Lassalles Hammer
von Bruno Preisendörfer
Bei mir steht viel Zukunft im Bücherregal, Zukunft von gestern. Ich hole ein Buch mit ungeschickt gemachtem Schwarz-Weiß-Cover heraus. Auf dem Deckel ist ein leicht ungepflegter und etwas molliger Typ mit Lederjacke über kariertem Arbeiterhemd zu sehen. An der erhobenen Hand ist der Zeigefinger ausgestreckt. Mit den anderen Fingern hält er einen Stift, so sieht der Zeigefinger nicht ganz so belehrend aus. Der Mund ist geöffnet, denn der Typ erklärt uns was: „Ein wichtiges machtpolitisches Faktum darf nicht übergangen werden, nämlich dass umweltpolitische Themen zwar mittlerweile Wahlentscheidungen beeinflussen können, bis heute aber noch nie den Ausschlag bei Wahlen gegeben haben.“
Als der Typ das 1989 schrieb, hatte er seine große Zukunft, die inzwischen auch schon wieder vergangen ist, noch vor sich: Von 1998 bis 2005 war er Außenminister und Vizekanzler der ersten rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder. Als er das 1989 schrieb, hatte er aber auch schon eine große Vergangenheit hinter sich: Von Dezember 1985 bis Februar 1987 war er der erste grüne Umweltminister in Hessen unter Holger Börner. Seine Turnschuhe wurden berühmt. Später wurde sein Armani-Anzug berüchtigt: „Damit Fischer ’nen Armani hat, macht er den Sozialstaat platt.“ So stand es auf Protestplakaten, die bei einem Wahlkampfauftritt Fischers 2004 in Aachen in die Luft gehalten wurden. Wie Fischers Armani mit dem deutschen Sozialstaat zusammenhängt, dürfte bei näherer Untersuchung auch den Plakatschwenkern nicht klar gewesen sein. Aber darauf kommt es nicht an.
Viel wichtiger ist, wie sich eine Bewegung in eine Partei verwandelt und wie die Partei von Persönlichkeiten repräsentiert wird. Der erste Vorgang hat mit Organisieren zu tun, und wie jede Organisation mit Bürokratie. Der zweite Vorgang hat mit Führen zu tun, und wie jede Führung wiederum mit Organisation und deshalb auch wiederum mit Bürokratie. Beide Vorgänge zusammen bewirken unweigerlich das Herausbilden einer Oligarchie. Joschka Fischer marschierte in Turnschuhen in die Institutionen, und wenn er im Armani wieder herausspazierte, ist ihm das persönlich nicht vorzuwerfen – schon deshalb nicht, weil es bloß die lebensgeschichtliche Widerspiegelung der parteigeschichtlichen Wandlung der Grünen ist: Von der alternativen Bewegungspartei zur konventionellen Volkspartei.
Ich stelle den schwarz-weißen Joschka-Band, er heißt übrigens „Der Umbau der Industriegesellschaft“, ins Regal zurück, neben ein Buch mit dem Titel „Die Grünen – Letzte Wahl?“. Es ist noch älter als Joschkas „Umbau der Industriegesellschaft“ und behandelt den Umbau der Grünen. Der Soziologe Claus Offe schreibt in diesem Sammelband: „Meine These ist, dass die Grünen sich gegenwärtig“, also 1986, „in einem Entwicklungsdilemma befinden, in dem sie weder ‚einfach so bleiben können, wie sie sind‘, noch es sich ohne eklatanten Identitätsbruch leisten können, ‚so zu werden wie eine normale Partei‘. Nur das erfolgreiche Management dieses Dilemmas kann Kontinuität und weiteres Wachstum sicherstellen. Vielleicht ist es nicht allzu riskant, für diese Übergangssituation die individualpsychologische Metapher der ‚Adoleszenzkrise‘ heranzuziehen.“
Die Metapher ist lange nicht so riskant wie die Wirklichkeit. Der junge Mensch wird erwachsen, indem er den älteren ähnlich wird. Das ist für junge Menschen frustrierend, aber nur so lange, bis sie alt genug sind, es nicht mehr zu merken. Bei Parteien ist es genauso. Der erste grüne Minister trug Turnschuhe im Parlament, der erste grüne Ministerpräsident ist Lehrer. Das ist die Entsprechung zur parteigeschichtlichen Entwicklung der Grünen.
Den Grünen passiert zu Beginn des 21. Jahrhunderts etwas ganz Ähnliches wie den Sozialdemokraten zu Beginn des 20. Auch diese Geschichte steht in meinem Bücherregal. 1910 interpretierte der Politologe Robert Michels die Tatsache, dass sich die revolutionäre Sozialdemokratie in eine bürokratische Parteiorganisation verwandelt hatte, als „ganz besonders triftigen Beleg für das Vorhandensein immanenter oligarchischer Züge in jeder menschlichen Zweckorganisation“. In jeder! Entweder wird der Zweck aus den Augen verloren und die Bewegung wird selbstzweckhaft und sektiererisch; oder die Bewegung verläuft und löst sich auf; oder die Bewegung verfestigt sich zur Zweckorganisation. Dafür benötigt sie eine Führungselite, und die Führungselite braucht eine Bürokratie. Die Bürokratie hält den Führungspersönlichkeiten den Rücken frei, damit sie bei Parteivolk und Publikum Gesicht zeigen können. Charisma ist keine Charaktereigenschaft wie etwa die persönliche „Ausstrahlung“, sondern eine medial gemanagte soziale Projektion des Publikums. Um es in den Worten Max Webers zu sagen: „Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung gesicherte […] Anerkennung durch die Beherrschten.“
Robert Michels war übrigens stark von Weber beeinflusst. Der „oligarchische Zug der Parteiorganisation“, schreibt Michels, entspringt „zweifellos einer praktischen Notwendigkeit. Er ist das unvermeidliche Produkt des Prinzips der Organisation selbst.“ Daraus folgt: „Organisation ist die Mutter der Herrschaft des Gewählten über die Wählenden, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden.“ Darüber tröstet der Charismatiker hinweg. Er zeigt Gesicht, vor allem das seine, nicht unbedingt das der Partei, und verschafft den Leuten, von der die Partei gewählt werden will, die Gefühle, die beim Zweckorganisieren auf lange Sicht zu kurz kommen. Wegen dieser Zustimmungsbeschaffung durch Gefühle verliert der Charismatiker sein Gesicht auch eher wegen einer gefälschten Doktorarbeit als wegen einer falschen Politik.
Die große Persönlichkeit schwingt für den kleinen Mann den Hammer. So erklärt es Ferdinand Lassalle, selbst eine solche „große Persönlichkeit“ in der Geschichte der Arbeiterbewegung: „Wir müssen unser aller Willen in einen einzigen Hammer zusammenschmieden und diesen Hammer in die Hände eines Mannes legen, zu dessen Intelligenz, Charakter und guten Willen wir das nötige Zutrauen haben, damit er aufschlagen könne mit diesem Hammer.“ Bei einem Rotationsprinzip, wie es die Grünen beim Erwachsenwerden quälte, schlägt der „Wille aller“ nicht mit einem großen Hammer, sondern mit lauter kleinen Hämmerchen. Demokratische Parteien sind keine totalitären Organisationen. Und so bleibt nur der schlingernde Weg durch die Mitte zwischen pluralistischer Zersplitterung auf der einen und autokratischem Führertum auf der anderen Seite. Dieser Weg ist mit den besten Vorsätzen, auch basisdemokratischen, gepflastert und führt zur Oligarchie.
Ein wenig betreten stelle ich das Buch von Michels ins Regal zurück. Zu der Zeit, als sich Joschka Fischer über den Umbau der Industriegesellschaft und Claus Offe über den Umbau der Grünen sorgte, kursierte die Vorstellung, eine Art ökologische Verelendung werde zu einer grünen Zukunft führen, ähnlich wie einst die Marxisten geglaubt hatten, proletarische Verelendung münde in eine rote. In bester apokalyptischer Laune setzte man darauf, die atomare Unfallkette würde über kurz oder lang die Ökorepublik (oder gar eine Ökodiktatur) unausweichlich machen. Damals lag Tschernobyl noch nicht lange zurück. Heute liegt Fukushima noch nicht lange zurück, und die Ökorepublik mit Landeshauptstadt Stuttgart geht in Probebetrieb.
Daran wird auch Jutta Ditfurth, die Jeanne d’Arc der frühen Jahre, nichts ändern. In ihrem gegenwärtigen Buch schreibt sie der grünen Basisvergangenheit hinterher und warnt vor dem Öko-Establishment der Zukunft. Joschka könnte Jutta vorwerfen, sie sei nie erwachsen, und Jutta dem Joschka, er sei ein alter Sack geworden. Irgendwie haben sie beide recht, der eine mit viel, die andere mit wenig Erfolg.
In welche Richtung und mit welchem Erfolg hätte sich wohl eine tragisch-charismatische Persönlichkeit wie Petra Kelly entwickelt, wäre sie nicht, ganz ähnlich wie der im Duell um eine Frau getötete Lassalle, einem privaten Drama zum Opfer gefallen? Es hört sich vielleicht zynisch an, ist aber bloß beschreibend gemeint: Die Heroen und Heroinen der Frühzeit sind im Symbolmanagement einer Partei über dreißig besonders lebendig, wenn sie in Wirklichkeit schon lange tot sind. An diesen von den Verfehlungen des Pragmatismus nicht beschmutzten Denkmälern können die gewöhnlichen Parteigänger die Kränze ihrer Sehnsucht nach den Sonnenblumen der Frühzeit niederlegen, wenn sie vom alltäglichen Nahkampf der Macht in der grünen Oligarchie frustriert sind. Doch ist man gleichzeitig froh, dass keines der Denkmäler vom Sockel steigen kann, um wieder nach dem Hammer des gemeinsamen Willens zu greifen.
Bruno Preisendörfer ist Schriftsteller und Herausgeber von www.fackelkopf.de. Er lebt in Berlin und im Barnim. © Le Monde diplomatique, Berlin