12.08.2011

Wie der Südsudan nach Magwi kam

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Wie der Südsudan nach Magwi kam

von Anne-Felicitas Görtz

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Zwei Tage vor der offiziellen Staatsgründung des Südsudan boten die erst vor wenigen Jahren aufgebauten Verwaltungsgebäude ein Bild des Elends: Die Dächer waren weggeflogen und hingen rundum in den Bäumen, und die Amtsstuben waren mit Wasser gefüllt, als wären sie Vasen. In der Nacht war ein Orkan durch die Kleinstadt Magwi gezogen, hatte eine Schneise der Verwüstung hinterlassen und sich die Gebäude der Regierung vorgenommen, die Büros des Commissioners, des Verwaltungsdirektors, der Angestellten und die Versammlungshalle. Am Morgen standen der Commissioner und sein kettenrauchender Executive Director mit bedrückten Gesichtern vor dem Schaden.

Wie sollte hier in 48 Stunden die Fahne der neuen Republik gehisst werden, wenn im „Haus des Staates“ die rohen Dachbalken in den Himmel ragten? Auf perfide Weise entsprachen die ruinierten Häuser der sinnbildlichen Darstellung eines „Failed State in the Making“, wie die Etikettierung des Westens für den südsudanesischen Staatsaufbau nach über 22 Jahren Bürgerkrieg oft lautet. Verblüffend war tatsächlich die äußerst dürftige Anteilnahme der Bevölkerung an der Zerstörung ihres „Regierungsviertels“, sie schien niemanden zu interessieren.

In der Geschichte des Sudan mit seinen akephalen Stammesgesellschaften ist der anhaltende Versuch, einen Staat westlicher Prägung aufzubauen, eng mit der Stadt verbunden. In den Augen der ländlichen Bevölkerung aber sollte dort ruhig die „Hakuma“ (Regierung) ihren bürokratischen Apparat aufblähen, die Stadt war der Ort für verschriftlichte und formalisierte Verfahren, die mit den lokalen Lebenswelten und verwandtschaftlichen Netzwerken wenig zu tun hatten. Wer dort arbeitete, galt als dem System der Gemeinschaft entfremdet. „Bringing the towns to the people“ ist ein politisches Vermächtnis von John Garang, dem 2005 verunglückten Interimspräsidenten der südsudanesischen Übergangsregierung. Den vielen lokalen „Gesellschaften ohne Staat“ wollte er, wie schon die britische Kolonialmacht vor ihm, nun flächendeckend zentralstaatliche Strukturen überstülpen. Hierarchisch gegliedert von Bomas (Dörfern) über Payams (Gemeinden), Counties (Landkreise) hin zu Bundesstaaten und der Zentralregierung entstand in diesem Geflecht auch das Amt des „traditionellen“ Häuptlings, der – nun im Dienst der Regierung stehend – von seiner Gemeinde gewählt wird und mit Konfliktregelung und Rechtsprechung auf der Lokalebene betraut ist. Die Posten auf höherer Ebene werden aus-schließlich an ehemalige Offiziere der Südsudanesischen Volksbefreiungsarmee (SPLA) vergeben.

Der Payam-Chief von Magwi muss gegen Mittag erst geholt werden, um die eingestürzte Kulisse zu begutachten. Staatsfeier hin oder her, er zuckt die Schultern, das hinge nun keinesfalls von den Gebäuden ab. Eine Tribüne am Rand des Fußballfelds sei ja im Bau. Und ob man denn nicht wisse, dass die Gemeinde den Commissioner mitsamt seinem Büro bereits aus der Stadt vertrieben habe? Die Regierung befände sich demnächst außerhalb der Stadt, da könne man schon das Fundament besichtigen.

Der Commissioner hat eine andere Version. Er will sein zukünftiges Reich gleich zeigen. Das ist erfreulicher, als vor den Trümmern herumzustehen. Mit dem Auto geht die holprige Fahrt zur Stadt hinaus. Dort haben die UN ein Stück Busch gerodet und mächtige Fundamente für ein Regierungshaus gelegt. Ja, wer soll denn zu Fuß bis dahin kommen? Die Frage übergeht der Commissioner, als sei man ein bisschen zurückgeblieben. Hier soll eine neue Stadt entstehen, moderne Häuser sollen wachsen, die Augen glänzen im Spiegel seiner futuristischen Pläne.

„Die UN sind mein Verbündeter, wir sind in Verhandlung, dann bauen sie bestimmt auch noch die Straße.“ Das Land sei hier öffentliches Land, es gehöre niemandem. In der Stadt wollten sie es ihm wegnehmen. Dem Staat den Boden entziehen? Zurück in der Stadt, bestätigt es der Chief. Neben seinem Haus steht er am Regenwassertank und putzt sich die Zähne. Er deutet mit der Zahnbürste stadtauswärts. „Es war der Wunsch der Gemeinde. Je früher der Verwaltungssitz nach draußen verlegt wird, umso besser.“ Es klingt, als wolle man ein für alle Mal Ruhe haben.

Magwi hat sich nur mäßig für die Feier auf dem Fußballfeld gerüstet. Frauen säubern mit Binsenbündeln einige Wege und kleben im Freien bescheidene Papiergirlanden. Die Jungen spielen Fußball oder schauen gelangweilt dem Bau des Unterstands zu. Den zu wenigen Bauarbeitern rennt die Zeit davon, aber keiner von ihnen legt mit Hand an.

Abseits der Hauptstraße liegt das Anwesen der Schweißers. Seine Werkstatt ist in einer von drei Lehmhütten untergebracht, sein Arbeitsplatz ist draußen auf dem Boden. Er liefert die Eisenträger für das Dach der Tribüne. Zwei ausgeschlachtete Pick-ups stehen hier, Eisenschrott, alte Batterien. Der Träger ist zehn Meter lang, und zwei Männer sind kniend am Werk. Ihnen liegen eine alte Säge zur Hand, eine Sonnenbrille, der ein Glas fehlt, und neben dem älteren Arbeiter ein Paar Krücken, zusammengeschweißt aus verschiedenen Rohren. Erst als der Alte sich erhebt, wird klar, dass es seine eigenen sind. Um die Handwerker herum heben und tragen die Frauen unentwegt Gegenstände hin und her, Wasserkanister, Säcke, Eimer und Töpfe, und alle Bewegungen schließen die Kinder mit ein: die Neugeborenen, die Kleinkinder, die schon für Aufgaben herangezogen werden, die Älteren, im Dunkel der Hütten über einem Schulheft Sitzenden und die still Schauenden, denen ein Winken ein kleines Lachen entlockt, mit dem sie sich kreischend verstecken.

In der Mitte des Wimmelbildes springen die Funken des Schweißers wie am Boden verglühende Sterne. Schweigend arbeiten die Männer im Lärmkreis des Generators, ein schwächlicher Energielieferant für das Riesenhafte des Auftrags, nun schnell ein neues Gebäude für die Staatsgründung zu errichten, die schwarzen Träger wie Schienen, auf denen vor 150 Jahren der Fortschritt in den Norden des Landes kam. Aber hierher in den Süden kommt kein Fortschritt, keine Eisenbahn, kein Licht in den Hütten, kein sauberes Wasser in einer Schale, kein Laken für einen Kranken. Welcher abstrakte Staat soll gefeiert werden? Die gewaltigen Eisen werden wie Brücken, denen die Ufer fehlen, auf den Lastwagen geladen und in der Abenddämmerung noch montiert.

Um die Arbeit des Schweißers hatten sich die Alten gruppiert, auf Hockern sitzend teilen sie sich den Strohhalm, der aus dem Topf mit Selbstgebrautem ragt. Wofür die Träger sein sollen, verstehen sie nicht. Für sie sind die Vorgänge klar und alle zum Schlechten. Der Orkan war eine gerechte Strafe. Am Nachmittag davor waren die Gebeine des Priesters Leopoldo, eines örtlichen Kriegsheroen, von Kitgum in Uganda nach Magwi überführt worden. Vor dem eigens gebauten Mausoleum hatte man einen Ochsen geschlachtet, doch den Kopf des Tieres – aus Geiz oder Vergesslichkeit – nicht dem Ältesten übergeben, dem Regenmacher, wie ihn noch manche nennen, die sich nun eins und eins zusammenreimten. Der junge Schweißer hat für dieses Zimtzeug nur Verachtung übrig, auch die Frauen schlagen mit ihren Tüchern nach den grummelnden Greisen.

In den Ansammlungen solcher Hütten scheint der Krieg noch immer ganz nah, deutlich manifestieren sich die Verluste in den Entbehrungen des Alltags. Die Provinz Eastern Equatoria, in der Magwi liegt, ist die vom Krieg am längsten mitgenommene Region. 1991 überschritt die ugandische Terrorgruppe Lord’s Resistance Army (LRA) die Grenze und operierte ab 1995 aufseiten der nordsudanesischen Regierung. Ihre grausamen Überfälle auf Dörfer und Zivilisten isolierte die gesamte Region von jeder humanitären Hilfe. „Tony-tony“ heißen die LRA-Rebellen noch immer bei den Acholi, „die, die (die Gliedmaßen ab-)schneiden.“ Dabei waren sie selbst Acholi.

Das Jesuskind mit dem Kopfschuss

Der Ort Palotaka, wo Pater Leopoldo geboren ist, liegt 25 Kilometer östlich von Magwi, und doch eine volle Autostunde entfernt. Die Straße ist ausgespült und die Schlaglöcher verschlucken die Reifen der hochbeinigen Pick-ups. An dem Ort laufen die Fäden der Geschichte willkürlich zusammen. In einer Landschaft von afrikanischer Weite, in der die tiefgrünen Felder an Bergketten von fantastischen Formationen stoßen, waren die Comboni-Missionare zu Hause, bis der katholische Orden 1993 endgültig aus dem Land vertrieben wurde. Die Station, zur dramatischen Ruine zerfallen, nimmt so viel Raum ein wie die gesamte Ansiedlung der Dorfhütten. Ein Haus liegt ein wenig abseits, Reste einer Mauer geben einen Moment lang Rätsel auf. Aber jedes Kind im Dorf weiß um die besondere Bewandtnis.

Über Jahre hinweg war hier der Sommersitz von John Garang. Der Blick vom Haus fällt direkt auf die Imatong-Berge, in denen er 2005 mit einem ugandischen Regierungshubschrauber, aus Kampala kommend, abstürzte. Da war bis hierher schon Joseph Kony mit seiner LRA vorgerückt, der erst im Jahr 2007 durch einen Großangriff zurückgedrängt wurde. Pflanzen sind über die Einschusslöcher gewachsen, und das Gras steht wild bis zu den Fensterhöhlen. War also ab diesem Zeitpunkt hier endlich Frieden? Der County-Chief schüttelt den Kopf. „Bis 2008 war hier niemand sicher.“ Er deutet zum Himmel: „Wenn ugandische Kampfhubschrauber anflogen, bedeutete es, dass sie immer noch die LRA jagten, wenn die Antonows aus dem Norden erschienen, dass sie die LRA versorgten. Alle hier waren verdächtig. Und von den vielen, die verschleppt wurden, sind bis jetzt nur wenige zurückgekommen.“

Flüchtlinge aus anderen Kriegsregionen haben sich in der Zwischenzeit hier eingerichtet. Vor ihren Hütten finden sich, verwachsen mit dem Unterholz, ausgebrannte Panzer, über deren rostige Rohre die Frauen Wäsche hängen. Wenn man um die Erlaubnis bittet, ein Foto zu machen, nehmen die Frauen ihre Kinder an die Hand, als fürchteten sie von den Eindringlingen das Schlimmste. Dann sehen sie auf das Motiv des Panzers, als erschlösse sich ihnen die Bedeutung des Ungetüms zum ersten Mal.

Ob die Missionare wiederkämen, fragen die Leute. Aber wohin sollten sie zurückkommen? In die Kapelle der Heiligen Maria ist ein Panzer gefahren und auf ewig dort steckengeblieben, von der Eremitage steht nicht mehr als ein übrig gebliebenes Relief, über das wie von zarter Hand sich zwei Blütenbäume neigen. Der ausgeraubte Raum der gewaltigen Kathedrale spricht über die kriegerische Zerstörung hinaus von einem ganz anderen Vernichtungswillen: Die christlichen Zeichen sind ausgelöscht, kein Kreuz ist mehr zu sehen. In der Weite des Kirchenschiffs mit dem zum Himmelsblick durchlöcherten Dachstuhl steht nur eine fast lebensgroße, einsame Holzfigur der Jungfrau Maria mit dem Kind. Ein Arm ist abgehackt, und dem Jesuskind hat man in den Kopf geschossen. Als habe sie sich einem letzten Gefecht gestellt und es verloren, so umgibt die Statue etwas Märtyrerhaftes. Wie die großen Kämpfer im Tod zu Heroen wurden, ist die Madonna aus der Zeit ihrer lebendigen Anbetung gefallen und zum Museumsstück geworden.

Madame Terese, Abteilungsleiterin für Landwirtschaft in Magwi, kennt die Missionsstation aus Kindertagen. Die zerstörte Kathedrale will sie nicht mehr betreten, aber sie zeigt auf eine Allee mit Mangobäumen. „Wir haben sie damals gepflanzt“, sagt sie: „Ich könnte weinen, wenn ich sie sehe – dass sie den Krieg überlebt haben, ist doch ein Wunder.“ Stattdessen hat der Krieg das landwirtschaftliche Versuchszentrum zerstört, an dem sie in die Lehre gegangen ist. Dass es jetzt wieder von der Regierung aufgebaut wird, gibt ihr Hoffnung. „Land ist für uns alle das Wichtigste. Und Saatgut zu liefern, damit die Menschen es bestellen, ist die erste Aufgabe unseres Staates.“ Großes Zutrauen ist herauszuhören, dass der Staat es jetzt richten wird.

Am großen Tag des 9. Juli wurde in Magwi das Tamtam für die Staatsinauguration schon ab dem frühen Morgen geübt. Achtmal marschierte das Polizeibataillon vom gegenüberliegenden Gefängnishof vor die dachlosen Verwaltungsgebäude und übte das Salutieren. Gegen Mittag war die Stadt langsam eingetrudelt. Nervöse Schulklassen, ins Farbspektrum ihrer Uniformen gestellt, Frauengruppen, die in schnellem Zungenschlag triumphale Heultöne über den Platz schickten, geisterhaft dünne Kranke, die auf den Baumwurzeln Platz nahmen, und schließlich die Honoratioren: County-Politiker stiegen aus ihren Wagen, die Dorfchiefs kamen zu Fuß, gekleidet in Khaki-Uniformen im Stil der vergangenen britischen Kolonialzeit. Dann war es so weit.

Einundzwanzig Salutschüsse hallten aus der Maschinenpistole des Polizeichefs in den Himmel, und während die Fahne des neuen Südsudan in die Höhe ruckelte und der gefallenen Kämpfer gedacht wurde, legten viele Menschen die Hand ans Herz. Zum Fußballfeld kamen Tausende. Unter Hüten und Sonnenschirmen hielten sie eine Weile dort aus und sahen zu, wie die Politiker aufs neu gebaute Podium stiegen, um ihre Grußbotschaften an den neuen Staat abzuschmettern, und der Commissioner – kein Mann der Worte – auf den Platz sprang und das Kampflied der SPLA anstimmte. Es war kein schlechter Einfall, sprühte darin doch ein Funken des tatsächlichen Siegesgefühls auf, das durch fünf Jahre zäher Friedensverhandlungen fast in Vergessenheit geraten war. Aber die, die es mitsingen konnten, waren nur die Polizisten, und der Beifall war nicht stärker als bei den Kinderchören und Tanzdarbietungen.

Die Hauptrede des Gouverneurs wurde am Schluss verlesen. Sie dauerte eine Stunde und bot politischen Inhalt. Seinen Appell, die Geschichte der Sklaverei, des Krieges und des Friedens im Gedächtnis zu bewahren und an die jungen Leute weiterzugeben, denn „eine Nation ohne historisches Gedächtnis sei wie ein Turm auf Sand gebaut“, hörten nicht mehr viele. Am Ende seiner Rede war außer den auf ihren Sitzplätzen eingepferchten Ehrengästen und dem in der Sonne ausharrenden Polizeibataillon niemand mehr da.

Vielleicht sah man deshalb über das leere Feld hinweg besonders deutlich den gigantischen Rohbau eines Konferenzhotels. Es ist das einzige neue Bauwerk in Magwi von solchen Ausmaßen. Privater Investor ist der Commissioner. Entgegen seiner Prophezeiung, dass vor den Toren der Stadt eine neue wachsen werde, hat er dieses Objekt in die Mitte der alten gesetzt. Die Stadt ist nicht mehr Sitz der Regierung. Vielleicht wird sie in Zukunft ein Ort des Geldes werden, für die meisten ebenso weit weg. Und ganz ohne historisches Gedächtnis.

Anne-Felicitas Görtz ist Journalistin und Autorin. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.08.2011, von Anne-Felicitas Görtz