfang auch so sein. Aber weh, oh weh, dann setzt das Denken ein.

Der Gläubige hat zwar einen Gott, aber es fehlen ihm dessen Erscheinungen. Also erklärt er zunächst alles Mögliche, was ihm gefällt, zu einer Erscheinung Gottes; die Blüte der Rose, den Duft des Honigs und das Wirken der Caritas. Das muss ihn aber fast notwendig zu der Frage führen, ob Gott sich auch im Dorn, im Dioxin oder im Computerviren-Designer inkarniert. Und dass Er nicht hinter dem Tsunami steckt, ist fast nicht zu glauben. Das nimmt der Gläubige zähneknirschend in Kauf. Einmal erscheint Gott, um seine Schönheit zu zeigen, und ein anderes Mal, um uns heimzuleuchten. Aber sobald auf die Erscheinungen Gottes erst einmal geachtet wird, gibt es kein Halten mehr. Wenn Gott in der Kuh und in der Milch ist, warum nicht auch im Joghurt, im Verdickungsmittel, in der Gelatine und in den künstlichen Aromen? Kurz, wenn alles Gott ist, ist nichts Gott. Und genau an diesen kargen Gedanken beginnt sich der denkende Gläubige irgendwann zu gewöhnen.

Daran gewöhnt sich umgekehrt auch der Atheist. Er hat zwar Erscheinungen en masse, aber weiß sie nicht zusammenzubinden. Und eine Welt voller Erscheinungen ist schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe. Sie ist auch unbefriedigend. Da huschen Rosen, probiotische Joghurts, Gipfeltreffen oder Tsunamis an ihm vorbei, und er fragt sich, was das alles miteinander zu tun haben soll. Gibt es ein Prinzip, das alle Erscheinungen in sich begreift? Es müsste, denkt der Atheist weiter, etwas sehr Großes, enorm Großes, irgendwie Vernünftiges, jedenfalls aber Diesseitiges sein. Also fängt er mit „Welt“ an, findet diesen Überbegriff aber ein bisschen läppisch, probiert dann nacheinander „All“, „Natur“, „Struktur“, „System“, „Sein, „Totalität“ aus, und muss am Ende einsehen, dass das auch nur Synonyme für Gott sind, bloß schlechtere. Wenn nirgendwo Gott ist, ist Gott überall.

Habe ich schon erwähnt, dass das Denkerleben von Resignation gekrönt wird?

Stefan Ripplinger arbeitet als Journalist in Berlin. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.03.2011, von Stefan Ripplinger