13.07.2007

Georges Courade

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Georges Courade

Für Übertreibungen und Überzeichnungen bietet Schwarzafrika – zugleich Opfer und Täter, ausgeplündert und selbstzerstörerisch – eine breite Palette von Klischees. Sie resultieren aus westlichen Projektionen, aus Theorien über die Rückständigkeit des Kontinents und gelehrten Evaluationen, aber auch aus kontroversen Auffassungen darüber, was Entwicklung sein soll. Diese Klischees halten sich seit der Kolonialzeit zum Teil sehr hartnäckig, ohne dass sie je wirklich weiterentwickelt oder neu überdacht worden wären.

Sie hängen mit unserem Wissen ebenso zusammen wie mit den Lücken unseres Wissens über den Kontinent, mit der Notwendigkeit einer gegenseitigen Anerkennung ebenso wie mit dem Mit- und Gegeneinander von Europäern und Afrikanern, das hineinreicht bis in die „großen Erzählungen“, in denen sich heilige Wahrheiten spiegelbildlich bestätigen. Auf diese Weise hält man das subsaharische Afrika in einen ganz eigenen Sonderstatus eingesperrt und macht dadurch vergessen, wie universell sein Streben und Handeln sind und wie alt seine Offenheit für den Austausch von Ideen.

Prosaischer ausgedrückt: Diese Vorstellungen beziehen sich auf Lebensumstände, Alltag, das Funktionieren von Gesellschaften, den Ablauf von Veränderungsprozessen. Sie betreffen die Beziehungen zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, über das Verhältnis zwischen den Generationen, über die Machtverteilung in der Familie, über die Gemeinschaft und den Staat, über die gesellschaftliche Kontrolle, über das Verhältnis zwischen Natur und Kultur, über Gewaltanwendung und Konfliktlösung, über die Verteilung von Aufgaben usw. Sie wirken sich auf unser Urteil über Verhaltensweisen aus (der Bauern, Hirten, Unternehmer, Migranten, Händler, Beamten, Frauen, Kinder usw.), über die Fakten hinter sensiblen Phänomenen (Verschuldung, Korruption, Umgang mit den Potenzialitäten, Ethnizität, Demokratisierung usw.) und über die Faktoren, die sich auf die Entwicklung oder den Wandel auswirken (Genmanipulation, Bewässerung, Landwirtschaftsformen, Fruchtbarkeit, Industrialisierung, Abwanderung der Qualifizierten usw.).

All diese Zuschreibungen betreffen ein mythisches Afrika, das es nicht gibt. In Wirklichkeit ist dieser Kontinent vielgestaltig, in seiner Geografie, seiner Geschichte, seinen Gesellschaften, seinen Volkswirtschaften, seinen Erinnerungsorten und seinen Mythologien. Er sperrt sich gegen Typologien und Einteilungen, die bequem sein mögen, aber auch anfechtbar, weil die Vielfalt einfach zu groß ist.

Aus: Georges Courade, „L’Afrique des idées reçues“, S. 37.

Le Monde diplomatique vom 13.07.2007, von Georges Courade