07.08.2014

Kalkutta – Farben einer Stadt

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Kalkutta – Farben einer Stadt

von Devapriya Roy

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I. Rosa Himmel

Es gibt eine kurze Zeit an den Sommerabenden in Kalkutta, wenige Minuten nach Sonnenuntergang und eine halbe Stunde bevor der Abend seinen blauschwarzen und dunkelvioletten Schleier niedersenkt, da kann es passieren, dass der Himmel sich rosa färbt.

An normalen Tagen bemerkt man die gewöhnlichen Farben eines Sonnenuntergangs: Orange und Ziegelrot. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne dringen aus den lärmigen Straßen durch die vergitterten Fenster in die unaufgeräumten Zimmer und zeigen der Frau im Haus an, dass die Hitze des hellen Tages allmählich nachlässt. Zeit für Tee.

Aber manchmal hat man Glück – wir befinden uns an einem stillen Nachmittag Mitte Mai, ein Anflug von Regen liegt in der schwülen Luft, da beginnt es mit einem Riss in einem fernen Himmelswinkel. Einer rosafarbenen Träne. Und in wenigen Minuten läuft das Rosa wie ein Seidenfaden mit atemberaubender Geschwindigkeit, es springt, galoppiert förmlich und ergießt sich über die Himmelsleinwand, bis uns die gesamte Reue und Sehnsucht der Stadt in aller Schamlosigkeit vor Augen steht.

II. Spiel des Lichts

Ich bin sieben Jahre alt. Es ist das Jahr 1991, Sommer. Anderthalb Monate später wird die indische Wirtschaft liberalisiert. Ein halbes Jahr nach diesem folgenschweren Ereignis wird die Sowjetunion untergehen. Es sind Ferien. Wir wohnen in einer Mietwohnung im vierten Stock, der Mangobaum vor dem Fenster steht in voller Blüte, und in den Oberlichtern nisten die Spatzen, aber meine Tage sind lang und einsam. Großstadtgeräusche wirbeln durch die Wohnung, das endlose Grollen des Verkehrs und jenes leise Hintergrundbrummen, das, wie ich erst später wissen werde, zu jeder Metropole gehört, wo Millionen Menschen dicht gestapelt leben. Es ist das sprichwörtliche Großstadtraunen.

Ich bettle meine Mutter den ganzen Nachmittag über an, mit mir nach draußen zu gehen. Sie gibt nach.

Nach Sonnenuntergang beginnt ein rosa schimmerndes Licht den Himmel perlmuttartig zu durchfluten. In der Fahrradrikscha auf dem Weg zum nahen Markt beobachte ich, wie rasch sich die Umgebung verändert, wie auf den Trickbildern beim Augenarzt. Erst siehst du ein stirnrunzelndes Mädchen mit Brille, dann, nach einer leichten Veränderung des Blickwinkels, siehst du sie, befreit durch Kontaktlinsen, strahlend lächelnd. Genauso verändert sich die Straße, während sich die Dämmerung in goldenem Rosa entfaltet, alles wechselt unausweichlich die Gestalt: die schwarz-gelben Taxis; die aufgetürmten Ziegel und die Sandhaufen an den Straßenecken; die Zeitungsfetzen, die am Boden entlangtreiben; die Frauen, die die trockene Wäsche von den blanken Terrassen holen.

Auch meine Mutter verändert sich unausweichlich. Ihre Gesichtszüge sind sanft und verschwommen. Sie sagt: „In meiner Jugend nannte man dieses Licht kone dekha aalo.“

Licht für eine Brautschau?

Sie erklärt. „Zu dieser Stunde, wenn sich der Himmel so zeigt wie jetzt, sieht jede Braut viel schöner aus, als sie wirklich ist. Es ist ein Spiel des Lichts. Kluge Schwiegermütter müssen daran denken, ihre künftigen Schwiegertöchter zu einer anderen Zeit zu begutachten. Man darf nicht alles glauben, was man sieht.“

Meine Mutter blickt zur Seite, während ich diese Offenbarung verdaue. Vielleicht bereut sie es, mit mir darüber gesprochen zu haben. Sie ist eine moderne indische Frau. Ingenieurin! Diese Art Geschwätz, dieses Gerede über Bräute und Schwiegermütter und Heiraten ist genau das, womit sich mein Kopf ihrer Meinung nach nicht beschäftigen sollte.

Die Fahrradrikscha ruckelt weiter. Wir lassen den Ausblick über die Stadt hinter uns, fahren durch eine breite Straße mit Geschäften und Apartmenthäusern, neben uns große, lärmende Busse, vollgepackt mit Pendlern. Dann schlängeln wir uns durch eine gewundene Straße mit bescheidenen Häusern. Ihre Farbe ist über die Jahre in der grellen Sonne verblichen, auf den Wänden klebt eine Kruste von Plakaten, die Filme und Revolutionen ankündigen. Obwohl wir ihn noch nicht sehen können, ist der Basar nicht mehr weit, dort hinter den Häusern.

Wenn ich nach oben schaue, die Schultern zurückgezogen, den Hals straff gespannt, sehe ich, wie sich über unserer Rikscha schwindelerregend und strahlend in endlosem Rosa die gewaltige Himmelsschale wölbt.

In mir bewegt sich etwas.

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, rund und fest wie eine Perle. Als Erwachsene werde ich seine Seltenheit zu schätzen wissen. Ich werde solche Augenblicke in einem verschlossenen Schatzkästchen horten. Doch mit sieben wird das Glück noch großzügig ausgeteilt, nicht perlengleich im samtenen Etui, sondern handvollweise wie Murmeln unterm Bett. Ich fühle mich so glücklich, dass ich meiner Mutter etwas sagen möchte. Ich suche nach Worten. Aber der Augenblick vergeht, und meine Zunge bleibt trocken. Wir haben das Ende der Straße erreicht, der schmutzige Basar verschlingt uns. Und dann erinnere ich mich, voller Verwirrung: Der Schönheit dieser Stadt, die mir in die Knochen gefahren ist und die mein siebenjähriges Herz so unvernünftig stark pulsieren lässt, ist nicht zu trauen.

Sie ist nur ein Spiel des Lichts.

III. Die Bewohner Kalkuttas

Und so fing es an. Obwohl ich in Kalkutta geboren und aufgewachsen bin, obwohl die Straßen Kalkuttas durch meine Träume geistern und obwohl der Regen dieser Stadt und ihre besondere Lust am Scheitern mich im Innersten antreiben, trotz alledem war es jener präzise Moment im Alter von sieben Jahren und die zauberische Schönheit der Abenddämmerung, welche der ganzen Stadt jenes betörende Brautkleid umwarf, durch die ich erst zu einer echten Bewohnerin Kalkuttas wurde.

Denn was die Menschen in Kalkutta vor allen anderen in der Welt auszeichnet, ist der maßlose Zweifel, den sie gegenüber ihrer eigenen Stadt hegen. So wie sich Bewohner Istanbuls der Melancholie anheimgeben, die Pariser dem Stil, die Einwohner Rios der guten Laune und die Bombay-Wallahs der Pünktlichkeit, so haben die Bewohner Kalkuttas beständig mit dem Zweifel und seinem Zwillingsbruder, dem Pessimismus, zu kämpfen.

Niemand in der Welt ist so tief davon überzeugt wie die Bewohner dieser Stadt, dass deren Schönheit, so unabweisbar sie ihnen vor Augen stehen mag, nichts als ein Lichtspiel ist; dass demnächst die Fenster aus dem frisch eingeweihten, schicken, internationalen Flughafen herunterstürzen werden (ich hörte, wie zwei Männer mittleren Alters sich in einem Einkaufszentrum unter strahlenden Lichtern darüber unterhielten). Alle sind sich sicher, dass die Dinge schlimm sind und nur schlimmer werden können. Nie bekommen sie ihr Wechselgeld heraus – offenbar kann ihnen nie jemand etwas zurückgeben und sie werden bis ans Ende ihrer Tage auf einer 500-Rupien-Note sitzen bleiben.

IV. College Street

Der Sommer schreitet voran. Ich bin in Kalkutta, gebe vor, an einem überfälligen Buch zu arbeiten. Der Monsun hat die Küste Keralas erreicht und fegt gen Norden. Man erwartet, dass er sich nächste Woche über Kalkutta ergießt. Es ist extrem heiß, und wenn man vor die Tür tritt, ist man in Minuten schweißdurchtränkt. Mein Buch hat keine Fortschritte gemacht. Ich ignoriere die Anrufe meines Verlegers. Stattdessen gebe ich mich der süßen Saumseligkeit hin, die nur diese Stadt hervorzubringen imstande ist.

Heute morgen habe ich beschlossen, einen Ort aufzusuchen, der mich immer unfehlbar mit innerer Ruhe erfüllt: College Street. Sie liegt im Norden der Stadt, in einem einzigartigen Viertel voller unabhängiger Buchhändler mit Läden oder behelfsmäßigen Buden und alten Universitätsgebäuden, darunter das Presidency College, an dem mein Mann und ich studiert und uns ineinander verliebt haben; es sind die Lieblingsplätze unserer Jugend. Inmitten der rasant sich wandelnden Metropole mit ihren glitzernden Einkaufszentren und den von smarten Informatikern bewohnten Apartmenthochhäusern mit Pool ist die Gegend um College Street sich über die Jahre treu geblieben. Straßenbahnen donnern vorbei. Studenten halten Händchen oder teilen sich ein Eis.

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, als ein Großteil dessen, was heute den Süden Kalkuttas ausmacht, noch von Wald bedeckt war, war der Norden der „einheimische“, von Indern bewohnte Teil der Stadt. Die schwarze Stadt. Eine in jeder Hinsicht planlose, armselige, dicht besiedelte Gegend. Meilenweit vom vornehmen „weißen Teil“ der Stadt entfernt, dem eigentlichen Zentrum mit seinen eleganten Boulevards, Grand Hotels, Gärten und englischen Clubs (an denen oft „Hunde und Inder kein Zutritt“ zu lesen stand). Ein London en miniature am Hooghly. Jeder Generalgouverneur versuchte seine Vorgänger zu übertreffen, indem er hunderttausende von Rupien für die Verschönerung dieses Teils der Stadt ausgab. Die Spuren ihrer ästhetischen Empfindsamkeit existieren bis heute.

Die einheimische Stadt dagegen war das reine Grauen. Nachdem die britische Handelspolitik das traditionelle Handwerk systematisch zerstört und die verarmte Bevölkerung im Hinterland einer Hungersnot nach der anderen ausgeliefert hatte, strömten tagtäglich tausende von verelendeten Landlosen nach Kalkutta, um dort Arbeit zu suchen. Sie lebten in der schwarzen Stadt unter jämmerlichen Bedingungen und starben an den Krankheiten, die in solchen Verhältnissen ausgebrütet werden.

Die klügeren Bengalen aus den oberen Kasten lernten Englisch und bekleideten Stellen in Kontor und Verwaltung, so dass sich in Kalkutta schnell eine neue Mittelklasse herausbildete. Einige dieser Leute waren sehr erfolgreich, so dass auch im Norden Kalkuttas stattliche Wohnhäuser in anglobengalischem Stil entstanden.

In einem Buch mit dem langen Titel „Merkwürdige Begebenheiten unter der Herrschaft der Ostindien-Kompanie von 1600 bis 1858“ fand ich folgende Passage. Ein Schriftsteller sagte 1756 über Kalkutta: „Das Ufer des Hooghly war beidseits des Forts von großen und ansehnlichen Häusern gesäumt, die von den bedeutendsten der englischen Handelsherren errichtet und bewohnt waren; dahinter fanden sich mehrere ebenso große und imposante Wohnstätten, die wohlhabenden Baboos oder einheimischen Kaufleuten gehörten; aber die Stadt der Eingeborenen bestand aus grasbedeckten Hütten – manche aus Lehm errichtet, andere aus Bambus und Matten, allesamt armselig und ungeschlacht; die Straßen waren schmutzig, eng und gewunden, indes ein pestilenzialischer Sumpf unweit davon die Luft mit seinen kranken Ausdünstungen füllte.“

Nach der Unabhängigkeit 1947 wurde Bengalen (wie der Pandschab) bei der Teilung zum Schauplatz entsetzlicher Grausamkeiten und fast sechs Millionen Flüchtlinge strömten über die neue Grenze in den Osten Indiens. Es war, als heule der Geist der schwarzen Stadt durch die Straßen der einst majestätischen Stadtviertel und erobere all das Pompöse und Luxuriöse zurück, um dort knorrige Wurzeln zu schlagen.

Der pakistanische Bürgerkrieg von 1971, der schließlich zur Gründung des neuen Staats Bangladesch führte, brachte rund fünf Millionen weitere Flüchtlinge. Nach der Flutkatastrophe in Bangladesch von 1977 kam eine weitere Einwanderungswelle. Kalkutta taumelte unter den Schockwellen immer neuer Immigranten (einschließlich der Zuwanderer aus angrenzenden indischen Bundesstaaten), und die Bevölkerung wuchs in einem Ausmaß, das zu bewältigen die Stadt schlechterdings außerstande war. Dennoch, eines muss man dieser armseligen, ungeschlachten, schmutzigen, engen, gewundenen, pestilenzialischen, kranken Stadt lassen: Sie hat niemals jemanden abgewiesen.

In den fünfziger, sechziger, siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts reisten zahllose Schriftsteller und Denker und Künstler und Dichter des Westens nach Kalkutta. Das Schauspiel seiner Armut, seiner Slums und sein entsetzliches Elend schlug sie in seinen Bann. Der Anblick hat viele von ihnen verändert. Sie verfassten scharfe Kritik und tiefsinnige Epistel, manche halfen den Kranken und Sterbenden, bevor sie in ihre Welt zurückkehrten.

Ich lese ihre ernsthaften und gut gemeinten Berichte und wundere mich ein bisschen, warum keiner von ihnen je die einfache Frage stellte: Warum gab es so viel Armut in der Stadt, die sie sahen? Denn es war gewiss nicht der Ruf Kalkuttas als arme Stadt gewesen, der sich über die Weltmeere verbreitet und die Schiffe der Ostindien-Kompanie in die braunen Gewässer des Hooghly gelockt hatte, um dort einen Handelsplatz zu eröffnen.

Doch was hilft es, so düster zu werden! Ich sprach von den stattlichen Villen im Norden. Und dass wie ihr bürgerliches Gemäuer von unternehmungslustigen Habenichtsen für ihre kleinen Imbissbuden und Kioske benutzt wird, wo sie chinesischen Krimskrams und CD-Raubkopien verhökern. Keine Straße, kein Viertel, kein Ort in Kalkutta ist ausschließlich den Reichen vorbehalten und für die Armen unzugänglich. Die alte schwarze Stadt hat längst zähe Wurzeln in die Mauern der Bürgerhäuser geschlagen. Beide Parteien, Bourgeoisie und Proletariat, sind Teil Kalkuttas; deshalb haben sie Zweifel aneinander. Und doch leben sie in einer ebenso seltenen wie kraftvollen Intimität; enge, gewundenen Gassen und elegante, breite Boulevards verschränken sich wie eine Doppelhelix, fesseln einander in ihrer zweifelnden, unvollständigen Liebe zur Stadt, ihrem zweifelnden, unvollständigen Verlangen nach dem je anderen. Beide Parteien drängen ihre Kinder, wegzugehen. Beide drängen ihre Kinder, ohne Umweg nach Hause zu kommen.

Ich spaziere durch die Gegend um College Street mit ihren hunderten kleinen Buchhändlern und Hinterzimmern, wo unabhängige bengalische Verleger kleine Zeitschriften machen. Neben Lehrbüchern für angehende Ingenieure und zeitgenössischer bengalischer erotischer Dichtung kann man hier alte Bücher aus der Sowjetzeit über Lenin und Trotzki finden und Übersetzungen von Derrida und Lacan. Ich kann hier den ganzen Tag vertrödeln, über Geschichte nachdenken, die Briten beschuldigen, danach ein paar Bücher von britischen Autoren kaufen und im Coffee House, wo einst Allen Ginsberg täglich mit bengalischen Dichtern diskutierte, einen Kaffee trinken.

Doch plötzlich hat sich die heiße Sonne verdunkelt.

Ist der Monsun vor der Zeit eingetroffen?

In Minutenschnelle schwärmen die Buchhändler auf die Straßen und verstauen ihre kostbare Ware in Schachteln. Sie spüren den Sturm; die Luft ist bereits voll elektrischer Spannung. Der nordwestliche Zipfel des Himmels sieht düster aus. Schwarze Wolken rollen heran. Der Mittag beginnt dem Abend zu ähneln.

Rasch schwillt der Wind, triefend vor Nässe, aufgeladen mit dem ungelebten Schicksal der Stadt und ihrer Bewohner – dem, was hätte sein können. Sonderbar befriedigend ist es, wie die Jahre sich langsam und säuberlich von mir zu lösen beginnen. Ich möchte irgendwo stehen, ganz ruhig, wenn der Regen beginnt, die Regentropfen mit aller Wucht in den Staub trommeln. Ich bei mir, allein unter Millionen.

Und plötzlich verstehe ich mit einem Mal, warum die Stadt so voller Selbstzweifel ist. Es ist alles ein raffinierter Trick, um diesen Regen nicht zu verfluchen.

Aus dem Englischen von Robin Cackett Devapriya Roy ist Schriftstellerin. Zuletzt erschien von ihr „The Weight Loss Club“, Neu-Delhi (Rupa) 2013.

Le Monde diplomatique vom 07.08.2014, von Devapriya Roy