11.05.2007

Brief aus Rom

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Brief aus Rom

von Geraldina Colotti

Rom, Stadtviertel Italia, U-Bahn-Station Piazza Bologna. Der Widerschein des Sonnenuntergangs liegt auf den Stufen des Postgebäudes, einem Bau aus faschistischer Zeit. An den Häuserwänden zeigen Graffiti an, dass wir uns hier auf „rechtem Territorium“ befinden. Serienweise Plakate gegen Zigeuner, gegen Immigranten und gegen Frauen, die abtreiben, machen überaus deutlich, was das bedeutet.

Auf den Gehwegen haben die Senegalesen ihre Waren ausgebreitet: Sie verkaufen Raubkopien von Filmen und CDs, die Pakistanis gleich daneben Gürtel und Krawatten, die Chinesen weiter drüben etwas von allem Möglichen. Ein halb abgerissenes Plakat zeigt den Außenminister Massimo D’Alema, wie er während seines Libanonbesuchs Vertretern der Hisbollah die Hand schüttelt, darunter in arabisch anmutenden Lettern: D’Allemah! Ein anderes Plakat zeigt Romano Prodi mit einem riesigen Joint, darunter der Slogan: „Viel Rauch, aber keine Strafverfolgung“, der null Toleranz gegenüber Drogenkonsum propagiert. In den letzten Jahren hat die Alleanza nazionale, die Nachfolgepartei des faschistischen Movimento sociale, Werbeagenturen angeheuert, die ihr Image aufpolieren sollen. Offenbar mit Erfolg.

An der Straße, die zur Via Nomentana führt, leben der hebräische Schnellimbiss und die Parteizentrale der Alleanza nazionale in friedlicher Nachbarschaft. Etwas weiter steht die Synagoge. Auf den Häuserwänden der Parallelstraße Viale XXI Aprile finden sich weitere ausländerfeindliche Parolen neben Liebesschwüren. Dahinter liegt der große Komplex von Sozialbauten, 1 500 Wohneinheiten, seinerzeit gebaut von der Firma Federici und subventioniert durch die Regierung Mussolini.

1977 wurde hier der Film „Ein besonderer Tag“ von Ettore Scola gedreht, die Geschichte eines von Faschisten verfolgten Homosexuellen (Marcello Mastroianni) und einer Hausfrau (Sophia Loren), die mit einem engstirnigen Parteibonzen verheiratet ist. Die beiden begegnen sich auf der Terrasse des menschenleeren Wohnblocks – die anderen Hausbewohner sind alle bei einer Kundgebung des Duce – am Tag, bevor der „pervers Veranlagte“ abgeholt und in die Verbannung geschickt wird. Eine private menschliche Tragödie, dargestellt ohne jede Rührseligkeit, künstlerisch ein großer Wurf mit einer klaren Anklage: Die Banalität des Faschismus erstickt jedes Gefühl.

In unserer heutigen Gesellschaft hingegen, die Zygmunt Bauman in seinen Reflexionen über die „Flüchtige Moderne“ als „fließend“ bezeichnet, die jedoch unablässig ihre eigenen starren Ketten reproduziert, fließen die Tränen bereits in Strömen, wenn auch vorzugsweise im Fernsehen. Die Linke vergießt Tränen auf ihren Parteitagen, und es weinen die italienischen Mütter, die ihre Töchter verhökern würden, nur um sie einen kurzen Augenblick im Fernsehen zu sehen.

Opfer und Henker weinen auf verschiedenen, manchmal auch auf denselben Kanälen. Von echter Pietà hingegen ist wenig zu merken. Indessen wird die Politisierung des Mittelstands bereits immer deutlicher, der um seine Privilegien weiß und fest entschlossen ist, sie zu verteidigen. Der „Extremismus der Mitte“ begünstigt mit seiner plumpen demagogischen Sprache den Konsens für einen Caudillo vom Schlage Silvio Berlusconis. Glaubt man einer Umfrage der Tageszeitung La Repubblica, würde Berlusconi, wenn die Italiener heute zur Wahl gingen, haushoch gewinnen, und zwar allein, ohne sein Wahlbündnis aus Mitte-rechts-Parteien.

„Die höheren Stände in Italien“, schrieb um 1820 der große Dichter Giacomo Leopardi, „sind zynischer als ihresgleichen in anderen Nationen, und der italienische Pöbel ist der zynischste Pöbel auf der ganzen Welt.“ Die italienische Nation vereint nach Leopardi „angeborene Lebhaftigkeit mit erworbener Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen und mit der Missachtung der Mitmenschen, die vom Fehlen einer Gesellschaft herrührt“.

Wie Recht du hattest, lieber Dichter, denke ich, während ich in Richtung Bahnhof Tiburtina gehe. Dabei konntest du noch gar nicht ahnen, welch abgeschmackte Verbindung der gemeinste Zynismus mit dem „Gutmenschentum“ eingehen würde, mit den wohlfeilen Heiligsprechungen und den flüchtigen, aber in die Welt hinausposaunten Liebeserklärungen. Eine Verbindung, wie sie jüngst auch in der Geschichte mit den Vorhängeschlössern und den Herzen sichtbar wurde.

Seit einiger Zeit nämlich ereignet sich in Roms Stadtbezirk XX, dem einzigen, in dem ein Mitte-rechts-Bündnis regiert, etwas Merkwürdiges: Um die Laternenmasten der nördlichen Tiberbrücke Ponte Milvio (der ältesten Brücke Roms, 207 v. Chr. erstmals erwähnt) werden Ketten gelegt und mit Vorhängeschlössern festgemacht. Indirekt ist dafür Federico Moccia verantwortlich, Autor von überaus erfolgreichen Romanen wie „Ich steh auf dich“, die von Jugendlichen verschlungen werden (und auch auf Deutsch erschienen sind, wie ich höre). Seine Protagonisten schwören sich ewige Liebe, indem sie Ketten um Laternenmasten legen, diese mit Vorhängeschlössern befestigen und am Ende den Schlüssel in den Tiber werfen. Eine Idee, die unter den ganz jungen Römern prompt Furore machte.

Schon nach wenigen Monaten war die Gefahr entstanden, dass die alten Laternenmasten unter der Last der Ketten Schaden nehmen könnten. Als Ketten samt Schlössern dann auch an den Toren des frisch renovierten Torbogens auftauchten sowie an den Absperrketten, die den Autoverkehr von der Brücke fernhalten, beschloss ein Stadtrat der linksliberalen Margherita-Partei, gegen den neuen Brauch zu protestieren. Doch damit löste er einen Sturm der Entrüstung bei den Rechten aus: „Ketten und Schlösser sind Symbole der Liebe!“ Das Ölbaum-Bündnis schlug vor, einen eigenen Ort für die Liebesketten einzurichten, aber damit war nicht durchzukommen.

Der Oberbürgermeister persönlich musste eingreifen, Walter Veltroni, Schriftsteller und ein Mann mit Herz, der sich auf Kongressen der Weltbank vom Schicksal Afrikas rühren lässt. Und so endete die Partie Vorhängeschloss gegen Laternenmast mit eins zu null für die Vorhängeschlösser, gefolgt von einem spannenden Nachspiel: Ein paar Ketten und Vorhängeschlösser wurden gestohlen, von Zigeunern, die freilich sofort gefasst wurden – und gleich hinter Schloss und Riegel wanderten.

Im Stadtviertel Italia, zwischen Via Nomentana und Via Tiburtina, liegt das Areal mit Sozialwohnungen, die in den Zwanzigerjahren für Arbeiter errichtet wurden, eine Enklave, in der früher geschlossen PCI gewählt wurde. Auch heute noch haben im Stadtbezirk III die Linksparteien die Mehrheit. In dieser Wohnanlage, die die Bombardierung durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg unversehrt überstanden hat, kann man noch Geschichten von Juden hören, die während des Faschismus von Römern versteckt wurden.

Hier erzählt man sich auch von einem alten Kommunisten, der jeden Tag zwei Exemplare der Unità kaufte: Eine Zeitung ließ er in der Bar, die andere nahm er mit nach Hause, wo seine Tochter sie ihm am Abend vorlesen musste, weil er weder schreiben noch lesen konnte. Doch selbst hier verdrängen die Slogans und Symbole der extremen Rechten die Verlautbarungen der Stadtverwaltung. Mit ihren Aufrufen („Schließ dich unserem Kampf an!“ ) versuchen sie, die Obdach- oder Arbeitslosen und andere sozial Benachteiligte für ihre Sache zu gewinnen.

Während auf nationaler Ebene die Linke mit knapper Mehrheit an der Regierung ist, hat die Rechte auf der Straße freie Hand bei ihrem Versuch, die Wut und die Revolte der Jugendlichen auf etwas „Konkretes“ zu lenken, ihnen Identifikation und Projekte anzubieten. Auf der Linken haben wir das gebildete Individuum mit seinem „Gutmenschentum“ und seiner Abneigung gegen die rhetorische Polarisierung in Freund und Feind. Auf der Rechten aber wächst der unerwartete Einfluss auf die frustrierten Massen auch in Stadtvierteln, in die sie während der 1970er-Jahre niemals hätte vordringen können.

Vor meiner Haustür – ich wohne seit ein paar Jahren hier – hängt ein Plakat, das eine Amnestie für die 1970er-Jahre fordert und zur Demonstration aufruft. Nicht weit davon entfernt ist der Sitz der legendären Sektion Italia, einst kämpferische Hochburg der Kommunistischen Partei.

Heute residiert hier die Rifondazione Comunista. Aber das Plakat stammt nicht von den erneuerten Kommunisten. Und obwohl es vom Layout her an Jugend- und Sozialzentren erinnert, stammt es auch nicht von Action, einer Gruppe von Globalisierungsgegnern, die ein paar Straßenzüge weiter im Süden Häuser besetzt hat. Erst recht ist es kein Produkt der Democratici di Sinistra, den Erben eben jener Politik der Stärke, die in den 1970er-Jahren die Notstandsgesetze und die Hochsicherheitsgefängnisse durchgesetzt hat.

Das Plakat stammt von der Forza Nuova, einer der aktivsten Splittergruppen der extremen Rechten. Sie sind die Einzigen, die eine solche Amnestie fordern, obwohl nur wenige Faschisten die italienischen Gefängnisse von innen gesehen haben und heute kaum mehr als ein Dutzend von ihnen einsitzen.

Von den ursprünglich etwa 6 000 politischen Gefangenen sind heute noch ein paar hundert in Haft, zum Teil mit dem Status von Freigängern. Fast alle sind sie ehemalige Mitglieder der Brigate Rosse, die wegen Aktionen im bewaffneten Kampf der 1970er- und 1980er-Jahre zu Zuchthaus oder langen Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Sie alle sind für immer ihrer bürgerlichen Rechte beraubt, auch wenn sie ihre Strafe verbüßt haben (wer Anfang der 1980er-Jahre ins Gefängnis kam, hat bald 30 Jahre abgesessen).

Für die italienische Linke, die unfähig ist, sich mit diesem historischen Phänomen auseinanderzusetzen und es zu verarbeiten, handelt es sich um „Terroristen“. Wie bequem und pervers ein solcher Begriff des Terroristen doch ist; wie glänzend geeignet, um jenseits von Motivationen und Zielvorstellungen die Massaker der Rechten und die Guerrilla der Brigadisten in einen Topf zu werfen und zu dämonisieren. Ein Begriff, der sowohl auf palästinensische wie irakische Widerstandskämpfer angewandt wurde, bis hin zu dem Jungen aus dem Stadtteilzentrum, der Steine wirft oder die amerikanische Flagge verbrennt. Wenn das so weitergeht, wird am Ende auch noch das Recht auf Widerstand gegen Repression aus dem Spektrum der sozial zulässigen Verhaltensweisen ausgegrenzt sein.

Zu Hause angekommen, lese ich den (nebenstehenden) Artikel von Sophie Wahnich in der Maiausgabe von Le Monde diplomatique. Er spricht von der Verrohung des Rechts und dem nicht enden wollenden Rachebedürfnis an den „Irregeleiteten“ der 1970er-Jahre. In diesem Punkt ist Le Monde diplomatique der italienischen Linken meilenweit voraus.

Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner © Le Monde diplomatique, Berlin Geraldina Colotti ist zusammen mit Guglielmo Ragozzi verantwortlich für die italienische Ausgabe von Le Monde diplomatique, die der Tageszeitung Il manifesto beiliegt.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2007, von Geraldina Colotti