Verlorener Sohn und Vater Staat
Ein Vorschlag, politische Gewalt psychoanalytisch zu deuten von Hartmut Rosa
In der auf allen Medienkanälen und mit unvermuteter Heftigkeit geführten Debatte um die mögliche Begnadigung des RAF-Terroristen Christian Klar ging es – daran kann kein Zweifel bestehen – um mehr und um etwas anderes als das, was vordergründig ausgesprochen und verhandelt wurde. Dass sich die Produzenten und Konsumenten von taz bis FAZ und von Pro7 bis Arte, dass sich die Grünen wie die CSU und darüber hinaus Schüler ebenso wie Pensionäre urplötzlich für nichts so sehr interessieren sollten wie für die Frage, ob ein vor mehr als zwanzig Jahren verurteilter Gewalttäter ein Jahr früher oder später aus der Haft entlassen wird, erscheint höchst unplausibel. Darum kann es gewiss nicht gegangen sein.
Der Streit drehte sich auch nicht wirklich um die Bewertung und Einordnung des historischen Phänomens Rote Armee Fraktion – es gab niemanden, der diese verirrten und radikalisierten Extremisten gerechtfertigt oder verteidigt hätte, und kaum jemanden, der nicht eingeräumt hätte, dass der Rechtsstaat in seiner Reaktion auf die extremistische Herausforderung damals seine Grenzen überschritt.
So überwiegt auch in der jetzigen Atempause, die sich die öffentliche Diskussion um die RAF vor den Jahrestagen des „Heißen Herbstes“ von 1977 gerade gönnt, das Gefühl der Verwirrung und eine gewisse Ratlosigkeit: Worüber wird eigentlich gestritten? Was steht auf dem Spiel? Wieso haben so viele Menschen den Eindruck, dieses inzwischen nur noch historische Phänomen gehe sie ganz unmittelbar selbst etwas an?
Der Verdacht liegt nahe, dass hier sozialpsychologische Faktoren zum Tragen kommen, dass Ängste und Befürchtungen eine Rolle spielen, die den Streitenden selbst vielleicht gar nicht bewusst sind, dass mithin also in der Tat ihr Selbst-Verhältnis auf dem Spiel seht. Eine Spur zur Aufdeckung jener Faktoren zeigt sich vielleicht, wenn wir uns in Erinnerung rufen, was genau es denn war, das bei den zahllosen Rundfunk- und Fernsehdebatten die Gemüter in Wallung brachte und echte Empörung und Betroffenheit auslöste. Hier offenbart sich rasch und unzweifelhaft, dass es die Anwendung genuiner, physischer Gewalt war, auf die beide Seiten empfindlich und heftig reagierten.
Führen wir uns eine der zahllosen Diskussionsrunden vor Augen. Auf der einen Seite sitzen da die Becksteins und Kochs, Vertreter also eines konservativen bis autoritären Weltbildes, dessen idealtypische Repräsentanten am ehesten in der bayerischen CSU zu finden sein dürften. Ihnen stehen die Ströbeles und Peymanns gegenüber, die für eine linksalternative Gesinnung stehen, wie sie vor allem den eher fundamentalistischen Flügel der Grünen kennzeichnet. Die Rechtskonservativen zeigen sich ehrlich erschüttert über die Tatsache, dass Klar und seine Mittäter wehrlose Menschen ermordeten, dass sie Repräsentanten des Staates und – aus RAF-Sicht – des „Systems“, aber auch unschuldige Zivilisten einfach umbrachten. Die Folgen auch für die Hinterbliebenen, die Frauen und Kinder, für die Verletzten scheinen ihnen so gravierend, dass an Begnadigung oder Vergebung nicht zu denken ist. Für sie kann jemand wie Klar niemals wieder ein „normaler Mensch“ sein.
Dahinter scheint sich auf den ersten Blick eine klare Position zu zeigen: Die Rechtskonservativen lehnen die Anwendung von Gewalt, insbesondere die Tötung von Menschen zur Durchsetzung politischer Ziele radikal und bedingungslos ab. Schon auf den zweiten Blick offenbart sich aber, dass das nicht stimmt. Denn just diejenigen Protagonisten, deren Stimme vor Empörung und Abscheu vibriert, wenn sie an die unschuldigen Hinterbliebenen und Opfer der Terroranschläge erinnern, sind in der Regel die entschiedensten Befürworter von Militäreinsätzen im Kosovo, im Irak oder in Afghanistan, wo der Umfang der „Kollateralschäden“ um ein Vielfaches höher ist und wo sich niemand um die Witwen und Waisen, die Verstümmelten und Verkrüppelten kümmert: keine Ärzte, keine Versicherungen, keine staatlichen Hilfen, keine Politiker.
Mehr noch: je rechtskonservativer die Einstellung, umso größer die Bereitschaft, den finalen Rettungsschuss, harte Polizeieinsätze oder sogar die Todesstrafe zu befürworten und die Folter in Ausnahmefällen in Erwägung zu ziehen. Der gewaltsame Tod Benno Ohnesorgs oder das Attentat auf Rudi Dutschke lösen bei den Becksteins und Kochs vielleicht Bedauern, aber niemals dieselbe Betroffenheit oder gar Empörung aus. Es ist also ganz offensichtlich nicht die Frage der Bejahung oder Verneinung von Gewalt, auch als Mittel in der politischen Auseinandersetzung, welche die Haltung der Rechtskonservativen prägt.
Und wie verhält es sich damit bei den Linksalternativen? Die Frage lässt sich rasch und eindeutig beantworten: Genauso, nur spiegelverkehrt! Die „Baader-Meinhof-Bande“ bezog ihre Motivationsenergie in entscheidendem Maße aus der tiefen moralischen Empörung und Abscheu über hunderttausende unschuldiger und wehrloser Opfer, über die „Kollateralschäden“ des Vietnamkriegs, für die die Bundesrepublik durchaus eine moralische und politische Mitverantwortung trug. Hinzu kam die Polizeigewalt gegen die protestierende Linke, etwa anlässlich des Schahbesuchs, deren Unverhältnismäßigkeit heute selbst von bürgerlicher Seite eingeräumt wird. Die RAF-Sympathisanten bezogen ihrerseits weitere Aktivierungsenergie auch und gerade aus der Härte der Staatsgewalt, die sich in Stammheim und in der Isolationshaft materialisierte.
Nur einen geringen Teil der Linksalternativen machte das zu Pazifisten, für die anderen galt und gilt: je linksalternativer, umso eher ist man bereit, die Gewalt von Steinewerfern und „Widerstandskämpfern“ zu akzeptieren. Tatsächlich bildete, wie Klaus Theweleit in seinem Buch „Ghosts“ (Frankfurt am Main, Stroemfeld, 1998) bemerkt, für die linke Generation der 1960er-Jahre ein entschiedener Pazifismus, verstanden als scharfer Antimilitarismus, nicht nur keinen Widerspruch zur Unterstützung gewaltsamer (antikolonialer) Freiheitskämpfe, sondern geradezu deren inneres Korrelat. Paradoxerweise lässt sich also sagen, sowohl Linke als auch Rechte beziehen eine so starke Motivation aus der Ablehnung von Gewalt, dass sie ihrerseits dazu bereit werden, Gewalt anzuwenden.
Was die beiden Seiten in der RAF-Debatte also trennt, ist mitnichten ihr Verhältnis zur Gewalt, und es ist auch nicht unbedingt die kognitive Einstellung gegenüber der Gewaltanwendung: Nicht nur die Pazifisten beider Lager, sondern auch ihre Mainstream-Protagonisten stimmen darin völlig überein, dass alle Opfer von Gewalt zu bedauern sind, dass das Töten von Menschen immer schrecklich ist und allenfalls als Ultima Ratio eingesetzt werden darf. Aber zwischen kognitiver Überzeugung und emotionaler, moralischer Reaktion liegt ein großer Unterschied: Die „Rechten“ empfinden existenzielle Betroffenheit und wirkliche Empörung, ja ihr Blut gerät in Wallung angesichts der durch Demonstranten oder Terroristen getöteten Polizisten, während sie die getöteten Demonstranten nur „bedauern“. Bei den Linken verhält es sich genau umgekehrt: Alles Uniformierte und Repräsentative ist ihnen suspekt, alles Oppositionelle begreifen sie zunächst als Identifikationsangebot. Der entscheidende Punkt, an dem sich Rechtskonservative und Linksalternative unterscheiden, ist also nicht das Ob der Gewaltanwendung, sondern das Wer.
Der geneigte Leser kann einen einfachen politischen Selbsttest hinsichtlich seiner Stellung im Rechts-links-Spektrum machen: Wen ist er auf einem Foto, das einen steinewerfenden Demonstranten einem Schlagstock bewehrten Polizisten gegenüberstellt, für das Opfer zu halten geneigt, wessen Tod wird ihn empören, wessen Sterben wird er nur bedauernd zur Kenntnis nehmen?
Was die nicht enden wollenden RAF-Debatten interessant machte, obwohl so gut wie niemals neue Argumente oder Erkenntnisse zu Tage gefördert wurden, war die Tatsache, dass sich auf beiden Seiten existenzielle Betroffenheit, aber auch tiefe Angst offenbarte. Diese Betroffenheit, so die These, die hier versuchsweise entfaltet werden soll, rührt daher, dass in jener Debatte ein Konflikt zum Ausdruck kommt, der unaufhörlich in jedem von uns und in jeder Gesellschaft tobt – ein innerpsychischer Konflikt mit sozialpsychologischen Entsprechungen.
Man muss kein großer Kenner der Psychoanalyse sein, um in Staat, Polizei und Militär die Repräsentanten des (externalisierten) Über-Ichs zu erkennen. Das Über-Ich steht in der psychoanalytischen Tradition für die Kräfte der Ordnung, der Autorität, der Gebote und Verbote, der normativen Regeln. Sein erster Repräsentant ist der Vater, sein mächtigster Repräsentant „Vater Staat“. Ihm gegenüber steht das Es – die vitale Kraft der unkontrollierten und potenziell unkontrollierbaren Triebe, Instinkte und Bedürfnisse, jene Kraft, die für die Abweichung von der Norm, für das „Andere“ und „Fremde“, aber auch für die Erfahrung ungezügelter Lust in uns verantwortlich ist.
Nach Freuds Überzeugung müssen Es und Über-Ich im Ich zur Balance gebracht werden, doch diese ist stets prekär: Sie ist von beiden Seiten her in Gefahr, zerstört zu werden. Ein übermächtiges Über-Ich droht die vitalen und kreativen Energien zu ersticken und die Lebensfreude zu vernichten, es verursacht Neurosen; ein übermächtiges Es aber untergräbt jede Chance auf planvolles, rationales Handeln, auf die Verwirklichung moralischer Grundsätze und auf die Sicherung sozialer Ordnung.
Tatsächlich steht nach psychoanalytischer Überzeugung jeder Einzelne von uns immer wieder neu und lebenslang vor der Aufgabe, die beiden Seiten zum Ausgleich zu bringen, und tatsächlich gibt es gute Gründe, die Macht der einen wie die der anderen zu fürchten. Daraus lässt sich eine verblüffend einfache, aber erstaunlich tragfähige und Erkenntnis erschließende These formulieren: Die Rechtskonservativen fürchten sich vor dem Es, sie fürchten um die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Moral. Deshalb ist ihnen der Einsatz der ordnenden Gewalten des Über-Ichs, der Polizei, der Justiz, des Militärs, des Staatsapparates unverdächtig und willkommen, um die „zersetzenden Elemente“ und Tendenzen des Es zu bekämpfen und in Schach zu halten.
Die Linksalternativen hingegen fürchten sich vor dem Über-Ich, sie fürchten um die Vernichtung des Anderen, Fremden, Opponierenden, um die Auslöschung der kreativen Energien. Deshalb sympathisieren sie so oft und fast reflexhaft mit den „Anderen“, die in Gefahr stehen, mit den Ordnungsmächten in Konflikt zu geraten – denen, die von den Rechtskonservativen geradezu als Repräsentanten des externalisierten Es interpretiert werden: mit den Schwulen, den Ausländern, den Asylanten, Drogensüchtigen, Behinderten usw.
Ebendiese beargwöhnen Rechtskonservative gewissermaßen aus tiefstem Herzen. Dass die Becksteins und Kochs und ihre Anhänger im Volke nicht eben Freunde der zuletzt genannten Gruppen sind, ergibt sich zwingend aus der These, sie fürchteten das Es und identifizierten sich mit dem externalisierten Über-Ich.
Wie sehr aus Sicht der Rechtskonservativen eine Begnadigung Klars einer Kapitulation vor dem Es gleichgekommen wäre, zeigt sich verräterisch etwa in der absurden (kontingenterweise aus dem Kreis der Jungliberalen vorgebrachten) Behauptung, mit Terroristen verhalte es sich wie mit Pädophilen: Sie seien nicht in der Lage, sich unter Kontrolle zu halten und daher stets rückfallgefährdet, weshalb man ihre Sicherungsverwahrung empfehle. Nächster Test für den Leser: Ein Polizist und ein Asylbewerber beschuldigen sich in einer Gerichtsverhandlung gegenseitig. Wem ist er oder sie geneigt, Glauben zu schenken?
Dieses so simpel scheinende Muster – Es versus Über-Ich – lässt sich auf alle möglichen innen- und außenpolitischen Konflikte übertragen, und es entwickelt eine erhellende Erklärungskraft, auch wenn es etwa darum geht, Positionen im Multikulturalismusstreit, zur Abtreibung oder der Todesstrafe zu erklären. Tatsächlich lässt es sich in der Gegenüberstellung von Abtreibung und Todesstrafe vielleicht in seiner reinsten Form identifizieren: Ein Blick etwa auf die US-amerikanische Debatte zeigt, dass die schärfsten Gegner der Todesstrafe oft die entschiedensten Befürworter liberaler Abtreibungsregelungen sind – und umgekehrt. Stets wird mit der Heiligkeit, dem Recht und der Unverfügbarkeit des Lebens argumentiert – und stets widerlegen die Protagonisten beider Debatten dieses Argument durch ihre Haltung in der jeweils anderen Debatte: Wenn den Gegnern der Todesstrafe das Leben so heilig wäre, müssten sie entschieden gegen Abtreibung eintreten – und umgekehrt, wer das Recht auf Leben in der Abtreibungsfrage geltend macht, kann es schwerlich in der Frage der Todesstrafe negieren.
Selbst diejenigen, welche sich dieses Widerspruchs bewusst geworden sind und deshalb zu einer Argumentation gefunden haben, die ihre Haltung in beiden Fragen gedanklich konsistent macht, können die emotionale Differenz in ihrer Einstellung kaum verbergen: Entweder man kämpft gegen die Abtreibung – oder man kämpft gegen die Todesstrafe, aber kaum jemand wird mit derselben psychischen Energie für oder gegen beide zu Felde ziehen. Die Erklärung ist einfach: Die Todesstrafe ist das äußerste und eindeutigste Symbol der Macht des Über-Ichs: Es tötet „eiskalt“ und mit aller väterlich-staatlicher Autorität das ab, was sich ihm widersetzt, das widerstrebende Es, es straft „gerechtfertigt“ und unerbittlich und setzt die Normen ein und die Ordnung durch.
Die staatliche Exekution ist nicht nur die Kastration, sondern die Tötung des Kindes durch den Vater; der gestaltgewordene Albtraum, die Verkörperung der äußersten Katastrophe für den Linksalternativen. Abtreibung dagegen ist – zumindest aus Sicht ihrer Gegner – die Folge vorhergegangener, tendenziell ungezügelter, normativ nicht geregelter sexueller Lust – und Sexualität ist das zentrale Feld der Triebenergien, derjenige Bereich, in dem und aus dem das Über-Ich durch das Es stets von Neuem infrage gestellt wird. Aus der psychischen Sicht eines Rechtskonservativen bedeutet Abtreibung daher, das Leben des werdenden Kindes, die oberste Norm, der Lust zu opfern, sie symbolisiert gewissermaßen die spiegelbildliche Gegenkatastrophe: die Tötung des Kindes durch das Es. Ein Rechtskonservativer kann hier schlichtweg nicht nachgiebig und liberal sein (selbst wenn er sich genötigt sieht, aus Opportunitätsgründen eine liberale politische Position zu vertreten).
Natürlich sind nicht alle (gewaltförmigen) Konflikte in ihrer psychoanalytischen „Polung“ so ohne weiteres deutbar und offensichtlich. Oft hängt es gewissermaßen vom framing des Beobachters ab, wie er eine Gewaltanwendung deutet – das zeigt sich an der Verwirrung und Entzweiung des linksalternativen Lagers angesichts des Nahostkonflikts. Letzter Lesertest: Nehmen wir an, auf der Titelseite einer Zeitung prangt uns eine Großaufnahme von getöteten Frauen und Kindern entgegen, darunter die Schlagzeile: „Wieder Bombentote in Nahost“. Es ist überhaupt keine Frage, dass wir diese Toten aufrichtig und zutiefst bedauern, gleichgültig, wer sie auf dem Gewissen hat. Aber unsere emotionale Reaktion, die Qualität unserer Empörung schwankt mit der Frage, ob es sich um Opfer eines staatlichen Militäreinsatzes oder um einen Terror- bzw. Selbstmordanschlag handelt: Linksalternative und Rechtskonservative scheiden sich tendenziell genau an dieser emotionalen Reaktion.
Indessen herrscht spätestens seit dem 11. September 2001 zumindest im linken Lager Unklarheit darüber, wer etwa im Konflikt Hamas versus Israel eigentlich das Über-Ich repräsentiert – an normativer Rigidität jedenfalls mangelt es den islamischen Fundamentalisten gewiss nicht, und wären sie erfolgreich, liefe ihre Herrschaft ohne Zweifel auf die Inthronisation eines noch viel unerbittlicheren Systems hinaus. Allerdings ist diese Über-Ich-Internalisierung aufseiten gewaltbereiter Extremisten nicht neu: Die RAF selbst war ebenso dogmatisch wie strikt hierarchisch und sogar militärisch organisiert, sie replizierte nach innen just jene Denk- und Ordnungsstrukturen, die sie nach außen zu bekämpfen suchte.
Doch zurück zur RAF und zu Christian Klar. Wem Klars Kampf galt, wird schon aus seiner Biografie überdeutlich: Sein Weg in die Radikalisierung war aufs Engste verbunden mit seinem Konflikt mit dem konservativ-strikten Vater. Dieser stand ihm nicht nur als Vater, sondern auch als Vertreter der sekundären Sozialisationsinstanz, der Schule, gegenüber. Klars Vater war Schulleiter, in ihm verdichteten sich für den Sohn die klassischen Über-Ich-Instanzen des Vaters, der Schule und des Staates in einer Person. Jene schicksalhafte Auseinandersetzung vor dem Lehrerkollegium, in der es um seinen Schulverweis als Strafe für sein Aufbegehren ging, jagte, wie kürzlich einer lesenswerten Dokumentation in der Badischen Zeitung zu entnehmen war, den anwesenden Lehrern eine Gänsehaut über den Rücken: Mitten in der Verhandlung fing Klar auf einmal an, seinen unnachgiebigen Vater zu siezen. Dem Musiklehrer soll es noch heute leidtun, dass er ihn auch aus dem Schulchor verwies und die Klavierstunden einstellte. Klar selbst soll seinen Kampf später auch als „Therapie“ bezeichnet haben. Blinder Terror gegen übermächtige Über-Ich-Repräsentationen.
Vermutlich ist es kein Zufall, dass ausgerechnet ein Theater sich um Klars Wiedereingliederung verdient machen will und sich am nachdrücklichsten für ihn einsetzt, wie überhaupt die Theater großes Interesse an der RAF (und Spuren von Empathie für sie) zeigen: Das Theater ist ebenso sehr der paradigmatische Ort des Es in der Gesellschaft – wer daran zweifelt, dem sei ein Besuch der Castorf- oder Schlingensief-Orgien an der Volksbühne empfohlen –, wie Polizei und Justiz Repräsentanten des Über-Ich sind. So gesehen ist es gerade nicht die erstaunliche Ausnahme, wenn Theater Terroristen beschäftigen wollen, während Polizei und Justiz sich immer wieder als auf dem rechten Auge blind erweisen: Die wirkliche Gefahr sind für sie Menschen, die die staatliche Ordnung infrage stellen, aber nicht jene Gewalttäter, die auf die vermeintlichen Es-Tendenzen, auf die „Anderen“ (Farbigen, Behinderten, Schwulen) losgehen.
So ist es nur konsequent, dass RAF-Terroristen stets das Urteil „lebenslänglich“ erhielten, auch wenn man ihnen kaum eine konkrete Tatbeteiligung, geschweige denn tatsächliche Tötungshandlungen nachweisen konnte (noch immer weiß niemand, wer Buback erschossen, wer dabei überhaupt geschossen hat), während Neonazis immer wieder mit dem Argument laufen gelassen werden, man könne ihnen in der konkreten Situation nicht nachweisen, mit welcher Wucht sie wirklich geschlagen und getreten hätten und ob gerade ihr Schlag oder Tritt tödlich gewesen sei.
Wie sollen wir mit den abweichenden, den unkontrollierbaren, den außermoralischen Es-Tendenzen umgehen? Das war vielleicht die eigentliche Frage der Debatte um Christian Klar, ihr tieferer Kern. Freud schlug die wachsende Integration der Es-Elemente in das Ich als zentrale psychische Aufgabe und Leistung vor. „Wo Es war, soll Ich werden“, lautet sein zentrales Diktum, das von Cornelius Castoriadis zu Recht und durchaus in Freuds Sinn ergänzt wird durch „Wo Ich ist, soll Es auftauchen dürfen“. Erst in dieser doppelten Bewegung gelingt die Balance, die es – dem Individuum wie der Gesellschaft – erlaubt, das Abweichende, Andere, Fremde, Überraschende ohne Angst und Verdrängung, aber auch ohne Verlust der normativen Orientierung wahrzunehmen und zuzulassen. Balance (oder Ich-Integration) bedeutet dann, weder die ordnungssichernde Hand des Staates noch die abweichenden Tendenzen und Strömungen, weder Es noch Über-Ich zu fürchten, aber beide in die Schranken zu weisen, wenn sie übermächtig zu werden drohen.
Ein Gnadenakt – vorgenommen vom höchsten Repräsentanten des Staates, vom „Staatsoberhaupt“, dem Bundespräsidenten – ließe sich aus dieser Sicht als „Integrations- und Versöhnungsangebot“ des (Über-)Ichs und im konkreten wie übertragenen Sinne auch als Versöhnung zwischen dem „verlorenen Sohn“ und „Vater Staat“ verstehen. Freilich bestand der Bundespräsident (und mit ihm die meisten anderen Staatsrepräsentanten und die große Mehrheit der Bevölkerung) auf vorhergehende, umfassende Reue, und das heißt: auf Unterwerfung des Es. Diese Unterwerfung, die es erlaubt hätte, die (inzwischen ungefährliche) Person des Terroristen von dem, was er repräsentiert (das externalisierte Es) zu trennen, lässt sich als notwendige Bedingung für eine gelingende Integration deuten – aber ebenso als rigide, unnachgiebige Durchsetzung des Über-Ichs. Je rigider und unnachgiebiger das Über-Ich sich aber durchsetzt, desto größer wird die Gefahr, dass der „brodelnde Kessel“ überläuft, dass das Es sich in blinden, amoralischen, terroristischen Gewaltakten Geltung verschafft und das um Balance bemühte Ich torpediert.
Es mag auf den ersten Blick wie eine Aufzählung sehr heterogener Tatsachen wirken: dass 80 Prozent der Bevölkerung sich gegen eine Begnadigung Klars aussprachen, dass der Alkohol- und Rauschgiftkonsum ebenso stetig zurückgeht wie die Zahl der durch Raserei verursachten Verkehrstoten, dass der Kampf gegen das Rauchen ebenso rigoros geführt wird wie die unermüdliche kollektive Bemühung um die Steigerung des Wirtschaftswachstums und der Wettbewerbsfähigkeit – vielleicht lassen sie sich allesamt jedoch auch als Zeichen dafür lesen, dass sich das kollektive Über-Ich immer unerbittlicher durchsetzt. So gesehen ist es vielleicht kein historischer Zufall, dass Terrorgefahr und Terrorangst in unserer Gesellschaft ebenfalls stetig steigen. Das Über-Ich, so lehrt die Psychoanalyse, neigt unter solchen Umständen selbst zur Ausbildung irrationaler Tendenzen – vielleicht lassen sie sich ablesen an der bereitwilligen Aushöhlung des Rechtsstaates, an der ständigen Verschärfung des Strafrechts, an der immer weiteren Ausdehnung des Überwachungsapparats und an der Bereitschaft, selbst Folter oder Folterergebnisse zu akzeptieren.
Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, zuletzt erschien von ihm: „Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2005. © Le Monde diplomatique, Berlin