Was der Fluss zu sagen hat
Der Riachuelo in Buenos Aires ist das schmutzigste Gewässer Lateinamerikas von María Sonia Cristoff
An einer Stelle in dem zum Mythos gewordenen Film „Riachuelo“ aus dem Jahr 1934 sagt die Hauptfigur: „Ohne Dolmetscher braucht man gar nicht hierherzukommen.“ Sie hat die Erfahrung machen müssen, dass sie kein Wort versteht, wenn einer der Einwanderer aus aller Herren Länder, die ihr beim Spaziergang durch das La-Boca-Viertel über den Weg laufen, in seiner Muttersprache eine Frage an sie richtet. Heute, fast hundert Jahre später, könnte ich das Gleiche sagen, wenn sich nicht inzwischen alle mit einer Art Englisch als Esperanto behelfen würden. Während ich also an einem Sonntag bei schönem Wetter im Viertel spazieren gehe, begegnen mir vor allem in der Umgebung des Caminito überall Touristen, die sich auf Japanisch, Französisch, Englisch, Deutsch, Russisch und noch ein paar anderen, mir unbekannten Sprachen unterhalten.
Anders als im Film ist keiner von ihnen auf Arbeitssuche. Es ist seltsam, ausgerechnet dieser Teil der Stadt, der im Laufe des 19. Jahrhunderts entstand, als sich im Gefolge von Industrieunternehmen Arbeiter aus aller Welt hier ansiedelten, und der jahrzehntelang für die übrigen Bewohner von Buenos Aires der Ort der Arbeit schlechthin war, ist heute eines der beliebtesten Ausflugsziele von Leuten, die ihre Freizeit genießen wollen. Nur einen der vielen Unterschiede zwischen den beiden Gruppen möchte ich hier nennen: Während die Arbeiter den Fluss, der am Stadtteil La Boca entlangfließt, nicht nur betrachteten, sondern durch ihre Arbeit unweigerlich mit ihm verbunden waren, kehren die Touristen ihm den Rücken zu.
Die von den Fremdenführern, die die Touristen aus riesigen Bussen treiben, normalerweise vorgeschlagene Route führt entlang einem Dreieck, dessen Seiten gebildet werden aus dem Caminito – dem „kleinen Weg“, der einst ein Bachlauf und später eine Eisenbahnlinie war, bis er auf Drängen von Quinquela Martín, dem bekanntesten Maler von La Boca, in den Besitz der Stadt überging –, einer weiteren Gasse – durch die einst ebenfalls ein Zug fuhr, bis der Verkehr wie auf vielen Bahnstrecken Argentiniens eingestellt wurde – und der Calle Magallanes. Hier bin ich unterwegs, im Innern des Dreiecks.
Vor mir drängen sich Touristen um Tango tanzende Paare oder einen Mann, der mit dazugehöriger Tracht und ernstem Blick einen Malambo steppt. Andere stecken den Kopf durch ein Loch in einem Poster, damit es später auf dem Foto so aussieht, als hätten sie den Körper von Maradona oder die Figur von Evita. Alle lassen sich vor den grell bunten Caminito-Häusern ablichten; viele kaufen die klassischen Alfajores in dem günstig gelegenen Eckladen der Havanna-Kette, die als kleine Firma mit drei Angestellten begonnen hat und mittlerweile ein internationales Unternehmen mit immer neuen Filialen ist; manche kaufen kleine Skulpturen aus Onyx.
Alle essen und trinken etwas. Ich lasse mich auf dem Bordstein der Calle Magallanes nieder: Soeben ist eine Candombe-Gruppe aufgetaucht, mit ihren Trommeln und schwingenden Hüften. Drei Touristen sitzen auf ihren Stühlen und bewegen sich im Rhythmus, ohne den Henkel ihres Bierkrugs loszulassen. Gar nicht so einfach, diesen Anblick mit der kargen Szenerie auf einem der berühmten Gemälde Víctor Cunsolos zusammenzubringen, das dieselbe Straße zeigt. Cunsolo war Mitglied der Malergruppe „Pintores de La Boca“, die die Identität dieses Viertels geprägt hat. Leise Verzweiflung befällt mich, vielleicht weil ich an das leicht Metaphysische denken muss, das man Cunsolo zuschreibt; vielleicht liegt es aber auch nur an der heißen Sonne und am Lärm.
Aber noch will ich hierbleiben, herausfinden, wie es dazu kommt, dass die Touristen den Fluss nicht wahrnehmen, der hinter ihnen fließt – und sich durchaus bemerkbar macht: An meiner Bordsteinkante, über die mit Grillfleisch beladenen Restauranttische hinweg, erreichen mich die Schwaden seines fauligen Gestanks.
Ein Geruch, der auf mich wirkt wie ein Ruf. Oder eher wie ein Filmtrailer oder Klappentext: Dieser Geruch zieht mich an, er erinnert mich an die Geschichten, die dieser Fluss zu erzählen hat, ziemlich düstere Geschichten, die nicht zu den aufdringlichen Farben des Caminito und der angrenzenden Straßen passen. Man könnte sagen, ein Fluss sei ja bloß ein Stück „Natur“, aber in Wirklichkeit – man denke nur an Claudio Magris’ Buch „Donau“, Peter Forbaths „Der König des Kongo“, Richard Burtons „The Lake Regions of Central Africa“ oder Juan José Saers „El río sin orillas“ – spielen Flüsse für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung einer Stadt, eines Landes, einer Region eine entscheidende Rolle.
Ich springe auf, für heute habe ich genug anthropologische Feldforschung betrieben, und gehe am Ufer des Flusses entlang, der hier in La Boca, bevor er in den Río de la Plata mündet, ebenso wie in den anderen Vierteln von Buenos Aires, Riachuelo heißt: „Flüsschen“. In Gegenrichtung, also flussaufwärts bis zur Quelle, heißt der Riachuelo allerdings Río Matanzas. Im Jahr 1583 legte der spanische Seefahrer Juan de Garay – er war für die Neugründung von Buenos Aires verantwortlich – mit seinen Leuten diese Strecke zurück. Mehrere Autoren stimmen darin überein, dass der zweite Name des Flusses von dieser Unternehmung herrührt, die zu blutigen Gemetzeln („matanzas“) zwischen Spaniern und den an den Flussufern siedelnden Indianerstämmen führte.
Vom prosperierenden Hafen zum Synonym für Elend
Die Teilnehmer dieser Expedition stießen damals nirgendwo auf Warnungen oder Verbote, anders als ich heute bei meinem Versuch, in unmittelbare Flussnähe vorzudringen – zu Fuß natürlich, denn für die Schifffahrt ist der Riachuelo, von Ausnahmen abgesehen, längst gesperrt. Eine gilt für das Schiff, das Greenpeace für seine regelmäßigen Messungen über den Zustand des Flusses chartert. Neulich, Mitte Februar, waren Vertreter von vier weiteren NGOs mit an Bord, die sich zusammengetan haben, um zu überwachen, dass ein Beschluss des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2008 tatsächlich umgesetzt wird. Unabhängig von ihrer politischen Einstellung oder ihrem sonstigen Wortschatz bezeichnen hierzulande alle diesen Richterspruch als „historisch“. Was er tatsächlich ist.
Inwiefern?
Weil damit so entschlossen wie noch nie der Versuch unternommen wird, eine Entwicklung umzukehren: die des Riachuelo-Matanzas-Gebiets, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts für einen prosperierenden Hafen stand, sichere Arbeitsplätze, vielversprechende Industrien, für das Verschmelzen von Nationalitäten und Zielen, für eine Lebensform, zu der die Integration des anderen und die Kunst gehörte; und das am Ende desselben Jahrhunderts zum Synonym für Elend, Dreck und Armut geworden war, wie sich in Graciela Silvestris „El color del río“ nachlesen lässt, unverzichtbare Lektüre für alle, die die kulturelle Konstruktion des Riachuelo und dessen zwiespältiges Verhältnis zum übrigen Buenos Aires verstehen wollen. Lange Zeit waren der Fluss und seine Umgebung völlig wirkungslosen politischen Maßnahmen, gierigen Unternehmen und systematischer Korruption ausgeliefert. Heute bilden sie das Gebiet mit der größten Umweltbelastung Südamerikas.
Laut einer der beteiligten NGOs, zu der sich Bewohner von La Boca zusammengeschlossen haben, leben hier auf insgesamt 2 200 Quadratkilometern knapp 5 Millionen Menschen, 62 Prozent von ihnen in Armut beziehungsweise sind auf Unterstützung angewiesen, 30 Prozent arbeitslos oder nur gelegentlich beschäftigt, 55 Prozent ohne Anschluss an die Kanalisation und 35 Prozent ohne fließendes Trinkwasser. Wasser und Luft sind mancherorts so stark belastet, dass die Bleiwerte im Blut von Kindern die gesundheitsgefährdende Menge um das Fünffache übersteigen. Blei ist bekanntlich für den Blutkreislauf und das zentrale Nervensystem Heranwachsender sehr schädlich. Der Vorsitzende des Nachbarschaftsvereins Alfredo Alberti sagt, dass die Lehrer über enorme Lernschwierigkeiten der Kinder aus den Siedlungen am Riachuelo berichten – sofern die Kinder überhaupt zur Schule gehen.
Eine wichtige Rolle in dieser langen Geschichte tatsächlicher wie symbolischer Verschmutzung spielen die großen Salzfleischfabriken. Die Pökelindustrie war eine der ersten, die sich am Ufer des Riachuelo ansiedelte; ihre Anfänge hier liegen um das Jahr 1812. Die Abfälle, Reste ausgeweideter Tierkörper, landeten im Fluss. „Im Sommer, während der Zeit der Schlachtungen, färbte sich das Wasser des Riachuelo blutrot“, schreibt Graciela Silvestri. Als es in den 1870er Jahren zu Gelbfieberepidemien kam, wurden die Pökelfabriken geschlossen. Keine zehn Jahre später machten sich stattdessen nicht nur am Riachuelo-Ufer, sondern im gesamten Flussgebiet hochgiftige Industriebetriebe nebst zahllosen Kühlhäusern breit. Wie man sieht, bezieht sich der Name „Río Matanzas“ also nicht nur auf menschliches Blut.
Zu dieser Geschichte gehören auch mehrere Versuche, den Fluss zu sanieren, insbesondere 1917 und 1987. Doch die Absprachen zwischen den zuständigen Behörden – des Staates Argentinien, der Provinz Buenos Aires und der Stadt Buenos Aires – führten zu nichts. Einmal hieß es auch, man werde den Riachuelo in tausend Tagen sanieren. Das war im Jahr 1993, und das vollmundige Versprechen kam von der für Umwelt- und Naturschutz zuständigen Staatssekretärin der Regierung Carlos Menem. Was in hundert Jahren nicht gelungen war, sollte in tausend Tagen geschafft sein. Diese Ankündigung grub sich tief ins kollektive Unbewusste der Argentinier ein, ebenso wie das großspurig-überhebliche Foto derselben Staatssekretärin, das damals auf der Titelseite einer der meistgelesenen Zeitschriften des Landes zu sehen war: Ganz offensichtlich hatte die Dame unter ihrem Nerzmantel nichts an.
Diese Vorgeschichte – von der ich hier nur einzelne Etappen wiedergebe – erklärt die großen Erwartungen, die sich an den obersten Richterspruch von 2008 knüpften, nachdem Bewohner der Gegend schon 2004 die drei besagten staatlichen Stellen sowie 44 Industrieunternehmen wegen der durch die Umweltbelastung hervorgerufenen Schäden verklagt hatten. Nun wurde die Autoridad de Cuenca Matanza Riachuelo (Acumar) ins Leben gerufen, die den drei beteiligten Behörden größere Durchsetzungsmöglichkeiten verschaffen soll; zudem bildeten die beteiligten NGOs einen Dachverband, der sich darum kümmert, dass die fünf wichtigsten Punkte des Urteils tatsächlich umgesetzt werden. Etwas, wenn auch viel zu wenig, scheint also in Bewegung geraten zu sein. Rede ich mir wenigstens ein, während ich weiter am Ufer des zähflüssigen dunklen Gewässers entlanggehe. Rede ich mir auch ein, weil ich in der Zeitung von gestern gelesen habe, dass endlich die Voraussetzungen geschaffen wurden, um 2 000 Familien, deren Unterkünfte den giftigen Ausdünstungen des Flusses und den äußerst gewalttätigen und konfliktreichen Verhältnissen in seiner Nähe am stärksten ausgesetzt sind – 892 dieser Familien leben im Elendsviertel „Villa 21–24“, das als das gefährlichste von ganz Buenos Aires gilt –, um diese Familien also zu erfassen und nach einer Aufklärungskampagne in menschenwürdige Wohnungen umzusiedeln.
Während ich weiterwandere, ziehen vor meinem inneren Auge wie bei einem Diavortrag die Bilder vorbei, die die Leute von der NGO bei ihrer letzten Fahrt auf dem Riachuelo gemacht haben: Ich sehe wilde Mülldeponien, Kinder und Hunde, die dort herumlaufen, Abflussrohre, die trübe Flüssigkeiten ins Wasser leiten, verrostete Bootstrümmer, wacklige Hütten, die die Leute ans Ufer bauen, eine Kloschüssel, die jemand auf einen schmalen Steg gestellt hat – es sieht aus wie eine Decktoilette mit Flussblick, wie etwas, das man auf einer Messe für cooles Industriedesign findet. Ich erinnere mich, dass ich lachen musste, als ich das Bild zum ersten Mal sah. Wer sich mit dem Riachuelo gründlich beschäftigt, muss ab und zu auch einmal loslachen, um nicht einfach aufzugeben.
Nicht anders ging es mir beim Besuch einer Ausstellung, in der Arbeiten von 22 bekannten argentinischen Karikaturisten zum Thema Riachuelo zu sehen waren. Ich war an einem Januarnachmittag dort, im Hochsommer, als Buenos Aires menschenleer war und also auch niemand in der Galerie. Die meisten Bilder waren farbig. Aber mir haben die schwarz-weißen am besten gefallen, wie die Zeichnungen von Max Aguirre, der die sozialkritische Grafik aus dem La Boca des frühen 20. Jahrhunderts aufzugreifen scheint. Die Begleittexte waren ziemlich treffend. Ich weiß noch, dass ich mich beim Lesen mehr als einmal plötzlich schuldbewusst umschaute, weil mein lautes Lachen von den Wänden widerhallte.
Während ich über das Wasser links von mir blicke, fällt mir ein, dass der Riachuelo im Ausstellungskatalog als „regloser Fluss“ bezeichnet wird, weil hier alles stillstehe und höchstens das Ausmaß der Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit noch weiter steige. Luis Gusmán, einer der wenigen argentinischen Schriftsteller, die den Riachuelo zum Gegenstand ihres Erzählens gemacht haben, meint, die Reglosigkeit dieses Flusses würde sogar eine der ältesten rhetorischen Figuren widerlegen: die, die das Wasser in seiner ständigen Bewegung mit dem Leben gleichsetzt und dem Vergehen der Zeit.
An den Ufern dieses Flusses steht die Zeit ganz bestimmt still, aber nicht wie in optimistischen Geschichten von der Zukunft, in der ein solcher Zustand ewiges Leben bedeuten würde und die Angst vor dem Tod aus unserem Bewusstsein verbannt wäre und uns nicht einmal in unseren tiefsten Träumen einholte. Im Gegenteil: Stillstand bedeutet hier Gleichgültigkeit von öffentlicher wie privater Seite, seit so langer Zeit, dass sie zu Hilflosigkeit und Verwahrlosung geworden ist.
Er bedeutet letztlich den Tod – oder doch ein Dasein, das dem Tod sehr nahe kommt, wie der Dokumentarfilm „Dársena Sur“ („Dock Süd“) aus dem Jahr 1997 überzeugend belegt. Der Regisseur Pablo Reyero schildert darin eindringlich den Alltag von Menschen, die am Flussufer in der Umgebung dieses Docks wohnen. Dort steht eine petrochemische Anlage, die einem neueren Greenpeace-Bericht zufolge „einer der Hauptverursacher für die gravierenden Umweltbelastungen im Flussgebiet“ ist und deshalb dringend an einen anderen Ort verlegt oder von Grund auf umgebaut werden müsste.
Nichts dergleichen ist bislang geschehen. Wie sehr die dort lebenden Menschen sich aufgegeben haben, zeigt sich nicht nur an ihrer Perspektivlosigkeit und ihren oft dramatisch gescheiterten Lebensläufen. Man kann es auch an ihren Körpern ablesen, daran, wie angegriffen, zerfressen und grausam zugerichtet sie durch die giftige Umgebung und die unmenschlichen Jobs sind, die sie ab und zu ergattern. Auf vielen der Karikaturen, die in der Ausstellung zu sehen waren, heißen die Menschen, die am Ufer des Riachuelo ihr Leben fristen, einfach nur „Mutanten“.
Vorsichtig beuge ich mich über die trübe Brühe. Félix Cariboni, der im Auftrag von Greenpeace untersucht, was aus den umweltschädlichen Industrieabfällen wird, hat mir gesagt, dass der Schlamm auf dem Grund des Riachuelo Blei, Kadmium, Chrom, Quecksilber und noch andere Gifte enthält. Danach begann er mir die komplizierten Prozeduren zu schildern, die in Gang gesetzt werden müssten, um den Fluss zu sanieren. Vor meinem inneren Auge zog währenddessen, unablässig wie auf den Werbedisplays, die es manchmal in Zügen gibt, ein Wort vorbei: „Schimäre“. Ich kann mir mühelos vorstellen, dass dieser Abgrund ein B-Movie-Monster hervorgebracht hat, das plötzlich aus dem Wasser auftauchen und mich am Kragen packen wird. Schnell nehme ich meine Wanderung am Flussufer wieder auf und versuche diese Vorstellung zu unterdrücken.
Eine braune, durch nichts zu besänftigende Gottheit
Ich will meiner Neigung nicht nachgeben – einer sehr persönlichen, der Riachuelo hat damit nichts zu tun –, den Fluss zu betrachten wie der argentinische Schriftsteller Raúl González Tuñón es tat oder T. S. Eliot: als braune, unerbittliche, durch nichts zu besänftigende Gottheit. Ich will auch die gescheiterten Unternehmungen dieses Landes nicht aufzählen. Nicht an das Misstrauen denken, das Argentinier aus gutem Grund gegen fast alle Angehörigen der herrschenden Klasse hegen. Nicht daran, dass wir uns in einem Wahljahr befinden, in dem wieder einmal alle möglichen Lösungen erst auf den Weg gebracht und dann doch wieder abgebrochen werden. Ich beschleunige meinen Schritt, um all den Lärm aus meinem Kopf zu bekommen. Einmal wenigstens will ich glauben können, dass es gelingen kann, mit vereinten Kräften eine Politik durchzusetzen, die dem chronischen Stillstand ein Ende setzt. Ich bin bereit zu einer Geste, die sich gegen unser traditionelles Misstrauens stellt: Glauben, wenigstens dieses eine Mal, dass ein Vorhaben, das das Öffentliche und das Gemeinsame einschließt, in diesem Land nicht zwangsläufig scheitern muss.
Weiter vorn auf der Betonrampe, auf der ich unterwegs bin – „Flussufer“ ist in diesem Teil der Stadt eine betonierte Fläche –, steht zum Wasser hin geparkt ein Auto aus den 1980er Jahren. Beim Näherkommen höre ich Musik, ein lateinamerikanisches Liebeslied. Die Fahrertür steht offen, am Steuer sitzt eine etwa vierzigjährige Frau und raucht. Nachdenklich blickt sie übers Wasser, als handelte es sich um die jungfräulich reinen Fluten des Genfer Sees. Sie grüßt mich freundlich und antwortet, nein, der Geruch störe sie nicht, sie bemerke ihn kaum. Etwas haben die Leute, die hier leben, und die Touristen gemeinsam, sage ich mir. Ich gehe weiter. Bald habe ich die Stelle erreicht, wo der Fluss unter der Avenida Pinedo durchführt. Dort solle ich unbedingt umkehren, hat man mir geraten, wenn ich es nicht darauf ankommen lassen wolle, dass man mich ausraubt oder mir sonst etwas antut. Die Szene mit der nachdenklichen Frau in dem Auto tröstet mich immer noch.
Aber nicht wegen solcher Satori-Erlebnisse blitzartiger Erleuchtung bin ich wider besseres Wissen bereit zu glauben, dieser Fluss könne zu neuem Leben erweckt werden. So sehr mir der Anblick Mut gemacht hat – letztlich war es doch nur eine Postkartenidylle aus dem Land des Mangels und der Entbehrung. Meine Bereitschaft, zu glauben, kommt vielmehr vom Spruch eines ehrwürdigen Gerichts – was sich nicht von allen Institutionen im Machtapparat Argentiniens sagen lässt –, der vielleicht doch etwas bewirken kann; von der erkennbaren gemeinsamen Anstrengung in einer Kultur, die gemeinsame Anstrengung sonst nicht kennt; von den Aktivitäten glaubwürdiger NGOs – neben den erwähnten fünf Gruppen, die sich zusammengeschlossen haben, leisten auch etliche andere ihren Beitrag. Auf solchen Zukunftsprojekten fußt meine Bereitschaft.
So wie das, von dem mir ein paar Tage nach meinem Spaziergang am Riachuelo-Ufer Cecília Alvis erzählt, die bei einer der fünf NGOs mitmacht, nämlich der Bürgervereinigung für Menschenrechte (Asociación Ciudadana por los Derechos Humanos, ACDH). Während sie in ihrem Büro in La Boca mit dem Finger über eine große Karte des Riachuelo-Matanzas-Tals fährt, erzählt sie vom Künstlerkollektiv „der bauhaus-tapete gehört die zukunft“, das zusammen mit den Architekten Francisco Liernur, Juan Lucas Young, Susanne Hoffman und Matthias Sauerbruch seit Jahren an einem Projekt namens „Des-Límites“ (Ent-Grenzung) arbeitet.
Hoffnung auf Sportanlagen oder Gemüsegärten
Der Name ist Programm: Er zielt darauf ab, dass der Fluss künftig nicht mehr als Trennlinie fungieren soll, an der sich die zentralistische Politik der Stadt Buenos Aires und die der vierzehn Gemeinden im Riachuelo-Matanzas-Tal innerhalb der Provinz Buenos Aires gegenüberstehen; der Fluss soll stattdessen zu einem Weg der Kommunikation und der Integration werden. Für die Politik eines bloß scheinbar föderalen Staates wie Argentinien ist das ein sehr bedeutsames Vorhaben.
Bei der Vorstellung des Projekts im Parlament benannte Cecilia Alvis als Vertreterin der NGO, für die sie tätig ist, die drei wichtigsten Ziele: Soforthilfe für Gesundheit und Umwelt, Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Umgestaltung und Neubestimmung der künftigen Nutzung der Ufergebiete. Es ist klar, dass mit diesen Forderungen die Immobilienspekulanten ferngehalten werden sollen, die hierzulande bei jeder sich bietenden Gelegenheit sofort zur Stelle sind, sage ich mir, während Cecília Alvis redet, und denke, diesem Projekt liegt die Vorstellung zugrunde, dass über Umweltpolitik sprechen immer auch heißt, über Menschenrechtsfragen sprechen; und schon bin ich dabei, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen, wie man es oft tut, wenn man glaubt, alles gehört zu haben, was der Gesprächspartner zu sagen hatte.
Aber ich habe mich getäuscht: Auf einmal erzählt Cecília Alvis, dass die Mitstreiter von Des-Límites schon 1997 auf Anregung von Matthias Sauerbruch vorgeschlagen haben, das Riachuelo-Matanzas-Tal, sobald der Fluss saniert ist, als Austragungsort Olympischer Spiele zu nutzen. In der Toilette klatsche ich mir kaltes Wasser ins Gesicht, überzeugt, dass wir jetzt in einer Science-Fiction gelandet sind. Oder in einem Roman von César Aira: Da fängt auch immer alles ganz realistisch an, bis die Handlung irgendwann unweigerlich in pures Delirium umschlägt. Das sage ich auch Cecília Alvis. Wir lachen beide, und während sie wieder mit dem Finger auf der Landkarte hin und her fährt und ab und zu an einer Stelle verweilt, erklärt sie, welchen Schub eine Olympiade dem Projekt verleihen würde und wie diese Gegend, deren gegenwärtige Bewohner einbezogen sein müssten, einmal aussehen könnte – wo man sich hier künftig überall Geschäfte, Läden, kleine Industriebetriebe, Gemüse-, Obst- und Blumengärten vorzustellen hätte.
Draußen wird es langsam dunkel, aber ich bin immer noch in Cecílias Büro, die erzählt und erzählt, während ich feststelle, dass man für die Beschäftigung mit dem Riachuelo nicht nur, wie gesagt, eine gute Portion Humor braucht, sondern unbedingt auch manchmal einer Idee wie dieser zuhören muss. Humor und Delirium sind bekanntlich die Form, in der die wirklich ernst und ehrlich gemeinten Dinge zur Sprache kommen.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen María Sonia Cristoff ist Reporterin in Buenos Aires. Auf Deutsch ist von ihr erschienen: „Patagonische Gespenster“, Berlin (Berenberg) 2010. © Le Monde diplomatique, Berlin