07.08.2014

Chaos und Maschinensprache

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Chaos und Maschinensprache

von Alexander Ehmann

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Es ist Sommer. Genauer: der Sommer des Jahres 1984. Aus Orwells Dystopie ist noch nichts geworden. Stattdessen bringt Apple gerade den ersten Macintosh auf den Markt, und kurz nachdem in der damaligen DDR sowjetische Atomraketen stationiert wurden, kündigt Ronald Reagan im Scherz die Bombardierung der Sowjetunion an, während in Los Angeles die Olympischen Sommerspiele zu Ende gehen.

In der Schwenckestraße 85 in Hamburg fangen die Sommerspiele gerade erst an. Steffen Wernéry und Wau Holland betreiben einen ganz eigenen Sport. Sie sind Hacker, ihr Spielfeld ist der Computer und ihr Gegner das Bildschirmtextsystem der Deutschen Bundespost, kurz: Btx. Sie beschäftigen sich mit dem System schon eine ganze Weile, stoßen immer wieder auf Sicherheitslücken. Regelmäßig weisen sie öffentlich auf Probleme hin, von deren Existenz die Bundespost allerdings nichts wissen möchte. Auch als sie sich an den Hamburger Datenschutzbeauftragten Claus Henning Schapper wenden und eine Schwachstelle von Btx demonstrieren, indem sie eine längst empfangene und gelesene Nachricht in dessen Account nachträglich verändern – aus „Datenschützer“ wird „Dateischeißer“ –, werden sie nicht gehört. Die Post hat kein Interesse am Nachweis von Lücken in ihrem System, das sie nach wie vor als absolut sicher bewirbt.

Etwa drei Jahre zuvor, im September des Jahres 1981, erschien auf Seite zwei der Berliner taz ein kurzer Text mit dem Titel „TUWAT, TXT Version“. Es handelte sich dabei um die Einladung zu einem öffentlichen Treffen von „Komputerfrieks“ (sic!), das noch im selben Monat, am 12. September 1981, in den Redaktionsräumen der taz stattfinden sollte. Die Autoren des Textes und Veranstalter des Treffens, zu dem sich etwa zwanzig Personen einfanden, waren Herwart Holland-Moritz alias Wau Holland, Klaus Schleisiek alias Tom Twiddlebit, Wolf Gevert, Wulf Müller und Jochen Büttner. Dieses Treffen, das sich – so wird kolportiert – am Tisch der Kommune 1 ereignete, gilt heute als inoffizielle Gründung des Chaos Computer Clubs, einer der größten Hackerorganisationen weltweit und der mit Abstand größten Europas.

Doch die Geschichte der Hackerkultur beginnt viel früher, zu einer Zeit, da Computer mit der Leistungsfähigkeit eines durchschnittlichen Mobiltelefons von heute ganze Räume, mitunter auch Stockwerke in Forschungseinrichtungen und Großkonzernen füllten. Die Computer jener Zeit konnten nicht einfach so bedient werden, wie wir das von den heutigen Geräten gewohnt sind. Diese frühen Rechenmonster besaßen weder Tastatur noch Bildschirm. Programme wurden mit Hilfe von Lochkarten eingegeben. Die Bedienung des entsprechenden Eingabegeräts war in der Regel speziell ausgebildeten Technikern vorbehalten, und bis man das Ergebnis einer Berechnung erhielt, konnten Tage vergehen. Das heißt: falls man überhaupt ein Ergebnis erhielt. War nur eine Lochkarte im Stapel verrutscht, ein Loch an der falschen Stelle gestanzt, konnte der Computer mit dem Programm nichts anfangen und verweigerte den Dienst. Es folgte eine aufwendige Fehlersuche, und wenn man glaubte, den Fehler gefunden zu haben, begann die Prozedur von vorn. Eine direkte Interaktion zwischen Programmierer und Maschine fand nicht statt.

Der Umgang mit den Rechnern der nachfolgenden Generation gestaltete sich schon interaktiver. Programme konnten mit speziellen Geräten direkt auf Lochstreifen gestanzt und an der Konsole des Computers eingelesen werden. Nun war es möglich, dem Computer bei der Arbeit zuzusehen und direkt einzugreifen, wenn ein Problem auftrat. Doch noch immer war die Programmierung eine komplizierte und zeitaufwendige Angelegenheit. Alle Instruktionen mussten in Maschinensprache, also in Form endloser Reihen von Nullen und Einsen eingegeben werden. Programmcodes sind in dieser Form für Menschen in der Regel nicht lesbar, woraus sich ein Problem bei der Übersetzung einer Idee in ausführbaren Maschinencode – und zurück – ergab.

Dieses Grenzproblem wurde von Jack Dennis, einem Hacker am Massachusetts Institute of Technology (MIT), für den dort stationierten TX-0-Computer behoben, indem er den ersten umfangreichen Assembler für diesen Rechner schrieb – ein Programm, das Befehle, die in einer für Menschen lesbaren Sprache geschrieben sind, in die entsprechenden Zeichenketten aus Nullen und Einsen übersetzt. Damit ermöglichte Jack einem größeren Kreis von Benutzern den Umgang mit dem Computer, indem er ihn um ein Vielfaches einfacher gestaltete. Er schuf einen Grenzgänger, einen Botschafter zwischen Menschensprache und Maschinensprache. Bald darauf wurden auf diesem Computer Musik komponiert und Spiele programmiert – Anwendungen, für die das Gerät niemals vorgesehen war. Das war Ende der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts.

Zurück in die Zukunft – und nach Europa. Hamburg, 1984. Auch Steffen und Wau schlagen sich mit einem Grenzproblem herum. Weder Öffentlichkeit noch Politik, ja nicht einmal die Betreiber scheinen sich für die Probleme des Btx-Systems besonders zu interessieren. Wüssten sie, was fast drei Jahrzehnte später unter dem Schlagwort „NSA-Skandal“ verhandelt werden sollte, sie würden mit Sicherheit anders auf die Warnungen der Hacker reagieren. Doch die Sensibilität für die Tücken des elektronischen Datenverkehrs ist zu jener Zeit in der breiten Bevölkerung nicht vorhanden. Sie entwickelt sich gerade erst innerhalb jener Subkultur, die schon immer in der Zukunft lebt.

Wie also soll man die Grenze zwischen der alten und der neuen Welt überwinden, wie die Schwierigkeiten des digitalen Zeitalters einer Gesellschaft vermitteln, die sich zu weiten Teilen noch im prädigitalen befindet? Ein Vermittler muss her, ein Grenzgänger und Botschafter, der die Wirkmächtigkeit des Digitalen in der Sprache des Analogen demonstriert. Freilich sollte dieser Botschafter einer sein, der in der gemeinsamen Sprache aller spricht. Die gemeinsame Sprache aller aber – das ist nicht schwer zu erraten – ist Geld.

In der Sprache des Geldes gibt es wohl kaum eine deutlichere Aussage als die widerrechtliche Aneignung einer größeren Menge desselben. Und so entscheiden sich Steffen und Wau dafür, die Hamburger Sparkasse digital zu erleichtern. Schon seit einiger Zeit betreiben sie eine Seite im Btx-System, durch deren Aufruf man dem CCC eine Spende in Höhe von 9,97 D-Mark zukommen lassen kann. Da die Hamburger Sparkasse ebenfalls an Btx teilnimmt und ihre Zugangsdaten den Hackern schon vorher durch eine Sicherheitslücke im System bekannt wurden, entschließen sie sich kurzerhand, jene Spendenseite automatisiert im Abstand weniger Sekunden aufzurufen – selbstredend im Namen der Sparkasse. So werden über Nacht mehr als 134 000 Mark erbeutet. Entsprechend den Absichten der Hacker, lediglich die Sprachbarriere zwischen ihrer Subkultur und dem Rest der Gesellschaft zu überwinden, wird das Geld freilich zurückgegeben, jedoch nicht, ohne für einen entsprechenden Medienrummel zu sorgen. Die Botschaft kommt an. Der CCC und mit ihm seine Fragestellungen werden bundesweit zum Thema, einige Sicherheitslücken im Btx-System behoben. Die Grenzüberschreitung ist geglückt.

Im Jahr 1986 wurden dann Gesetze erlassen, die das Ausspähen von Daten, die rechtswidrige Änderung von Daten und die Sabotage von Computern unter Strafe stellten. Dass all dies im Strafgesetzbuch zuvor keinerlei Beachtung gefunden hatte, ist ein weiteres Symptom für die Kluft zwischen technischer und gesellschaftlich-politischer Entwicklung zu jener Zeit. Im Zuge dieser Gesetzesänderung wurde der Chaos Computer Club offiziell als eingetragener Verein gegründet, um der Gefahr zu entgehen, als kriminelle Vereinigung eingestuft zu werden. Heute zählt der CCC e. V. über 3 000 Mitglieder und ist, wenn auch nicht ganz in der Mitte, so doch wenigstens in der näheren Peripherie der Gesellschaft angekommen.

Der Club und seine Repräsentanten tauchen inzwischen regelmäßig in den Medien auf. Er wird von Parteien, Ausschüssen und staatlichen Organen wie dem Bundesverfassungsgericht zu netzpolitischen Themen gehört. Doch mit seiner dezentralen und heterogenen Struktur begreift er sich nach wie vor als Grenzgänger zwischen den Welten. So ernsthaft, so gesellschaftspolitisch redlich er sich auf der einen Seite zeigt, so chaotisch und verspielt gibt er sich auf der anderen. Projekte wie Blinkenlights legen davon Zeugnis ab: Da wurden – ganz im Sinne der Hackerkultur – zwischen 2001 und 2008 das Haus des Lehrers am Berliner Alexanderplatz, die Bibliothèque nationale de France in Paris und die City Hall in Toronto nacheinander zu den größten Bildschirmen der Welt umfunktioniert. Wer wollte, konnte dann mithilfe eines Mobiltelefons Tetris auf einem Hochhaus spielen.

Auch hier werden Grenzen überschritten, neue Wege gegangen, die zuvor im Dickicht der ungedachten Möglichkeiten verborgen lagen. Das ist ein Ausdruck des chaotischen Moments, das nicht nur dem CCC, sondern der ganzen Hackerkultur eigen ist. Dieses Moment ist wertvoll, es ist die Bedingung des Schöpferischen und deshalb um jeden Preis zu bewahren. Das wusste schon Nietzsches Zarathustra: „Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.“

Alexander Ehmann ist Student der Philosophie in Tübingen und seit 1999 Mitglied im CCC e. V. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.08.2014, von Alexander Ehmann