Komplizin meiner Überwachung
von Katharina Döbler
Gerade habe ich es wieder einmal getan: meine Daten im Internet preisgegeben. Für eine Handvoll Euro, na ja, einige Handvoll. Ich habe den Stromanbieter gewechselt, Ökostrom natürlich, ich bin ja eine von den Guten.
Und jetzt wissen sie, wie ich heiße und wo ich wohne – das wusste bislang schließlich jede Firma, die mir jemals Strom geliefert hat. Sie wissen auch, wie viel Strom wir verbrauchen, sie fragten danach, um den günstigsten Tarif zu berechnen. Und jetzt können sie daraus schließen, wie viele Personen in meinem Haushalt leben.
Das Einzige, was sie nicht wissen, ist mein Geburtsdatum, obwohl sie auch das erfahren wollten, angeblich, um festzustellen, ob ich bereits geschäftsfähig bin. Aber anstatt mich einfach ankreuzen zu lassen, ob ich über 18 bin, bestanden sie auf Jahr und Tag meiner Geburt. Sonst gab es keinen Strom, beziehungsweise keinen nächsten Menüpunkt. Es ist ja dann immer so, als säße man einem Beamten gegenüber, der mit immer gleicher Miene sagt: „Geburtsdatum, bitte. Ich habe meine Vorschriften.“ Ein Dialog ist nicht vorgesehen und nicht möglich. Sie wissen jetzt also auch ein Geburtsdatum, allerdings ein falsches. Und wie falsch: Hitlers Geburtstag und sein Todesjahr. Den Witz dürften sie kaum bemerkt haben.
Solche kleinen Subversionen trösten über das unangenehme Gefühl hinweg, ihnen ausgeliefert zu sein. Kleine Bosheiten wie andere Vornamen oder eine absonderliche E-Mail-Adresse zum Einmalgebrauch. Ich weiß, dass das nichts nützt und kaum etwas ändert. Wenn es um Einkäufe geht, ist es doch immer wieder dasselbe Bankkonto, dieselbe Anschrift, egal ob ich als Udo oder als Miranda bestelle.
Und meine IP-Adresse haben sie auch. Ich habe nur, wie wahrscheinlich die meisten, einen bestimmten Kodex. Zu meinem gehört es, die bösen Riesen Google, Amazon und Facebook zu vermeiden, nur das preiszugeben, was nach meinem Ermessen unumgänglich ist, mich also nicht bei irgendwelchen Anbietern zu registrieren, auch wenn es 10 Prozent Rabatt dafür gibt. Wenn die 10 Prozent allerdings richtig viel Geld bedeuten, dann, vielleicht, verhandle ich mit mir auch mal über meinen Kodex.
Die Frage ist natürlich, wie viel mir, in Euro und Cent, meine Privatsphäre wirklich wert ist. Eine Frage, die ich nicht beantworten kann, weil Privatsphäre etwas ist, was man nicht beziffern kann. Und auch nicht beziffern möchte, denn das heißt ja, sich mit ihrer Umwandlung in eine Ware einverstanden zu erklären. Privatsphäre sollte nicht verkäuflich sein, schon gar nicht an die opaken Monster, die im Internet Daten verschlingen und daraus Gewinne generieren.
Meine Ausweichmanöver, die als Strategien zu bezeichnen lächerlich wäre, mein Kodex, meine kleinen Subversionen sind, zugegeben, völlig naiv. Sie dienen vornehmlich dazu, die Illusion der eigenen Unberechenbarkeit aufrechtzuerhalten. „Sie“ wissen inzwischen, dass ich im Hinblick auf Alter und Geschlecht unstet bin, aber sie wissen, was „ich“ ist: ein Profil, das aus meiner IP-Adresse, meinem Bankkonto, meiner Anschrift, meinen Mailkonten und einer Unzahl Fakten besteht.
Mein Profil ist etwas, das Marienkäferlarven und Katzenfutter (Spezialtrockenfutter für nierenkranke Kater, das können Sie ruhig erfahren, „sie“ wissen es sowieso) bestellt; die Lebenserinnerungen eines deutschen Guerilleros in Neuguinea aus dem Jahr 1928 heruntergeladen hat; häufig Flugtickets nach X kauft, Symptome der Y-Krankheit recherchiert, nach dem Wetter in Z. fragt und noch ein paar andere Dinge tut, die niemanden etwas angehen.
Die Liste dieser Dinge ist lang. Und so freimütig ich noch bei der Spezifizierung des Katzenfutters war: Ich schreibe hier nicht hin, wohin ich fliege und worunter meine Angehörigen leiden. Das ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
Aber „sie“ wissen es. Mit allem, was ich im Internet recherchiere, herunterlade, erwerbe, mache ich mich zur Komplizin meiner eigenen Überwachung.
Ein kleiner historischer Einschub: Im Jahr 1983 erging das so genannte Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts. Darin arbeiteten die Karlsruher Richter ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung heraus, woraus sie folgerten, dass die personenbezogenen Fragebögen zur Volkszählung gesondert zu bearbeiten und alle übrigen Daten anonym zu erheben seien. Dennoch riefen linke und bürgerrechtlich-liberale Kreise damals zum Boykott auf. Koordiniert wurde die Initiative übrigens von der Jugendorganisation der FDP.
Ungefähr zur selben Zeit beschwor eine klandestin in Berlin erscheinende linksradikale Zeitschrift die grauenvolle Dystopie einer „computerisierten“ Zukunft: interaktive Bildschirme, personalisierte Computerprogramme und eine Art Skype. Tenor: Der Staat schaut uns im Schlafzimmer zu und forscht unsere Gesinnung aus. Darüber kann man heute nur noch nostalgisch lächeln: Wenn es nur das wäre!
Damals war es der Staat, vor dem man Angst haben musste, die Erinnerung an die Terrorparanoia der 1970er mit all ihren bösen Folgen für den Rechtsstaat war noch frisch. Dagegen existierte die Vorstellung, dass weltumspannende Riesenkonzerne die Menschheit mit Information bedienen und ihr Konsumverhalten in großem Stil kontrollieren und manipulieren würden, hauptsächlich im Kino, jedenfalls in weiter Ferne. Das Abgefeimteste, das man sich gemeinhin ausmalte, war eine Art elektronischer Rabattmarke – genau das, was DeutschlandCard und ähnliche Systeme heute betreiben.
Inzwischen segelt der Staat gemächlich im Windschatten der internationalen IT-Riesen – und nimmt mit, was ihm zupasskommt. Wie wir, die Kunden und Konsumenten, ist er sowohl Nutznießer als auch Objekt informationeller Begehrlichkeit.
Womit wir bei der Frage wären, wer diese Informationen begehrt und wozu. Und wer eigentlich „sie“ sind. „Sie“, die so viel über mich wissen. Die Manipulatoren und Ausspäher. Die Agenten des totalitären Konsumismus. „Sie“, die unsere Informationen brauchen. Was tun sie damit eigentlich? Die Antwort ist einfach: Sie rechnen. Sie sind nämlich Algorithmen.
Ein „Algorithmus“, so das Ergebnis meiner Nicht-Google-Suche im Internet, ist „eine mathematische Formel, mit deren Hilfe sich Unterschiede oder auch Gleichmäßigkeiten innerhalb komplexer Strukturen herausfinden lassen. Ein Algorithmus besteht aus mehreren aufeinander folgenden mathematischen Operationen, welche, gleichgestellt oder auch unterschiedlich gewichtet auf eine Struktur angewendet, stets zu einem ganz bestimmten Ergebnis führen“ (www.seo-united.de/glossar/algorithmus).
Ein Algorithmus sucht also nach Strukturen, wenn ich im Internet die Herstellung von Schrumpfköpfen recherchiere, den Einfluss der Barocklyrik auf, sagen wir, Günter Grass und ein sicheres Mittel gegen Kaugummiflecken. Wenn es da einen Zusammenhang gibt – der Algorithmus findet ihn.
Der Algorithmus wundert sich nicht, er lacht nicht und erschrickt nicht. Ihm ist nichts peinlich. Er rechnet, egal ob es um ganz private Dinge geht, um den Staat, um die Kunst. Meistens wird er dazu verwendet, genau auszurechnen, was dem „ich“, also dem aus Daten und Aktivitäten zusammengesetzten Profil „ich“ als Nächstes zu verkaufen wäre, und generiert entsprechende Angebote: Anzeigen, die den Bildschirm mit Reiseangeboten nach Amazonien und Schönheitsoperationen in Polen füllen.
Der Algorithmus berechnet, je nach der Struktur, für die er entwickelt wurde, ob „ich“ als Terroristin infrage komme oder für eine Knochenmarkspende oder beides. Er berechnet für Partnerschaftsbörsen, welche Leute sich mit einiger Wahrscheinlichkeit ineinander verlieben werden. (Allerdings sollte, damit den Partnerschaftsbörsen die Kundschaft erhalten bleibt, die Trefferquote nicht allzu hoch sein.)
Es sind also keine Menschen, die sich meine Daten ansehen, sondern Rechenverfahren. Menschen haben nur diese Algorithmen mithilfe anderer Algorithmen entwickelt; aber ihnen ist es völlig egal, ob jemand den Partner seines Lebens findet oder ins Land der Schrumpfköpfe reist, sie bekommen davon ja nichts mit. Die Einzigartigkeit jedes Menschen, seine Privatheit – das interessiert in diesem Geschäft niemanden. Es geht um die Kommerzialisierbarkeit der Wünsche – meiner Wünsche! Und Individualität ist dabei teuflischerweise vor allem eins: das stärkste Verkaufsargument. Lebe deinen Traum! Doch was „mein“ Traum ist, hat der Algorithmus bereits errechnet, bevor ich selbst es weiß.
Vielleicht ist es das, wovor ich mich in Wahrheit fürchte: die völlige Enteignung meiner Persönlichkeit. Und die Entdeckung, dass ein so originelles, vielseitiges und besonderes Individuum wie ich von einer Maschine berechnet werden kann. Aber mit solchen Überlegungen gehe ich den bösen Riesen bereits ins Netz: „Ich“ ist auch nur ein Marketingprofil.
© Le Monde diplomatique, Berlin