Brief aus Mumbai
von Rupa Gulab
Wie die Dinge sich doch ändern! Überall auf der Welt hört man heutzutage nur das Beste über Indiens Zukunft. Ich will gar nicht leugnen, wie gut die Anerkennung als ökonomische Supermacht tut, besonders, nachdem man jahrelang als Schuldenmacher aus der Dritten Welt mit sozialistischer Grundorientierung bemitleidet wurde. Erinnerst du dich noch an die alten Werbespots, in denen Levi’s-Jeans in die damalige Sowjetunion geschmuggelt wurden? Unsere Versorgungslage war ja fast genauso erbärmlich, bevor die Liberalisierung unser Leben von Grund auf veränderte.
Heute müssen wir nicht mehr unsere ins Ausland reisenden Freunde oder Verwandten anflehen, dass sie uns die Markenjeans mitbringen oder diese wundervollen, wundervollen Push-up-BHs (wie konnten wir ohne sie nur jemals zu unseren Ehemännern kommen?).
Wir müssen nicht einmal mehr Coladosen zu Stiftehaltern umfunktionieren, um unseren Nachbarn das Gefühl schmerzlicher Unterlegenheit einzuflößen. Selbst eure köstlichen Schokoladen und Käsesorten können wir in unseren Lebensmittelgeschäften um die Ecke kaufen, in denen man uns stets freundlich begegnet. Unser traditionelles Entspannungsyoga wurde auf den Kopf gestellt: Eine neue, beunruhigend energiegeladene Form von Power-Yoga ist entstanden, in erster Linie, wie ich denke, weil all diese Colas, Schokoladen und Käse so reich an Zusatzstoffen sind.
Aber im Ernst: Du bist die Verhältnisse im Westen gewöhnt und kannst dir wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie erhebend es ist, wenn man Kredithilfeinstitutionen mit den Worten bescheiden kann: „Vielen Dank für Ihr Angebot, aber wir kommen schon allein zurecht“ – anstatt, wie früher, einen Diener zu machen.
Dieses Gefühl steigert sich noch, wenn wir unsererseits bedürftigen Ländern Hilfe anbieten. Ich wünschte jedoch, und dies schreibe ich mit einem tiefen Seufzer, wir könnten den Menschen in unserem eigenen Land, die zum Großteil immer noch nicht von Indiens Wirtschaftswachstum profitieren, mehr Unterstützung gewähren.
Praktisch jeden Tag kommen neue Luxusmarken auf den Markt, und die aufwärtsmobilen Bürger stellen sie triumphierend zur Schau, selbst wenn sie nur ihren Hund ausführen (was mir immerhin zu der überraschenden Entdeckung verholfen hat, dass Christian Dior nicht wirklich gut zu Hundekotschäufelchen passt). Einer der Direktoren von Louis Vuitton weilte unlängst zur Einführung der neuen Uhrenkollektion in Mumbai und prophezeite: „Im Laufe des nächsten Jahrzehnts wird Indien zu einem unserer größten Märkte werden.“ Die Kluft zwischen Reichen und Armen ist gewachsen, und die sozialistische Stimme in meinem Kopf sagt mir, dass dieser ganze zur Schau gestellte Konsum bei den Gewinnern sehr wohl zu jener Art von Hartherzigkeit führen kann, deren historischer Ausdruck lautet: „Sollen sie doch Kuchen essen.“ Und wie tragisch diese Geschichte ausgegangen ist, wissen wir ja.
Traurigerweise werden jene gewissensgeplagten Menschen, die keine glamouröse Prominentengala brauchen, um großzügig für wohltätige Zwecke zu spenden, dasselbe Schicksal erleiden. Seien wir realistisch: Niemand wird Gelegenheit haben, zum Beweis seines fürsorglichen und aufopferungsbereiten Wesens Spendenbescheinigungen von Unicef und anderen hervorzukramen, wenn ein wütender unterprivilegierter Mob Blut sehen will.
Wie du siehst, versetzt mich Indiens glänzender neuer Status noch nicht in Euphorie. Den Champagner werde ich köpfen, wenn es uns allen einigermaßen gut geht. Und natürlich hoffe ich, dass ich das noch erleben darf, schließlich ist es ein ziemlich netter Champagner, ein Dom Perignon, um genau zu sein. Entschuldige, dass ich es überhaupt erwähne – nicht, weil ich eine unerträgliche Angeberin wäre, sondern um dir klarzumachen, wie tief die Kluft wirklich ist. Der große Rest von uns kann es sich nämlich kaum leisten, auch nur mit Softdrinks zu protzen.
Hast du übrigens von dem jüngsten Terroranschlag auf den zwischen Indien und Pakistan verkehrenden Samjhauta-Express gelesen? Mit öder Vorhersagbarkeit erfolgte er nur wenige Tage, bevor Friedensgespräche stattfinden sollten. Tja, die haben einfach keine Fantasie, diese Terroristen. Montessori-Schulen, merkt man bei solchen Gelegenheiten, sind einfach um ein Vielfaches besser als Madrassen. Diese Zugverbindung war jedenfalls als eine von vielen vertrauensbildenden Maßnahmen zwischen unseren beiden Ländern gedacht (an diese Stelle gehört ein hohles, zynisches Lachen).
Ich wünschte, ich könnte an die Ernsthaftigkeit des pakistanischen Präsidenten Pervez Musharraf glauben, wenn es um den Krieg gegen den Terror geht. Oder vielmehr wünschte ich, ich könnte an Präsident Bushs Fähigkeit glauben, Präsident Musharraf davon zu überzeugen, dass er die kreuzfidelen Terroristenbanden vernichten muss, die sich in dieser Weltgegend herumdrücken. Bushs gelegentliche Drohgebärden und regelmäßige Blankoschecks mit seinem Daumenabdruck scheinen nicht zu funktionieren.
Andererseits scheint Bushs Invasion des Irak auch nicht zu funktionieren. O mein Gott, ich hab’s, endlich: Vielleicht, wer weiß, ist das Problem ja, dass Bush nicht funktioniert? Quot erat demonstrandum?
Roger Waters scheint das auf jeden Fall so zu sehen. Letzte Woche war er in Mumbai und gab ein Dark-Side-of-the-Moon-Konzert. Ja, auch ich war einer der eingefleischten, fieberhaft erregten Pink-Floyd-Fans, die sich ihres mittleren Alters schämten. Man braucht wohl kaum zu erwähnen, dass Waters eine adrenalingeladene Show hinlegte und stürmischen Beifall erntete, als er das legendäre mit Graffiti bedeckte aufblasbare Schwein hochsteigen ließ. Die Begeisterung steigerte sich zu ohrenbetäubendem Gebrüll, als das emporschwebende Schwein einen Ruck machte, sich drehte und plötzlich „Weg mit Bush“ auf seinem Hinterteil zu lesen war. Ein Musterbeispiel strategischer Positionierung.
Und wie denkst du über Bollywood-Sternchen Shilpa Shetty, die nach drei Wochen Celebrity Big Brother zum Liebling des Vereinigten Königreichs geworden ist? Ich kann es kaum fassen: Die britischen Medien haben sie in solche Höhen gehoben, dass die Leute in ihr inzwischen eine Kreuzung aus Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela sehen.
Natürlich freue ich mich auch für sie – schließlich verdient jeder seine Warhol’schen fünfzehn Minuten Berühmtheit –, aber nachdenklich hat mich das schon gemacht. Ist es nicht merkwürdig, dass eine sinnfreie Realityshow tatsächlich ein Katalysator dafür war, einen sozialen Missstand aufzudecken? Was mich zu der traurigen Erinnerung bringt, dass auch wir Inder mit unserem altertümlichen Kastensystem eine Vergangenheit voller Diskriminierung haben, so dass ich hier moralisch gar nicht auf dem hohen Ross sitzen kann. Glücklicherweise werden Minderheiten mittlerweile aktiv gefördert, was mir vielleicht in naher Zukunft erlauben wird, das Gesicht zu wahren.
Und dann gibt es noch das entsetzlich beschämende Phänomen der identitären Auswüchse. Wenn du die Gelegenheit hast, „Parzania“ zu sehen, solltest du sie nutzen. Der Film beruht auf der wahren Geschichte eines Parsi-Paares, das seinen Sohn während der Unruhen von Gujarat im Jahr 2002 bei einem Mob-Angriff verloren hat und immer noch nach ihm sucht, in der inbrünstigen Hoffnung, dass er noch lebt. Ich weiß nicht, ob du dich an die Geschehnisse erinnerst. Ein Zugabteil voller Hindu-Fundamentalisten, die in Sprechchören die Errichtung eines Ram-Tempels auf dem Gelände des zerstörten Babi Masjid forderten, wurde von einem angeblich muslimischen Mob in Brand gesteckt. Es kam zu Vergeltungsangriffen, angeblich mit stillschweigender Billigung der Regierung von Gujarat. Vielleicht empfindest du die Szenen im Film als quälend, aber ich versichere dir: Sie sind nicht halb so grauenhaft und gewaltsam wie die realen Bilder des entsetzlichen Ereignisses, die wir seinerzeit in den Medien sahen. Übrigens ist Gujarat der einzige Staat, in dem der Film verboten wurde. Hm. Warum nur?
Wenn ich in dieser deprimierenden Stimmung weitermache, muss ich mir einen großzügigen Schluck sechzig Jahre alten Macallans gönnen – womit wir, o je, wieder beim ostentativen Konsum wären. Aber zurück zu der Frage, wie es sich anfühlt, im heutigen Indien zu leben. Immer mehr Inder, die im Ausland gearbeitet haben, kehren zurück, um das gute Leben in der süßen Heimat zu genießen. Warum auch nicht? Fantastische Stellen warten auf sie, obszöne Gehälter, Mamas und Papas, die gern umsonst den Babysitter für sie machen, Hausmädchen, die sich um den Haushalt kümmern (und nicht in Dollar bezahlt werden) – und, was das Beste von allem ist, der Lebensstil, an den sie sich im Westen gewöhnt haben, ist nun auch hier zu finden, einschließlich der stilvollen Bars mit gotterbärmlicher Weltmusik.
Persönlich fühle ich mich unter Premierminister Manmohan Singhs Regierung sicherer und wohler, und es macht mir auch nichts aus, wenn Sonia Gandhi, wie das böse Gerücht will, die wirkliche Macht hinter dem Thron ist.
Wenn dem so ist, dann macht die „Der man gehorchen muss“ ihre Sache ausgesprochen gut, und ich bewundere sie heute für mehr als ihren ausgezeichneten Sari-Geschmack.
Ich muss nun schließen. Und bitte verzeih, wenn ich mich unkontrolliert ergossen habe. Vielleicht ist mir die schiere Erregung, zum Eliteklub der Ersten Welt zu gehören, zu Kopf gestiegen. Wie peinlich, ich muss unbedingt lernen, entspannter mit Indiens dramatischer Wende zum Besseren umzugehen.
Aus dem Englischen von Michael Adrian
© Le Monde diplomatique, Berlin
Rupa Gulab ist Schriftstellerin und schreibt Kolumnen für Hardnews, das englischsprachige politische Magazin, in dem auch Artikel aus Le Monde diplomatique erscheinen.