Brief aus Algier
von Jakob Horst
Auf den ersten Blick ist in Algier alles wie immer: Das Verkehrschaos hat seit meinem letzten Besuch noch weiter zugenommen, so dass es oft klüger scheint, zu Fuß zu gehen, als sich in einen der überfüllten Kleinbusse zu zwängen und dann doch nur im Stau zu stehen. Auf der Rue Didouche Mourad, die von der an einen Atommeiler erinnernden Kathedrale aus den 50er Jahren hinunter zum Hafen führt, flanieren die besser betuchten „Dzieris“ (so nennen die Algerier die Hauptstadtbewohner). Im Parc de la Liberté, der oft nur „Parc des Amoureux“ genannt wird, sitzen wie immer die Händchen haltenden Paare. Und auf dem Markt in Bab El Oued schieben sich die streng verschleierten Frauen an den Auslagen mit chinesischem Plastikspielzeug vorbei.
Doch es genügt, eine der zahlreichen Tageszeitungen aufzuschlagen, die hier an jeder Straßenecke verkauft werden, um zu begreifen, dass es auch in Algier rumort: Die Hochschullehrer streiken; die Arbeitslosen protestieren vor dem Präsidentenpalast; die Jugendlichen der Elendsviertel gehen auf die Straße, um die lang versprochenen „relogements“ durchzusetzen, damit sie aus den hoffnungslos überfüllten und abrissreifen Wohnsilos herauskommen; die Familien der in den 90er Jahren „Verschwundenen“ fordern die Öffnung der Archive, und sogar die Gardes Communaux, eine Sondertruppe der Polizei, die in den 90ern gegen die islamistischen Kampfgruppen eingesetzt wurde, protestiert für bessere Gehälter. Algier im Frühling 2011 erlebt zahllose kleinere Sit-ins, Demonstrationen und Proteste, aber die große Revolution scheint vertagt.
Am 5. Januar, als die Jugendrevolten sich im ganzen Land ausbreiteten, war das noch anders. Adlen, der bei einer Tageszeitung in Algier arbeitet, erzählt mir, an diesem Abend habe er geglaubt, nun beginne die Revolution auch in Algier. Doch die Polizei gewann mit Schlagstöcken und Tränengas bald die Oberhand.
Die Jugendlichen, die sich seither immer wieder kleinere Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, kommen aus Elendsquartieren wie Diar Echams, Climat de France oder Diar-el-Mahçoul. Das liegt auf einem Hügel, neben dem Maqam Echahid, dem riesenhaften Monument für die Märtyrer des Unabhängigkeitskampfs gegen Frankreich. Es besteht aus glattem, weißen Beton und thront über der Stadt wie ein überdimensionaler Wachturm. 200 Meter weiter stehen die baufälligen Wohnblöcke von Diar-el-Mahçoul eng aneinander; in den Zweizimmerwohnungen leben oft bis zu zehn Personen, mit der Wasserversorgung gibt es ständig Probleme. Auf der Fahrbahn sind die Überreste der Straßenschlacht vom Vortag zu sehen, Glassplitter, Steine und Holzplanken liegen verstreut. Die Straße, die vom Riad-el-Feth-Platz ins Zentrum führt und direkt neben den Wohnblöcken verläuft, wurde Ende März von Jugendlichen des Viertels besetzt, mit der Absicht, die Blockade über drei Wochen aufrechtzuerhalten, denn dann, so hat der Wali von Algier versprochen, soll die Umsiedlung beginnen.
Einen Protest ganz anderer Art kann man seit Mitte Februar an jedem Samstag, dem zweiten Tag des algerischen Wochenendes, auf dem Platz des 1. Mai beobachten. Dort organisiert das Oppositionsbündnis Coordination pour le Changement et la Démocratie (CNCD) seinen wöchentlichen Demonstrationszug. Der wird allerdings regelmäßig von einer gewaltigen polizeilichen Übermacht aufgelöst, bevor er überhaupt begonnen hat. Alle Demonstrationen in der Hauptstadt bleiben verboten, daran hat auch die Aufhebung des 19 Jahre bestehenden Ausnahmezustands am 24. Februar nichts geändert.
Nordine Grim, Journalist bei der Tageszeitung El Watan, erklärt mir bei einem öligen algerischen Kaffee in einem kleinen Eckbistro im zentralen Telemly-Viertel, dass man von der offiziellen politischen Opposition nichts erwarten könne. Die Veränderungen müssten von der Jugend ausgehen, nicht von den alten Kadern der Oppositionsparteien. Algerien hat seit der politischen Öffnung 1989 ein Mehrparteiensystem, doch die zugelassenen Parteien haben bei den Algeriern keinen guten Ruf. Sie werden von vielen als Legitimationsinstrument des Regimes wahrgenommen, manche sagen sogar, sie steckten mit der „pouvoir“ unter einer Decke.
Das sieht Madjid Yousfi, Nationalsekretär der führenden Oppositionspartei Rassemblement pour la Culture et la Democratie (RCD), natürlich anders. Er sitzt in seinem bescheidenen Büro im Viertel El-Biar auf den Höhen über Algier, auch hier gibt es starken Kaffee, und wie fast überall in Algerien darf auch hier geraucht werden. Ich frage ihn, wie er sich das Misstrauen der Jugend gegenüber seiner Organisation erklärt. Er beginnt zu grinsen und fragt zurück, ob ich nicht wisse, dass das Regime die Jugendlichen manipuliere. Da ist er wieder, der Verweis auf eine ominöse Macht, die alle Fäden des algerischen Schicksals in den Händen hält und die Gesellschaft nach Belieben beeinflusst.
Zuweilen hat man den Eindruck, dass dieses Bild einer allgegenwärtigen Führungskaste vor allem einem hilft: dem Regime selbst. Jeder kann sich beschweren, über alles, was schiefläuft: Die Korruption, die katastrophale Wohnungssituation, die Arbeitslosigkeit, selbst die endlosen Staus, die täglich die Hauptstadt verstopfen – für alles lässt sich der finstere, undurchschaubare Machtapparat verantwortlich machen. Aber diese Vorstellung führt auch dazu, dass niemals Namen fallen. Keiner weiß wirklich, wer die Leute sind, die den Präsidenten einsetzen, über die Verteilung des enormen Reichtums aus dem Öl- und Gasexport bestimmen und die Ernennung jedes Ministers zuerst gutheißen müssen. Manche sagen, der wahre Machthaber sei General Mohamed Mediène, genannt „Toufik“, der Chef des algerischen Geheimdienstes DRS.
Die Opposition in Algier ist gespalten, doch es gibt Leute, die genau das ändern wollen. Abdou, Mitgründer einer jungen Facebook-Gruppe, die sich MJIC nennt (Mouvement de la Jeunesse Indépendant pour le Changement), hat mich zu einem Treffen eingeladen. In einer geräumigen Wohnung am Place Audin, in einem der wunderschönen Kolonialbauten, denen Algier seinen Namen „la blanche“ verdankt, diskutieren etwa fünfzehn junge Leute. Auch ein paar junge Frauen sitzen in der Runde, doch sie halten sich in der hitzigen Diskussion eher zurück. Das hier sind nicht die gleichen Jugendlichen, die sich für eine Wohnung mit fließend Wasser mit der Polizei prügeln müssen. Es sind Studenten, die sich schon lange in verschiedenen Protestgruppen engagieren und nach den Ereignissen in Tunesien beschlossen haben, dass in Algerien der erste Schritt darin bestehen muss, die unterschiedlichen Protestbewegungen zu vereinen.
„Auch wir haben anfangs an den Demonstrationen der CNCD teilgenommen“, erklärt mir Abdou. „Aber dann haben wir verstanden, dass die Zeit noch nicht reif ist für solche Aktionen. Unsere Strategie ist es, die Leute zu sensibilisieren und dafür zu sorgen, dass sich die unterschiedlichen Gruppen, die Arbeitslosen, die streikenden Arbeiter, die Jugendlichen aus den Elendsquartieren und alle anderen zusammentun – das ist eine Aufgabe von Jahren.“
Die Aufstände in Tunesien und Ägypten dienen diesen jungen Leuten als Vorbild, doch sie meinen auch, die Situation in Algerien sei anders. Dass sich viele Algerier mit politischem Protest zurückhalten, hat seinen Grund vor allem in den noch frischen Erinnerungen an die 90er Jahre, als im Land ein blutiger Kampf zwischen der Armee und islamistischen Gruppierungen tobte. Fast jede Familie hat in dieser Zeit einen Angehörigen verloren. „Die Leute wollen einen radikalen, aber vor allem friedlichen Wandel“, sagt Abdou. „Denn so sehr sie eine Veränderung herbeisehnen, sie haben Angst vor neuer Gewalt.“
Als Premierminister Ouyahia Anfang April in einer Diskussionssendung des staatlichen Fernsehens ENTV feststellte, Algerien brauche keine politischen Reformen, da das Land „keine politische Krise“ erlebe, hielten viele das für einen Aprilscherz. Doch mit einem hat er recht: Bisher richten sich die meisten Proteste in der Hauptstadt gegen konkrete soziale Benachteiligungen. Das macht es dem Regime umso leichter, durch finanzielle Zugeständnisse den Druck zu verringern. Vor kurzem schrieb der Quotidien d’Oran, das algerische Regime berechne jede Revolte in Dinar oder Euro: „Es reicht aus, zu wissen, wie viel, um die Frage nach dem Weshalb beiseitezuschieben.“
Am 12. April wehte dennoch ein Hauch von Revolution durch Algier. Auch Abdou und seine Facebook-Freunde nahmen am großen Protestmarsch der Studenten teil, der von der Coordination nationale autonome des étudiants (CNAE) organisiert worden war. Es war die erste große Demonstration in Algier seit den Berberprotesten von 2001, und zum ersten Mal konnten sich die Demonstranten gegen das massive Polizeiaufgebot durchsetzen.
Am 15. April sprach Präsident Bouteflika im Staatsfernsehen ENTV zu seinem Volk, es war seine erste Rede seit fast fünf Monaten. Gezeichnet von seiner Krankheit, deren genaue Natur in Algerien wie ein Staatsgeheimnis gehütet wird, kündigte er mit leiser Stimme und müdem Blick politische Reformen an. Niemand in Algier nahm diese Ankündigung ernst. Bouteflika, der die Algerier einst aufgefordert hatte, mit erhobenem Haupt durchs Leben zu gehen, hob während der zwanzigminütigen Ansprache ganze drei Mal kurz den Kopf, um sein Volk anzublicken.
© Le Monde diplomatique, Berlin