Irdische Metaphysik
von Mathias Greffrath
Die Ursache des Klimawandels ist unser „mangelnder Glaube an Gott“. Sagt Kardinal Meisner. Die Theorie ist originell; eine andere besagt, dass die Menschen sich in Krisenzeiten gern in Irrationalismen flüchten. Und so haben denn Astrologen, Kristallschamanen, Wahrsager und Gurus Konjunktur.
Ebenso wie der Feuilleton-Katholizismus: Der Spiegel attackierte jüngst Wissenschaftler und Philosophen, die gegen die Restauration der Religion auf dem ungeschmälerten Welterklärungsmonopol der Wissenschaft bestehen. Gehirnforscher zerstörten den „Raum des Geheimnisses, als wäre unsere Zeit nicht schon an sich ausgenüchtert genug“, Biologen wie Richard Dawkins „machen etwas kaputt“, raubten uns die metaphysische Verankerung des Menschen, ohne die, so der Papst und Bischof Huber, die Menschheit fatal enden werde.
Das metaphysische Gestammele liegt schräg neben einer anspruchsvollen Wahrheit: Will die Weltgesellschaft die Probleme des Lebens und Überlebens lösen, kann dies mit Wissen und Wollen der Menschen geschehen – und mit einer gefühlten Gewissheit, dass wir Teil eines Ganzen sind, das lange vor uns angefangen hat und mit uns nicht enden soll. Wir brauchen „so etwas wie eine neue Metaphysik“, schreibt der englische Schriftsteller Ian McEwan nach einer Expedition zu abbrechenden Eisbergen und degenerierenden Eisbären. Die Religionen könnten das nicht sein. „Sie mögen dem einzelnen Menschen Seelenfrieden geben. Aber sie können uns nicht die Welt erklären.“ Und gegen die Restaurationstheologie, die dem wissenschaftlichen Denken die Kraft zur Begründung eines Ethos abspricht, setzt er das Credo der Neuzeit: „Es gehört zu den Faszinosa unserer Zeit, intellektuell wie emotional, dass wir in unserer Wissenschaft so etwas wie eine neue Metaphysik haben. Freude, Ehrfurcht, Mitleid, ozeanische Gefühle, all das gibt es auch ohne Religion … Wir haben eine Schöpfungsgeschichte, die unendlich viel komplexer ist als die christliche, die islamische, und die überdies noch den Vorzug hat, wahr zu sein.“
Wenn die postaufklärerischen Alt- und Neureligiösen politisieren, garnieren sie ihre demütigen Übungen gern mit fortschrittsskeptischen, theologie- wie wissenschaftsarmen Paraphrasen der „Dialektik der Aufklärung“, raunen von Einschränkung, Wende zum Weniger. Das macht nicht froh. Und ein „Fortschritt“ der alten Kultur – dieses liberalen Automaten aus Kapital, fossiler Energie, Technik und Konsumismus – ist allerdings nicht einmal mehr denkbar. Der Fortschritt in eine neue schon.
„Die Menschen“, so schon Nietzsches schöne Parole – „können mit Bewußtsein beschließen, sich zu einer neuen Kultur fortzuentwickeln: … sie können bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten.“ Dazu müsse zunächst einmal ein „alle bisherigen Grade übersteigende Kenntnis der Bedingungen der Kultur, als wissenschaftlicher Maßstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der großen Geister des nächsten Jahrhunderts.“
Folgten wir diesem Programm, ginge es zunächst um die Befreiung der Wissenschaft. Denn frei ist sie immer noch nicht. In langen Untersuchungsreihen haben Klimaforscher die von der globalen Wachstumskultur erzeugten Bedrohungen nachgewiesen, nur um zu erleben, dass ihre Erkenntnisse in den Verhandlungen des Weltklimarats (IPCC) von Politikern rundgeschliffen werden. „Eigentlich sollte man sich nicht mit Politikern darüber streiten, was eine wissenschaftliche Aussage ist“, sagt Hans-Jürgen Schellnhuber, der Chef des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung. Er und andere denken über neue Institutionen nach, die der wissenschaftlichen Vernunft eine stärkere Stimme im Klimadiskurs geben.
Das wäre zu wünschen, aber es ist nicht mehr so einfach wie in den Fünfzigerjahren, als die internationale Crème de la Crème der Physiker vor den apokalyptischen Gefahren eines Atomkriegs warnte. Der Klimawandel hat nicht die bedrohliche Plötzlichkeit der Bombe. Und die Verschrottung nuklearer Arsenale ist ein geradezu lächerlich einfaches Projekt gegenüber der zivilen Umrüstung von fossil auf solar – der „Neuerfindung der Weltgesellschaft“ (Schellnhuber) in einem Zeitfenster von wenigen Jahrzehnten.
Für die Industrienationen des Westens heißt das: radikaler Umbau der Städte, Aufbau regionaler Energieversorgung, neue Ausdifferenzierung der Landwirtschaft. Dazu eine Kulturrevolution unserer Ernährungs-, Mobilitäts-, Wohn- und Arbeitsgewohnheiten. Alles in allem: ein gigantisches „ökumenisches Ziel“, eine faszinierende Aufgabe für die Weltgesellschaft und ihre Wissenschaftler. Aber Derartiges laut zu denken – knurrt grimmig der Altkantianer Helmut Schmidt –, wagt kein parlamentarischer Politiker: „Das ist einer der eingeborenen Fehler der Demokratie.“
Nicht Wissenschaft und Technik also bedrohen den Fortschritt, sondern die unterkomplexen und verharzten politischen und wirtschaftlichen Institutionen unserer Gesellschaften. Die technischen und intellektuellen Werkzeuge – früher hätte man gesagt: die objektiven Bedingungen – sind vorhanden: Klimaforschung und Biologie sind auf dem Weg zu einer „Oikonomie“ der globalen Biosphäre. Die Gaia-Hypothese, vor ein paar Jahrzehnten noch von ein paar Esoterikern gekidnappt, wird zur herrschenden wissenschaftlichen Meinung: Die Erde hat ein Bewusstsein. In uns. Im Klima erkennen wir nicht die Natur als Rohstoff, sondern uns als Akteur.
Wir haben die Erde mit einem technischen und kulturellen Nervensystem überzogen, wir sehen die Rauchschwaden, die Wärmeströme der Ozeane, die Wanderungen der Bienenvölker. Wir sehen, wie wir mit der Erde umgehen. Aufklärung heißt: sichtbar machen. In der Renaissance warfen Forscher mit Navigationsinstrumenten und Fernrohren unser Weltbild um, mit Mikroskopen und Skalpellen unser Menschenbild. Die Computer der Biosphärenforscher sind die ersten Boten einer „zweiten Renaissance“, aber die Wissenschaftler agieren noch in den alten politischen und ökonomischen Strukturen.
Die Politik und die alten Bewusstseinsverwaltungsmächte sind nicht auf der Höhe der Zeit – das ist die Bedrohung, hier wird das Potenzial der Gattung verspielt. Und das jedes einzelnen Menschen auf Erden. Denn auch über das „Wesen“ des Menschen wird in unserer Epoche etwas unabweisbar, das wir vor Kurzem noch nicht sehen konnten. Mit den Aufnahmen aus dem Inneren unserer Schädel versprechen uns die Gehirnforscher neue Mittel gegen Alzheimer, Parkinson, Schizophrenie und allerlei andere Beschwernisse. Revolutionär aber ist die „reine Erkenntnis“, die sich mit den Bildern der Kernspintomografen aufdrängt: Unser Charakter, unsere Intelligenz, unsere Eigenarten und Absonderlichkeiten, unsere Stärken und unsere Liebesfähigkeit sind fast ausschließlich durch Erfahrungen bedingt, die uns auf einer unspezifischen Neuronengrundlage zu Menschen mit unterschiedlichen Gehirnen, Emotionen, Charakteren formt. Was wir sind, das ist eine „absolut untrennbare“ Mischung aus unserer Natur, unseren kulturellen Prägungen, unseren individuellen Erfahrungen. Und die Folgerung daraus lautet: Jedes Individuum auf Erden hat mehr Potenzial, als er oder sie ausschöpfen kann. Meine Grenze – das sind die anderen und die Art, wie ich mit ihnen zusammenlebe.
Die irdische Metaphysik, deren Botschaften aus den Satellitenfotos und den Tomografen kommen, kann ehrfürchtig machen. Sie ist ungleich fordernder als eine transzendente: Wir können das Klima beeinflussen, und wir machen einander. Wir gestalten die Zukunft, durch Handlungen und Unterlassungen. Die „Kirche“ dieser Metaphysik sind die Institutionen der Wissenschaft. Sie befreit uns von allem Fatalismus. Und von allen Ausreden – darin ist sie von geradezu alttestamentarischer Härte. Sie nennt die Verursacher (die Tätigkeiten, die Substanzen und ihre Anwender) unserer Probleme. Sie protokolliert die Mechanismen unserer Verdummung, sie durchstößt den perlmuttenen Schimmer unserer frommen Ausflüchte, sie kann uns die Folgen unseres Handelns abschätzen lassen.
Die Erkenntnisse der Geoökonomie, wenn sie frei von partikularen Interessen betrieben wird, stellen uns an den Gabelungen der Pfade in die Zukunft immer wieder vor die Wahl: schrankenloses Wachstum, denaturierte Erde, rationiertes Wasser, bewehrte Wohlstandsgrenzen, Hunger ohne Ende – oder eine Beschränkung unserer Zahl, eine nachhaltige Lebensweise, ein Ausbau der Bildungseinrichtungen, ein verändertes Verhältnis zur Welt der Tiere und Pflanzen. Und die Erkenntnisse der Menschenwissenschaft geben uns die Wahl zwischen der Optimierung von Individuen durch Leistungs- und Stimmungsdrogen, Organzüchtung und biochemische Anpassung oder einer Veränderung der Verhältnisse, in denen sie leben und arbeiten.
In einer „Wissensgesellschaft“, die mehr ist als ein Euphemismus für intelligentere Rationalisierung, dynamischere Produktentwicklung und schnelleren Umschlag von Kapital sind Universitäten die Orte, an denen solche Optionen untersucht und diskutiert werden. Orte, an denen – wie in Galileis Laboratorium – alle Hypothesen überprüft werden. Demokratische Wissensgesellschaften geben der Wissenschaft die Autonomie zurück, die sie durch ihre Koppelung an militärische oder ökonomische Interessen, durch schleichende, von Unterfinanzierung beförderte Privatisierung, durch die reflexionsfrei gewordenen Modul-Studiengänge weitgehend verloren hat. Nur eine autonome Wissenschaft kann die Grundlagen für wirkliche politische Entscheidungen liefern. Zur Wissensgesellschaft müssen wir also erst noch werden, ihre sozialen und politischen Strukturen erst noch erkämpft werden. Unter diesem Postulat lohnt es sich immer noch, Brechts „Galileo“ in die Machtstrukturen unserer Tage zu übersetzen – und, nebenbei gesagt: Vielleicht ist der Kampf um solche Strukturen sinnvoller, nachhaltiger und erfolgbringender als das Demonstrieren vor Zäunen.
Zukunftsverliebte Universitäten waren die Brutstätten der Renaissance und der Aufklärung. Heute wären sie die Partner von Parlamenten, die nicht die Folgen eines blinden Fortschritts verwalten, sondern in denen Fortschritt reflektiert, geplant – und flexibel korrigiert wird. Es hat Ansätze zu einer solchen Kooperation von Wissenschaft und Politik gegeben, in einigen der Enquetekommissionen des Bundestags, in den Diskussionen der Siebzigerjahre über Technikfolgenabschätzung, die von den Freihändlern der Märkte und des Wissens als Angriff auf die Freiheit der Wissenschaft beiseitegefegt wurde, zugunsten der großen Freiheit, die da heißt: Alternativlosigkeit.
Parlamente der Wissensgesellschaft dürften keinen Gesetzentwurf diskutieren, unter dem steht: Alternativen: keine. Und das europäische Credo heißt nicht, wie der Papst meint, „im Christentum ist Aufklärung Religion geworden“, sondern: Aufklärung ist das wirklich gewordene, irdische, legitime Erbe der Religionen.
© Le Monde diplomatique, Berlin