13.07.2007

Brief aus Bat Jam

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Brief aus Bat Jam

von Joseph Algazy

Seit über zwanzig Jahren lebe ich in Bat Jam südlich von Jaffa. Von meinem Balkon aus blicke ich direkt aufs Mittelmeer. Der Anblick des Meeres erinnert mich unweigerlich an meine Geburtsstadt Alexandria, die ich vor fünfzig Jahren verlassen habe und nach der ich mich noch immer zurücksehne.

Bat Jam ist eine Stadt, in der nicht gerade die protzigen Reichen wohnen. Die 160.000 Einwohner führen ein bescheidenes und beschauliches Leben, auch deshalb fühle ich mich hier so wohl. Die meisten von ihnen sind jüdische Einwanderer aus verschiedenen Ländern oder deren Nachkommen. Unter allen Gruppen in Israel und in meiner Stadt fühle ich mich der kleinen und fragilen Gemeinde der jüdischen Einwanderer aus Äthiopien am engsten verbunden; mit ihr empfinde ich besondere Solidarität. In ganz Israel zählt sie nicht mehr als 105.000 Mitglieder, in Bat Jam sind es nur etwa 1.300.

Die Juden aus Äthiopien sind in zwei größeren Wellen eingewandert: 1984 und 1991. Wenn es ihr Traum war, sich in Zion niederzulassen, dem Land ihrer vor Jahrtausenden lebenden Vorfahren, dem Heiligen Land, wo nach biblischer Überlieferung Milch und Honig fließen, dann muss die Realität eine bittere Enttäuschung gewesen sein. Ihre schwarze Hautfarbe und die Vorurteile, die ihnen deswegen begegnen, aber auch die vom klerikal-religiösen Establishment genährten Zweifel an ihrem Judentum sind der tiefere Grund für die prekäre Lage, die sie als Gemeinschaft wie als Individuen bedrückt. Diese Lage lässt sich in vier Worte fassen: Rassismus, Diskriminierung, Isolation und Elend.

Die Zweifel an ihrer jüdischen Identität rühren von dem Umstand, dass die äthiopischen Juden jahrhundertelang von allen anderen jüdischen Gemeinschaften abgeschnitten waren. Ihr Glaube gründet auf dem geschriebenen Gesetz, die mündliche Überlieferung hat für sie keine Bedeutung. Deshalb unterscheiden sich einige ihrer Riten von denen der herrschenden jüdischen Orthodoxie. Das klerikal-religiöse Establishment besteht infolgedessen darauf, den äthiopischen Juden ein demütigendes Konversionsritual zuzumuten. Wenn sie sich dem verweigern, bekommen sie erhebliche Schwierigkeiten, wenn sie zum Beispiel heiraten oder ihre Kinder amtlich registrieren lassen.

Noch schlechter geht es den Falaschmura genannten äthiopischen Juden, die vor langer Zeit in Äthiopien, zwangschristianisiert wurden, später aber wieder zu ihrem alten Glauben zurückkehrten. Von religiösen Fanatikern werden sie einfach als Christen betrachtet und mit regelrechten Ausschlusskampagnen verfolgt.

Einige Bürgermeister haben sich mit allen Mitteln dagegen gewehrt, Gruppen dieser – sagen wir „unerwünschten“ – äthiopischen Juden in ihren Gemeinden aufzunehmen, zum Beispiel, indem sie ihnen die Wasser- und Stromversorgung kappten.

Offizielle Zahlen bestätigen das düstere Bild ihrer Lage. Die Arbeitslosenquote der äthiopischen Juden liegt bei 13,2 Prozent, für das ganze Land bei 7,4 Prozent. Ein äthiopischer Familienvater kommt als Angestellter im Durchschnitt auf ein monatliches Gehalt von 4 747 Schekel (oder knapp 850 Euro), während es im Landesdurchschnitt 8 497 Schekel beträgt. Kein Wunder, dass gut die Hälfte der äthiopischen Familien unterhalb der Armutsgrenze lebt, gegenüber 15,8 Prozent landesweit. Während in ganz Israel unter den 25- bis 54-Jährigen lediglich 0,9 Prozent die Grundschule nicht abgeschlossen haben, sind es bei den äthiopischen Einwanderern 20,4 Prozent. In derselben Altersgruppe haben 42,9 Prozent der Gesamtbevölkerung Abitur und einen Hochschulabschluss, gegenüber nur 21,7 Prozent bei den Äthiopiern.

Meine äthiopischen Landsleute finden sich also am untersten Ende des sozialen Stufenleiter. Und sie können nicht erkennen, wie und wann sich ihre missliche Lage zum Guten wenden oder wenigstens bessern könnte. Angesichts dessen kann die hohe Selbstmordrate unter den Juden aus Äthiopien, vor allem unter den jungen, nicht überraschen. Auch zwei andere traurige Phänomene lassen sich auf das Elend und die gescheiterten Versuche vieler äthiopischer Familien, sich in ihrem Einwanderungsland zu integrieren, zurückführen: das hohe Maß an häuslicher Gewalt und, schlimmer noch, die große Zahl von Frauen, die von ihren Ehemännern ermordet werden.

Hinter den trockenen Zahlen verbergen sich sehr konkrete individuelle Erfahrungen. Vor kurzem hat Quassa Gatto, eine 18-jährige Gymnasiastin aus einer äthiopischen Familie, einen Brief an zwei Bibliothekarinnen namens Natascha und Talila geschrieben. Darin bedankt sie sich für die Freundlichkeit, mit der die beiden Frauen ihr geholfen haben, wann immer sie die Stadtbibliothek besuchte.

In diesem Brief, den ich über das Internet zugänglich gemacht habe, klagt die junge Frau: „Niemand in meinem Viertel konnte mich je leiden; ich war immer zu fremd, meine Haut zu dunkel. Zuflucht habe ich nur in der Welt der Bücher gefunden, die mir wie ein Zauberreich vorkam. Wenn man mich beschimpfte – ‚Hau ab, du Negerin, klettere zurück auf deine Bäume!‘ –, flüchtete ich mich in der Welt der Bücher, in der sich meine Fantasie frei entfalten konnte. Diese Welt hat mich gewollt. Sie hat mich geliebt, sie ist nicht vor mir zurückgewichen, sondern hat mir erlaubt, ein Tor zu ihr zu öffnen und mich ans Leben zu klammern, auch dann noch, wenn sie mir unverständlich war.“

In den Medien fand Quassa Gattos Brief ein bemerkenswertes Echo. Man forderte sie auf, ihre Gedanken in einem Essay über den Rassismus aufzuschreiben, für den ihr dann bei einem Schreibwettbewerb der Universität Tel Aviv der erste Preis zuerkannt wurde.

In diesem Text beschrieb sie einige ihrer bitteren Erfahrungen: „Ich habe mich selbst gehasst, als keine meiner Mitschülerinnen bereit war, neben mir zu sitzen. Als keine meine Mitschülerinnen mich zu ihrem Geburtstag einlud, schloss ich mich zu Hause in meinem Zimmer ein und weinte nur noch. Ich habe mich im Spiegel betrachtet, um herauszufinden, was so falsch an mir war. Und das Einzige, was ich da entdeckte, war meine andere Hautfarbe. Ich habe davon geträumt, weiß zu sein. Ich glaubte, nur so könnte ich es im Leben zu etwas bringen. Ich dachte, an dem Tag, an dem ich weiß wäre, würde die Welt mir zulächeln.“

In einem schwachen Augenblick legte sie ihren Namen Quassa ab und nannte sich Rebecca. Doch dann merkte sie, dass der neue Name ihre Identität noch mehr verwirrte, und bekannte sich wieder zu ihrem ursprünglichen Namen.

Quassas Essay endet mit den Sätzen: „Im Lauf der Jahre habe ich gelernt, dass nichts falsch an mir ist und dass man mich leider immer aufgrund von weit verbreiteten Stereotypen beurteilen wird. Ich habe endlich gelernt, die zu lieben, die mir jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenblickt. Ich habe gelernt, dass ich, wenn ich aktiv an dieser Welt teilhaben will, mich selbst akzeptieren und für meine Rechte kämpfen muss.“

Quassa Gatto steht nicht allein. Es gibt noch mehr junge israelische Juden äthiopischer Abstammung, die sich vor dem krassen rassistischen Unrecht, das sie ständig erfahren, nicht einfach wegducken. Für mich sind diese Menschen, die sich wehren, die Vorboten eines starken Veränderungswillens. Und ich hoffe, dass sie Erfolg haben werden.

Aus dem Französischen von Michael Adrian © Le Monde diplomatique, Berlin Joseph Algazy ist Journalist und schreibt regelmäßig für Le Monde diplomatique.

Le Monde diplomatique vom 13.07.2007, von Joseph Algazy