11.09.2014

Die Stärken des Islamischen Staats

zurück

Die Stärken des Islamischen Staats

von Peter Harling

Audio: Artikel vorlesen lassen

Der Islamische Staat (IS) gibt sich entschlossen und selbstbewusst – ganz im Gegensatz zu den Ländern in der Region, in denen Konfusion und Unsicherheit herrschen. Die Terrormiliz kontrolliert inzwischen große Teile des syrischen Nordostens und des irakischen Nordwestens. Dabei bildet sie, trotz ihres Namens, keineswegs einen neuen Staat, da sie Grenzen grundsätzlich ablehnt und weitgehend ohne Institutionen auskommt. Der Erfolg des IS verrät jedoch viel über die Lage im Nahen Osten und vor allem über die Staaten in der Region, aber auch über die Außenpolitik des Westens.

Die eroberungswütige Bewegung besitzt eine erstaunlich klare Identität , obwohl sie vielfältige Wurzeln hat und aus Freiwilligen unterschiedlicher Herkunft besteht. Ihre Geschichte beginnt im Irak, wo eine Handvoll früherer Mudschaheddin aus Afghanistan im Gefolge der US-Invasion von 2003 eine lokale Al-Qaida-Filiale gründeten. Die irakischen Dschihadisten lösten sich in ihren Zielsetzungen jedoch rasch von der Al-Qaida-Doktrin, weil ihnen der innere Feind wichtiger war als ferne Gegner wie Israel. Selbst im Irak kämpften sie immer weniger gegen die US-amerikanischen Besatzer. Stattdessen brachen sie einen Religionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten vom Zaun, der auf einen Brudermord hinauslief. Ihre extremen Gewalttaten waren dabei auch gegen Verräter und angeblich Abtrünnige unter den Sunniten gerichtet. Als Folge dieser Selbstzerfleischung war die radikale Strömung bis 2008 auf eine Handvoll Kämpfer zusammengeschrumpft, die sich in der irakischen Wüste verschanzt hatten.

Zu seiner spektakulären Rückkehr auf die politische Bühne hat der Islamische Staat selbst nur wenig beigetragen. Das war vielmehr das Werk seiner erklärten Feinde, deren Liste sich wie eine Art Who’s who der Nahostregion liest. An der Spitze stehen das schiitische Regime von Nuri al-Maliki in Bagdad und das von Präsident Baschar al-Assad in Damaskus, die mit allen erdenklichen Mitteln – bis hin zum ungeheuerlichen Einsatz von Chemiewaffen im Fall Syriens – unter dem Etikett des „Kriegs gegen den Terrorismus“ eine sunnitische Opposition bekämpfen, zu deren Radikalisierung sie selbst nach Kräften beigetragen haben.

Die Fehler seiner Gegner

Auf der Liste stehen aber auch die zeitweiligen Partner dieser Regime, die Maliki und Assad in ihrer Politik bestärkt haben, also die USA und Russland. Auch der Iran hat sich nicht darauf beschränkt, Bagdad und Damaskus seine unbedingte Unterstützung anzubieten: Teheran setzt in seiner Außenpolitik gegenüber der arabischen Welt nach wie vor und zunehmend auf die Förderung auch sehr kleiner schiitischer Milizen, was die religiöse Polarisierung nur noch weiter verstärkt.

Eine maßgebliche Rolle spielen auch die Golfmonarchien, die mit ihren Petrodollars um sich werfen und eine islamistische Wirtschaft finanzieren, die zum Teil im Verborgenen gedeiht. Auch die Türkei sei nicht vergessen, hat sie doch eine Zeit lang ihre Grenze zu Syrien für Dschihadisten offen gehalten, die unter anderem aus Frankreich, Spanien, Deutschland, Großbritannien und sogar Australien in den „Heiligen Krieg“ aufbrachen. Die USA dagegen wären für ihre Abwesenheit zu verurteilen: Nach zehn Jahren chaotischen und hektischen Agierens in der Ära George W. Bush hat sich Barack Obama für das Gegenteil entschieden: für eine phlegmatische und gleichgültige Politik des Laisser-faire, obwohl klar zu erkennen war, dass die gescheiterten Regime in Syrien und im Irak ein idealer Nährboden für Dschihadisten sind.

Unter diesen Bedingungen konnte der IS binnen zwei Jahren gedeihen, sich immer weiter ausbreiten und schließlich große Städte wie Raqqa, Falludscha und Mossul einnehmen. Das Bemerkenswerte an dieser Entwicklung ist, dass der Dschihadismus erstmals von den Rändern der arabischen Welt in städtische Zentren vorrücken konnte.

Dieser Erfolg beruht zum Teil auf einer Strategie, die sich als Konsolidierung beschreiben lässt. Der IS ist nicht so sehr darauf aus, „die Welt zu erobern“, wie es seine Propagandisten und Gegner gleichermaßen suggerieren, als vielmehr darauf, in den eroberten Gebieten seine Macht zu festigen. Damit zeigte die Gruppe mehr Pragmatismus, als man ihr zugetraut hatte. Bis vor Kurzem machten die IS-Kämpfer westliche Gefangene, um damit Geld zu erpressen, statt sie umzubringen. In dieser Hinsicht ist die Exekution des US-Journalisten James Foley am 19. August – in Reaktion auf die Bombardierung ihrer Stellungen im Irak – ein Anzeichen für eine wesentliche Veränderung.

Mit besonderer Härte kämpfen die Dschihadisten um die Erdölquellen, die ihnen mehr finanzielle Autonomie garantieren würden. In Gebieten, die ihnen wichtig sind, greifen sie bevorzugt schwächere sunnitische Rivalen an. Weniger Begeisterung zeigen sie für Auseinandersetzungen mit ernsthafteren Gegnern, bei denen größere Verluste drohen: An Kämpfen gegen das syrische Regime sind sie kaum beteiligt, im Irak meiden sie wenn möglich jede direkte Konfrontation mit den schiitischen Milizen, und an der kurdischen Front halten sie sich gegenüber den Peschmerga eher zurück.

Im Übrigen hat der IS wenig anzubieten. Das zeigt die katastrophale Situation in Mossul überdeutlich. Zwar verfügt er über beträchtliche Ressourcen, aber die reichen nicht, um irgendetwas an irgendwen weiterzuverteilen. Sein Machtanspruch ist schlicht anachronistisch: die Rückkehr zu den Praktiken des Propheten, was schwierig wäre, selbst wenn man sie richtig interpretieren würde.

Jenseits dieser kruden Utopie hat der IS keinerlei Theorie eines islamischen Staats. Diese Leerstelle finden wir übrigens in der gesamten sunnitischen Welt (während die iranische Revolution eine schiitische Staatsdoktrin hervorgebracht hat). Der IS hat – anders als bewaffnete Gruppen, die rein kriminelle Machenschaften verfolgen – allenfalls genaue Regeln für die Kriegsführung ausgearbeitet, was den Zusammenhalt unter seinen Kämpfern stärkt.

Insgesamt begnügt sich der IS im Wesentlichen damit, ein Vakuum auszufüllen. Er kontrolliert den Nordosten Syriens, weil der vom Regime mehr oder weniger aufgegeben wurde und weil die Opposition, die dieses Vakuum womöglich hätte füllen können, von ihren vermeintlichen Schutzherren – vor allem den USA – im Stich gelassen wurde.

Irakische Städte wie Falludscha und Mossul konnten die Dschihadisten in ihre Hand bringen, weil diese von der Zentralmacht in Bagdad aufgegeben wurden. Dabei ist die IS-Verwaltung ebenso korrupt wie repressiv und vorläufig. Dass die IS-Kämpfer anfangs so zügig in die von kurdischen Kräften kontrollierte Zone, aber auch in die Gebiete der christlichen und jesidischen Minderheiten vorrücken konnten, erklärt sich durch das geringe Engagement der Kurden, die sich auf ihr angestammtes Territorium zurückzogen, statt die Opfer der IS-Expansion zu verteidigen.

Eine Leerstelle füllt der Islamische Staat (das arabische Akronym Daaisch hat einen negativen Beiklang) auch auf einer abstrakteren Ebene aus. Die sunnitische Welt hat gleichermaßen Mühe, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, wie ihre Zukunft ins Auge zu fassen. Den Wirren des 20. Jahrhunderts ging eine lange osmanische Besetzung voraus, die als Periode des Niedergangs wahrgenommen wird, gefolgt von einer Serie von Niederlagen. Regime im Namen des Antiimperialismus, des Panarabismus, diverser Formen von Nationalismus, Sozialismus, Islamismus oder auch des Kapitalismus hinterließen nur zwiespältige und bittere Erfahrungen. Und die Hoffnungen der Aufstände von 2011 endeten bislang überall – mit Ausnahme von Tunesien – mit einem Desaster. Aus welcher Quelle könnte man neue Inspiration, neues Selbstvertrauen und das Gefühl von Stolz beziehen? Von den Reaktionären am Golf und in Ägypten? Von den Muslimbrüdern, die in Ägypten wieder plattgemacht wurden? Von der palästinensischen Hamas, die sich mit ihrem endlosen Widerstand gegen Israel in eine Sackgasse manövriert hat?

Gleichzeitig hat die schiitische Welt gewisse Teilerfolge vorzuweisen: Der Iran hat sich gegenüber dem Westen als unverzichtbarer Gesprächspartner etabliert und strebt eine immer größere Rolle auch in der arabischen Welt an. Im Libanon geht nichts ohne die Hisbollah, und die religiöse Achse Beirut–Damaskus–Bagdad–Teheran hat sich weiter stabilisiert. Die Folge ist eine neue und alarmierende Erscheinung: Die sunnitische Mehrheit in der Region entwickelt einen Minderheitenkomplex, ein wirres, aber starkes Gefühl von Marginalisierung, Enteignung und Demütigung. Immer mehr Sunniten an immer mehr Orten haben das Gefühl, verfolgt und elementarer Rechte beraubt zu werden.

Von wenigen positiven Ausnahmen abgesehen, pflegen schiitische, christliche, alawitische oder kurdische Minderheiten ihre jeweilige Opferidentität, was sie bestenfalls gleichgültig für das Schicksal der Mehrheit und schlimmstenfalls zu Komplizen der Unterdrücker macht. Der Westen ist nicht besser. Das Schicksal der Jesiden, die nach ihrer verzweifelten Flucht im Sindschar-Gebirge verhungern, löst bei den westlichen Regierungen höchste Besorgnis aus; das Los der Bewohner belagerter Viertel von Damaskus, wo weit mehr Sunniten vom Assad-Regime ausgehungert werden, lässt sie kalt.

Verstörend ist allerdings etwas anderes: Die Aufregung über den IS kaschiert nur eine allgemeine politische Passivität und Hilflosigkeit. All jene, die den „Krieg gegen den Terror“ von US-Präsident Bush verdammt haben, weil sie in ihm die naive Idee eines pyromanischen Feuerwehrmanns oder die Manifestation einer irrwitzigen imperialen Logik sahen, stoßen jetzt ins selbe Horn, um nicht über das wahre Dilemma dieser Region nachdenken zu müssen. Mit Hinweis auf den IS rechtfertigt der Iran seine Hinwendung zu einem exzessiven schiitischem Sektierertum als Antwort auf die sunnitischen Sektierer.

Den westlichen Politikern, die nicht mehr aus noch ein wissen, dienen die Dschihadisten zur Begründung ihrer ambivalenten Haltung, so wie sie vielen arabischen Regierungen den Vorwand für eine konterrevolutionäre Gewaltorgie liefern. Schließlich muss der IS auch dazu herhalten, die wachsende Entfremdung zwischen den Minderheiten und der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung zu erklären, wobei die Minderheiten in der Regel zugleich Opfer und Täter sind, weil sie an Unterdrückungsmethoden festhalten, die das Problem verschärfen.

Und so hagelt es von allen Seiten Sprüche und Forderungen, von denen eine absurder als die andere klingt. Der Iran sagt zum Westen: Liebt uns, weil der IS uns bedroht. Die arabischen Regime zu ihren Völkern: Wir machen keinerlei Zugeständnisse mehr, weil der IS uns bedroht. Die syrische Opposition: Rettet uns vor uns selbst, weil der IS uns bedroht. Die Hisbollah zu den Libanesen: Alles ist erlaubt, weil der IS uns bedroht. Die USA: Wir greifen in Syrien nicht ein, weil der IS uns bedroht, aber im Irak schlagen wir zu – weil der IS uns bedroht.

Historische Rückfälle, wohin man schaut. Der „Krieg gegen den Terrorismus“ wird aus der Mülltonne der Geschichte der internationalen Beziehungen geholt, desgleichen der „Schutz der Minderheiten“ in seiner kolonialen Version, indem man die empörte Mehrheit bombardiert. Dass die US-Flugzeuge und Drohnen im Irak ein paar Ziele getroffen haben, gilt als Akt der Befreiung – allerdings nicht für die Jesiden, deren Zukunft von vielen anderen Faktoren abhängt, sondern für das Bewusstsein der Obama-Regierung, die auf die Gewaltakte der vergangenen drei Jahre mit Schulterzucken und Wegschauen reagiert hat.

Wenn es gegen den IS geht, ist alles erlaubt

Am Ende haben die USA im Irak nur reagiert, weil sie sich damit relativ gut aus der Affäre ziehen: Es droht keinerlei Eskalation, weil der IS zu einer unmittelbaren Vergeltung nicht imstande ist; es droht kein Aufschrei der Öffentlichkeit – weder in den USA noch weltweit –, weil alle dafür sind. Ebenso wenig drohen diplomatische Verwicklungen, weil der IS dafür sorgt, dass sich alle einig sind: die irakische Regierung und die kurdische Führung, aber auch die Nachbarn Iran, Türkei und Saudi-Arabien.

Gleichwohl sind diese Luftangriffe alles andere als neutral. Im Gegenteil, sie vermitteln für die Region eine klare Botschaft. In der Chronologie der makabren Schlachten im Nahen Osten erfolgten sie genau einen Monat nach den ersten Bomben auf Gaza, die Washington mit ungeheurer Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Zivilbevölkerung hingenommen hat.

Zugleich senden die US-Bomben eine klare Botschaft an die regionalen Akteure: Mit der richtigen Dosierung von „Krieg gegen den Terror“ und „Schutz der Minderheiten“ kann man die Unterstützung der Großmacht USA mobilisieren. Masud Barzani, der Präsident der Regionalregierung Kurdistans, hat mit seinem reißerischen Hilferuf in der Washington Post vom 10. August bewiesen, dass er die Botschaft verstanden hat. Auch die anderen Politiker der Region haben es begriffen. Nur wenn man sie zu positiven Veränderungen auffordert, stellen sie sich taub.

Nehmen wir den Fall Libanon. Hier hat das Auftauchen des IS zunächst geholfen, die Lähmung zu überwinden, die das unsichere Land erfasst hat. Doch dieser Schritt nach vorn ist zugleich ein Sprung zurück: Die Politiker und ihre ausländischen Sponsoren überschlagen sich in ihrer Unterstützung für die Armee, die für die Jagd auf sunnitische Islamisten ordentlich kassiert. Zugleich blenden sie aber die heikle Frage der Hisbollah, die ungestört an der Seite der schändlichen Regime in Syrien und im Irak kämpft, völlig aus. Tatsächlich gilt im Libanon – wie anderswo auch – die strukturelle Instabilität als zweitrangig im Vergleich zum Kampf gegen den IS. Das sorgt bei den Sunniten natürlich für wachsenden Frust.

Wenn die Hauptakteure seine Präsenz weiter nur nutzen, um ihre eigenen Fehler zu verschleiern, kann der IS gelassen in die Zukunft blicken. Die schiitischen Islamisten, die säkularen Kräfte der Region und die westlichen Regierungen sind dabei, ihre Beziehungen teilweise neu zu definieren, und zwar auf der Grundlage eines zum Selbstzweck erhobenen Heiligen Kriegs. Der Gazastreifen, Jemen, der Sinai, Libyen, ja sogar Tunesien sind fruchtbarer Boden für die Expansion des IS. Denn er agiert in einem Teil der Welt, in dem die regionale Verflechtung sowohl über die Grenzen hinweg als auch innerhalb der Länder stark ausgeprägt ist, auch weil aufgrund der allgemeinen Landflucht starke Bindungen zwischen den Randgebieten und den Armenvierteln der Großstädte entstanden sind.

Enge Beziehungen gibt es dank der Migrationsströme auch zu den westlichen Gesellschaften, wo eine neue Generation potenzieller Dschihadisten heranwächst, die es problemlos nach Syrien oder in den Irak schafft. Von dort kommunizieren sie ihre Erfahrungen in großspurigen Tweets, die sie so häufig abschießen wie Gewehrkugeln.

Der IS hat an sich wenig zu bieten, aber er nährt sich von einem Systemeffekt. Und das in sehr unterschiedlichen Funktionen: als eine Art Standardroute zur Erlösung, als gelegentlicher Bündnispartner, als Vehikel des sozialen Aufstiegs oder als probates Identitätsangebot für sunnitische Kreise, die eine tiefe Krise durchleben. Von seinen zynischsten Gegnern wiederum wird der IS als Schreckgespenst oder auch zur Ablenkung benutzt. Und als ein Popanz, auf den sämtliche Akteure, die ihr eigenes Scheitern eingestehen müssten, ihre Ängste projizieren können. Diese Mehrdeutigkeit des Phänomens Islamischer Staat ist das Geheimnis seines Erfolgs in einer Zeit, die durch chaotisch verlaufende Veränderungsprozesse gekennzeichnet ist.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Peter Harling ist Projektleiter der International Crisis Group.

Le Monde diplomatique vom 11.09.2014, von Peter Harling