12.08.2011

Die Weigerung der Gummibäume

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Die Weigerung der Gummibäume

Das utopische Projekt des Henry Ford am Amazonas von Greg Grandin

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Als Henry Ford 1927 verkündete, sein Unternehmen habe im Amazonasbecken ein Stück Land von der Größe Connecticuts erworben, wo er Gummibäume anpflanzen und mitten im Regenwald eine Stadt gründen wollte wie einst im Wilden Westen, da berichteten die Zeitungen davon wie von einem Kampf zwischen zwei unzähmbaren Kräften: Auf der einen Seite der Industrielle, der das Fließband perfektioniert und den Produktionsprozess in immer kleinere Einheiten zerlegt hatte, um am Ende ein unendlich reproduzierbares Produkt herzustellen, dessen erstes Exemplar nicht anders war als das millionste. Auf der anderen Seite das sagenumwobene Amazonasgebiet, das sich über neun Länder und ein gutes Drittel der gesamten Landmasse Südamerikas erstreckte und so wild und unüberschaubar war, dass in den Gewässern rund um die künftige Ford’schen Plantage mehr Fischarten lebten als in allen Flüssen Europas zusammen.

Ford stand für den Tatendrang, die Dynamik und die Energie, die den US-amerikanischen Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts auszeichneten; der Amazonas dagegen verkörperte den ruhigen Urzustand, eine uralte Welt, die sich bis dato nicht hatte unterwerfen lassen. „Wenn Maschine und Traktor eine Bresche in das grüne Dickicht des Amazonasdschungels schlagen können, wenn es Ford gelingt, dort, wo nichts als Urwaldeinsamkeit ist, Millionen von Gummibäumen zu pflanzen“, schrieb eine deutsche Zeitung, „dann wird die romantische Geschichte des Gummis um ein weiteres Kapitel bereichert. Es ist der Beginn eines neuen Titanenkampfs zwischen der Natur und dem modernen Menschen.“

Ford hatte alle Ressourcen der industrialisierten Welt zu seiner Verfügung. Die Journalisten hegten keinerlei Zweifel über den Ausgang der Unternehmung und schilderten deren zivilisatorische Mission in den verheißungsvollsten Worten. Das Time Magazine berichtete, Ford wolle die Pflanzung alljährlich vergrößern, „bis unter dem Jubel der Urwaldbevölkerung der gesamte Dschungel industrialisiert ist“. Und: „Schon bald werden sich die Königsboas ins Zentrum der Urwalds verkriechen und die Affen eine großes Gekreische anstimmen. Schwarze Indianer werden mit schweren Klingen bewaffnet ihre ehemaligen Jagdgründe niedermähen, um Platz zu machen für künftige Scheibenwischer, Fußmatten und Ballonreifen.“ Ford bringe „den Zauber des weißen Mannes“ in die Wildnis, hieß es in der Washington Post, mit der Absicht, „nicht nur Kautschuk, sondern auch die Kautschukzapfer zu kultivieren“. Der reichste Mann der Erde, der „Moses der Neuen Welt“ oder auch „Jesus Christus der Industrie“, wie ein brasilianischer Autor schrieb, sollte die seit Langem kränkelnde Kautschukindustrie Brasiliens und den Amazonas selbst retten. Das „Königreich Fordlandia“ war allerdings durch und durch säkular und sein Zauber die Technologie. Fords Ankunft in Nordbrasilien fand am Wendepunkt zweier Epochen statt: Das Zeitalter der Abenteurer begann allmählich dem Zeitalter des Handels zu weichen.

In seinem Bericht „Durch die brasilianische Wildnis“ beschreibt Theodore Roosevelt seine letzte Urwaldexpedition von 1912 zur Vermessung eines bislang nicht kartierten Nebenarms des Amazonas; darin prognostiziert der frühere US-Präsident, dass die tückischen Stromschnellen, die ihn beinahe das Leben gekostet hätten, dereinst genug elektrische Energie produzieren würden, um mehrere „große, per Eisenbahn miteinander verbundene Fabriken“ zu versorgen.

Francis Gow Smith, ein Mitglied des New Yorker Explorers‘ Club, befand sich gerade in Brasilien, als die Nachricht von Fords Amazonas-Konzession die Runde machte. In einer längeren Depesche beschrieb Smith sein beinahe tödliches Zusammentreffen mit dem „König vom Xingu“ – einem reichen und ruchlosen Gummibaron am Xingu-Fluss, der „ebenso typisch für die feudalistische Tyrannei auf den Plantagen Brasiliens“ sei wie „sein neuer Konkurrent“ Henry Ford für „das industrielle Unternehmertum Nordamerikas“. Der „Dschungelmillionär“ terrorisiere seine Tagelöhner, halte sie in einem Zustand permanenter Verschuldung, sperre alle ein, die seine Autorität infrage stellen, peitsche sie erbarmungslos aus und lasse sie dann stundenlang liegen, damit „die Vampirfledermäuse sich an ihrem Blut laben und Horden von Ameisen ihre nackte Haut wegfressen“. Henry Ford sei „seinem Urwaldrivalen noch nie begegnet“, so Smith, aber sein „brasilianisches Projekt wird das Kautschukmonopol des Königs vom Xingu brechen, seine Knechte befreien und eine neue Phase des Wohlstands in Brasilien einläuten“.

Obschon Ford selbst die feurigen Adjektive, welche die Abenteurer und Möchtegern-Konquistadoren gern zur Beschreibung des Amazonas benutzten, weitgehend vermied, betrachtete er den Dschungel als Herausforderung; es ging ihm dabei allerdings nicht so sehr um die Überwindung und Beherrschung der Natur, sondern vielmehr um die Rettung seiner Vision des Amerikanischen, die zu Hause nicht mehr zu verwirklichen war.

Zu Fords Vorstellung von einem würdigen Leben gehörte eine gewisse Galanterie, weshalb er sich sehr für die Verbreitung der Tanzsaalkultur einsetzte. Mit Abenteurertum hatte er nichts im Sinn. „Der hart arbeitende Mann“, sagte er einmal, „sollte seinen Lehnstuhl, seinen bequemen Platz am Kamin und eine angenehme Umgebung haben.“ Und so baute Ford für seine Arbeiter in Amazonien Schindelhäuser im Cape-Cod-Stil und forderte sie auf, in ihren Gärten Blumen und Gemüse anzupflanzen und sich von Vollkornbrot und Naturreis zu ernähren. Als der US-Militärattaché Major Lester Baker nach hunderten Kilometern im Urwald in Fordlandia eintraf, nannte er es eine „Oase“, einen „Traum aus dem Mittleren Westen“ mitsamt „elektrischem Licht, Telefon, Waschmaschine, Grammofon und elektrischem Kühlschrank“. Die Verwalter in Fordlandia setzten eine Prohibition durch (oder versuchte es zumindest), die in Brasilien keineswegs Gesetz war, und die Kinderkrippen experimentierten mit dem Verfüttern von Sojamilch an Babys, weil Henry Ford Kühe verabscheute.

Im Lauf von fast zwei Jahrzehnten gab Ford zig Millionen Dollar aus; er gründete nicht nur eine, sondern – nachdem Braunfäule die erste Plantage verwüstet hatte – zwei komplette Städte mit zentralen Plätzen, Gehsteigen, Kanalisation, Krankenhäusern, Rasenflächen, Lichtspieltheatern, Schwimmbädern, Golfplätzen und, natürlich, Automobilen der Modelle T und A, die auf den asphaltierten Straßen herumfuhren.

Die Siedlung wurde in den ersten Jahren von Produktionsabfällen überschwemmt und von Gewalt und Laster heimgesucht, so dass Fordlandia eher einer Frontstadt des Wilden Westens glich als „Unserem Städtchen“. Die Sterberate durch Malaria und Gelbfieber war hoch. Diejenigen, die aus den Plantagen flohen, berichteten von Messerstechereien, Aufständen und Streiks. Sie beklagten sich über verdorbenes Essen und korrupte und unfähige Aufseher, die sie um ihren Lohn betrogen und den Urwald in ein Schlammloch verwandelt hätten, indem sie große Flächen abbrannten, ohne die geringste Ahnung von der Pflanzung von Gummibäumen zu haben.

Statt Wohlstand und Disziplin kamen Vettern und Bordelle

Die Aschewolken des bis dahin wahrscheinlich größten von Menschen verursachten Feuers in diesem Teil Amazoniens verdunkelten den Himmel. Kaum hatte sich das Gerücht verbreitet, Ford stelle zehntausende Arbeiter für 5 Dollar am Tag ein, strömten verzweifelte Arbeitssuchende aus dem von Hunger und Dürre geplagten Nordosten Brasiliens in die Plantagen, gefolgt von ihren Frauen, Kindern und Eltern, Cousins und Cousinen, Tanten und Onkeln, die sich aus Kisten und Leinensäcken behelfsmäßige Hütten bauten. Anstelle der puritanischen Stadt der Tugend, die sich aus dem grünen Dickicht Amazoniens erheben sollte, errichteten ortsansässige Händler Bordelle, Kneipen und Spielhöllen. Fordlandia wurde zu einer Art Goldgräberstadt im Urwald.

Am Ende errangen die Plantagenverwalter doch noch die Kontrolle über die Siedlung und erreichten einen Zustand, der der Vision ihres Chefs ziemlich nahekam. Aber dann machte ihnen die Natur einen Strich durch die Rechnung.

Weil Ford darauf bestanden hatte, die Gummibäume in möglichst engen Reihen anzupflanzen – bekanntlich standen auch in seinen Fabriken in Detroit die Maschinen so eng wie möglich, um die Arbeitswege zu verkürzen –, wurden ideale Bedingungen für die explosionsartige Ausbreitung von Schädlingen und Krankheiten geschaffen, die die Plantagen schließlich zugrunde richteten.

Die moralische Diagnose der Geschichte von Fordlandia ist offenkundig Hybris – nicht nur im Hinblick auf das Desaster der ersten Jahre, sondern auch, nachdem schließlich Ordnung eingekehrt war und die Stadt mehr oder weniger funktionierte, in Bezug auf die Weigerung der Gummibäume, sich dem fordistischen Regiment zu unterwerfen. Dennoch überfiel mich bei der Besichtigung seiner Überreste eine fast elegische Stimmung. Trotz der hemmungslosen Brandrodungen durch die ersten Verwalter und trotz des damals modernsten Sägewerks in ganz Lateinamerika lässt die Stadt nicht an die Übel der großflächigen Entwaldung denken. Sie erinnert eher an einen anderen Niedergang: die Deindustrialisierung. Es besteht eine unheimliche Ähnlichkeit zwischen den rostigen Wassertürmen, dem Sägewerk mit den zerbrochenen Scheiben, dem Kraftwerk von Fordlandia und den Industrieruinen von Iron Mountain, der heruntergekommenen Industriestadt auf der Upper Peninsula von Michigan, die einst ebenfalls Ford gehörte.

Etwa anderthalb Meilen vom Hafen entfernt liegt auf einem Hügel an der Flussbiegung das verlassene „Amerikanische Viertel“. Die Fachwerkhäuser wirken ordentlich protestantisch und bescheiden mit ihren Dachschindeln, Dielenböden, verputzten Wänden und dem Stuck, den gefliesten Badezimmern, elektrischen Kühlschränken und Wandlampen. Sie sind, wie zu erwarten, baufällig, von Unkraut überwuchert, und bewohnt von Fledermauskolonien, die auf Böden und Wänden eine Patina von Guano hinterlassen haben.

In kleineren Reihenhäusern näher am Fluss wohnen die Brasilianer, darunter auch noch einige einstige Fordarbeiter. Das Kraftwerk und das Sägewerk mit ihren meterhohen Fenstern liegen zwischen den beiden Wohngebieten. Die Turbinen und Generatoren wurden aus dem Maschinenraum entfernt, aber rund um die Anlagen liegen verstreute Industrierelikte; weiter draußen, vom Dschungelgras überwuchert, verbogene Eisenbahnschienen der fünf Kilometer langen Strecke, auf der einst Baumstämme zur Sägemühle transportiert wurden.

Vor über fünfzig Jahren hielt der Historiker Perry Miller in Harvard die berühmte Vorlesung „Gang in die Wildnis“, in der er zu erklären versuchte, warum die englischen Puritaner in die Neue Welt aufbrachen und nicht, zum Beispiel, nach Holland auswanderten. Es sei ihnen, so Miller, nicht nur darum gegangen, „ihre eigenen Nachfahren vor der Verderbnis durch die sündige Welt zu bewahren“, die sich an der Kirche von England zeigte, sondern um die Erlösung der gesamten Christenheit in Europa. In einem „leeren Land, in dem es weder etablierte (und korrupte) Institutionen gab noch Bischöfe und Hofschranzen“, wollten sie „einen Neubeginn von Grund auf“ versuchen. Die Puritaner seien nicht nach Amerika geflohen, sondern mit dem Sendungsbewusstsein ausgezogen, den Gläubigen daheim in England das „funktionierende Vorbild“ einer reineren Gemeinschaft vorzuleben. Von Anfang an wohnte der Expansion nach Amerika also eine „tiefe Beunruhigung“ inne, ein Gefühl, dass „etwas schiefgegangen war“.

Ford verabscheute Kuhmilch und die Roosevelts

Die Gründung Fordlandias verdankte sich einer vergleichbaren Unruhe, dem nagenden Gefühl, dass in Amerika „etwas schiefgelaufen“ war. Und obwohl Ford mit seinem Amazonas-Projekt beabsichtigte, den amerikanischen Lebens- und Arbeitsstil zu reformieren, blieb Fordlandia stets vom Auf und Ab des amerikanischen Lebens beeinflusst. Fords Enttäuschungen über die heimische Politik und Kultur waren Legion: Krieg, Gewerkschaften, Wall Street, Energiemonopole, Juden, moderne Tänze, Kuhmilch, die Roosevelts, Zigaretten, Alkohol, der schleichende Interventionismus der Regierung. Dennoch war es jenseits all dieser Übel letztlich die von ihm selbst entfesselte Macht des Industriekapitalismus, die die Welt, die er retten wollte, unterminierte.

Der Fordismus trug, wie wir heute wissen, die Saat seiner Zerstörung in sich: die Aufspaltung des Produktionsprozesses in immer kleinere Einheiten zusammen mit dem rasanten Fortschritt im Transport- und Kommunikationswesen machte es den Produzenten leichter, aus dem von Ford etablierten Abhängigkeitsverhältnis von hohen Löhnen und wachsenden lokalen Absatzmärkten auszubrechen. Die Waren mussten nicht mehr dort verkauft werden, wo sie hergestellt wurden; so fiel ein wichtiger Anreiz fort, den Arbeitern angemessene Löhne zu zahlen, damit sie die selbst produzierten Waren auch konsumieren konnten.

Diese Entwicklung ist besonders augenfällig in der 500 Kilometer westlich von Fordlandia gelegenen brasilianischen Stadt Manaus, einst glanzvoller Inbegriff der Exzesse des Kautschukbooms im 19. Jahrhundert. Die Stadt erlebte in den späten 1960er Jahren eine Renaissance, als das brasilianische Militärregime sie zur Freihandelszone erklärte und Manaus sich zum wichtigsten Handelszentrum des Landes mauserte. Frachter aus den USA, Europa und Asien entluden im Tiefseehafen massenhaft Konsumgüter. Um die Produktion in Manaus selbst zu stimulieren, führte die Militärregierung verschiedene Subventionen ein und verringerte die Ausfuhrzölle. Diese Maßnahmen verwandelten die Stadt zu einem der ersten Montagezentren für Export-Markenprodukte – vergleichbar den mexikanischen maquilas, die sich an der Grenze zu den USA ausbreiteten. Heute beherbergen die Industrieparks von Manaus etwa hundert Fabriken internationaler Unternehmen wie Honda, Yamaha, Sony, Nokia, Philips, Kodak, Samsung oder Sanyo.

Manaus weist das stärkste Bevölkerungswachstum Brasiliens auf: von 200 000 Einwohnern Mitte der 1960er Jahre auf heute 3 Millionen. Die Stadt bricht wie ein perverses Märchenland aus dem Amazonas hervor und frisst sich immer weiter in die smaragdgrüne Umgebung hinein. Wie viele andere Städte der Dritten Welt leidet Manaus unter wachsender Armut, Kriminalität, Kinderprostitution, Verkehrsinfarkten, Umweltverschmutzung und einer kümmerlichen Gesundheitsversorgung. Es gibt keine Kläranlage, die Abwässer fließen direkt in den Rio Negro. Manaus steuert 6 Prozent zur gesamten brasilianischen Industrieproduktion bei, das bedeutet etwa 100 000 Arbeitsplätze. Aber wie dynamisch sich der Export auch entwickeln mag, die Stadt kann nicht allen Migranten, die auf der Suche nach Arbeit aus dem ländlichen Amazonasgebiet zuwandern, Arbeit geben. Schon im Anflug sieht man die Luxuswohnanlagen, die sich hoch über die sandigen Flussufer erheben, und unterhalb der Ufer die niedrigen Slumhütten, zum Schutz vor dem Flusshochwasser auf Stelzen gebaut. Im Vergleich dazu erscheint die Distanz zwischen den Häusern der US-Manager und der brasilianischen Arbeiter in Fordlandia vernachlässigbar gering.

So kann man am unteren Amazonas über 500 Kilometer die Geschichte des modernen Kapitalismus studieren. Am einen Ende liegt Fordlandia, Denkmal für die Verheißungen, welche die Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereithielt. Am anderen Ende Manaus, eine Stadt, die von all den Problemen gebeutelt wird, die Ford überwinden zu können glaubte, und deren Existenz sich dem System verdankt, das er perfektionierte. Der Versuch, Nordamerika am Amazonas zu reproduzieren, endete im Outsourcing Nordamerikas nach Amazonien.

Aus dem Englischen von Robin Cackett Greg Grandin ist Professor für lateinamerikanische Geschichte an der University of New York und Autor unter anderem von: „Fordlandia: The Rise and Fall of Henry Ford’s Forgotten Jungle City“, New York (Metropolitan Books) 2009.

Le Monde diplomatique vom 12.08.2011, von Greg Grandin