Das dritte Bild
Jean-Luc erklärt Godard
Youssef Ishaghpour (YI): „Geschichte des Kinos, Geschichte der aktuellen Ereignisse, Aktualität der Geschichte“, so nannten Sie Ihre „Histoire(s) du cinéma“ oft. Es handelt sich vor allem um ein Werk und nicht um einen Diskurs.
Jean-Luc Godard (JLG): Es sind acht Filme in einem, acht Kapitel eines Films, der hunderte mehr beinhalten könnte, und vor allem Anhänge wie die Fußnoten, die oft interessanter sind als der Text selbst … Es ist ein großes Buch mit acht Hauptkapiteln, und diese Anordnung hat sich in zehn Jahren nicht verändert. Warum acht, oder vielmehr vier, jedes mit A und B – weil es vier Wände in einem Haus gibt, so einfach ist das.
YI: In Ihren „Histoire(s)“ gibt es ein einziges äußeres Element, einen einzigen Moment, der außerhalb Ihres Films angesiedelt ist, wie ein Kommentar, und das ist Ihr Gespräch mit dem Filmkritiker Serge Daney.
JLG: Als die Filmfirma Gaumont die „Histoire(s)“ wieder aufgenommen hat, hatte es zuvor eine Pause von einem Dreivierteljahr gegeben. Canal+ und andere wollten ihn damals nicht produzieren. Dann hat Gaumont das Projekt wieder aufgegriffen, und ich fragte mich, wie ich den Faden der Geschichte wieder aufnehmen sollte. Daney hatte etwas für die Libération geschrieben. Es gab eine Aufnahme des Gesprächs, das wir geführt hatten. Und als ich wieder anfangen musste, habe ich beschlossen, von diesen Aufnahmen mit Daney auszugehen …
YI: Hat nicht das Video diesen Film erst möglich gemacht, weil das Kino mit dem Video gewissermaßen endet?
JLG: Für mich war Video einer der Avatare des Kinos, und dann ist Video durch die Verwendung im Fernsehen, das überhaupt nichts Schöpferisches mehr an sich hat, zu etwas anderem geworden. Doch das Video wird von der digitalen Technik überholt werden, oder es wird zu einer hybriden Mischung, die sich von der kinematografischen Kunst immer weiter entfernen wird. Ich würde sagen, dass es zunächst keinen großen Unterschied zwischen Video und Kino gab, dass man das eine wie das andere benutzen konnte. Es gibt Dinge, die man mit dem einen machen konnte, und mit dem anderen konnte man dann etwas anderes machen. Video kam ja vom Kino her. Dass der Computerfilm vom Kino käme, kann man heute allerdings nicht sagen. Die ersten Videokameras, und selbst heute, die drei Farben und dergleichen, das ist noch dieselbe Kalibrierung wie im Kino. Aber mit der Theorie der Informatik ist das etwas anderes. Die „Histoire(s)“ waren noch Kino, sind technische Handarbeit, alles ganz einfache Sachen, von den vierzig verschiedenen Möglichkeiten der Regie habe ich eine oder zwei angewendet, vor allem die Überblendung, mit der sich das Originalbild des Films erhalten lässt. Wenn ich dagegen dasselbe als Film hätte machen wollen, hätte ich über Duplikatnegative gehen müssen, damit wäre ein Qualitätsverlust unvermeidbar gewesen. Vor allem kann man beim Video variieren, während man beim Film die Variation planen muss. Ansonsten gab es weder ein großes Mischpult noch ein Team mit fünfundzwanzig Monitoren, ich hatte noch nicht einmal einen Dokumentalisten, es war eher wie Malerei. Die Überblendungen, all das kommt vom Kino, das sind Tricktechniken, die schon der Kinopionier Méliès Ende des 19. Jahrhunderts angewendet hat …
YI: Man wendete sie zwar an, aber doch sehr selten …
JLG: Weil es komplizierter war … Im Übrigen habe ich sie nur selten angewendet. Man hat den Eindruck, es gäbe viele, aber es gibt Schrifteinblendungen auf den Bildern, es gibt Überblendungen, und das ist fast schon alles.
YI: Sie meinen, wenn ein Bild mit einem anderen verschmilzt …
JLG: Was eher die Basis ist, es sind immer zwei; das ist es, was ich das Bild nenne, dieses aus zwei Bildern gemachte Bild, das heißt das dritte Bild.
YI: So wie Sie die Überblendung verwenden, mit zwei Bildern ein drittes erschaffen, entsteht daraus ein geistiges Bild, allerdings als Gedächtnisbild.
JLG: Ja, so gesehen würde ich sagen, dass die „Histoire(s) du cinéma“ das Ergebnis aus dreißig Jahren Video sind, weil ich mich von Anfang an für Video interessiert habe, während die Kinoleute sich nicht dafür interessierten, nicht einmal Sony … Als wir „Die Chinesin“ drehten, sah ich im Schaufenster von Philips eine Kamera und ein Tonbandgerät. Ich hatte mir überlegt, dass in dem Stück die Maoisten sich während ihrer Diskussionen mit einer Videokamera aufnehmen und die Aufnahmen dann, so wie es damals üblich war, für ihre Selbstkritik auswerten könnten. Wir sind zu Philips gegangen. Das gehörte damals alles noch in die Abteilung Landesverteidigung. Dreißig Jahre ist das her. Doch das Video ist, wie man es für ein Gebäude sagen würde, ein Seitenflügel des Kinos. Es ist Para-Kino, das auf bestimmte Weise nutzbar ist, um Dinge zu machen, die das Kino ohne qualitative Abstriche nicht hätte machen können, und noch dazu billiger …
YI: Doch es gibt noch etwas anderes, das Video hat das Kino archiviert …
JLG: Es ist ein Kind, ein uneheliches Kind des Kinos …
YI: Es ist ein uneheliches Kind des Kinos, das auf die Weise, wie Sie sie verwenden, das Kino miteinbezieht, eine Art Summasummarum zieht.
JLG: Und das es erst möglich gemacht hat, über das Kino zu erzählen, weil das in einem Film technisch nicht möglich war … Ich habe das einmal in den Kinematheken versucht, mit Filmschnipseln, fünf Minuten vom einen Film, dann von einem anderen usw., indem ich Filme in zwei Projektoren einlegte, das ergab erstaunliche Sachen, man hatte wirklich das Gefühl von Zeit, und eben das ist für mich die Geschichte.
Video, dachte ich immer, wäre dazu da, um Studien zu machen. Doch praktisch, finanziell, kann man gar nicht mehr weitermachen. Es sei denn, man hätte eine kleine Firma und würde von der Werbung leben, wovon wir dann alles Mögliche bezahlen könnten. Doch es zeigt sich, dass im Kino das eine schnell auf das andere abfärbt. Darum habe ich das auch nie geglaubt. Ich glaube einfach nicht, dass man als Schriftsteller Kriminalromane schreiben kann, um Geld zu verdienen, und ansonsten gute Romane verfassen kann. Das gibt es nicht, zum Glück.
Mit CD-ROMs hat man natürlich noch einmal andere Möglichkeiten. Es ist wie ein Gang mit vielen Türen, die aufgehen. Zwischen Videospiel und CD-ROM beispielsweise gäbe es auch eine Art, Filme zu machen, die viel näher bei Borges oder solchen Leuten lägen. Aber das wird nicht passieren, keine Sorge. Vielleicht wird irgendwann jemand solche Filme machen, ein Chris [gemeint ist vielleicht Chris Marker, der 1982 „Sans Soleil“ drehte, ein Essayfilm über Japan, Anm. d. Red.] oder ein Van der Keuken [der Fotograf, der sich mit seinen Filmen zwischen Kunst und Dokumentation bewegte, Anm. d. Red.], für den man einen Begleittext braucht. Für meine „Histoire(s)“ braucht man keinen Begleittext.
YI: Deleuze hat versucht, ein Denken des Bildes zu entwickeln. Bei Ihnen ist es umgekehrt, es geht darum, Gedanken-Bilder zu kreieren. Das Buch des Kinos wäre ein Film, gedreht von einem Regisseur. Ihnen zufolge bedurfte es fünfzig Jahre Kino, um die „Histoire(s)“ zu drehen …
JLG: Aber diese vier Bücher, die ich bei Gallimard veröffentlicht habe, sind Kinobücher. Zunächst hatte ich das gar nicht vor, aber ohne es zu merken, war ich da immer schon mitten drin. Das fing ziemlich schnell an. Ich hatte eine Sonderausgabe der Cahiers du cinéma gemacht, das war die Nr. 300, in der es das bereits gab, ein Foto und ein Text, die nur zusammen existierten … Benjamin hat einmal gesagt, dass es ursprünglich das Vernehmen gebe, das heißt das Hören ebenso wie das Sehen, dafür haben wir im Französischen das Wort entendement: wenn man ‚on entend‘ sagt, meint man damit: ja, ich höre, was Sie sagen, und zugleich: ja, ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Meiner Ansicht nach sind das zwei verschiedene Dinge, die jedoch zusammengehören. So kann man also ganz naiv sagen, es gibt das Bild und den Text. In einem bestimmten Moment kann das eine zuerst, das andere als Zweites kommen, das eine kann eine Weile stärker als das andere sein, doch am Ausgangs- und am Zielpunkt sind sie ebenbürtig. Auf der Ebene hat der Verleiher Gaumont die ganze Sache mit den „Histoire(s)“ missverstanden. Ich war dafür, es so zu machen wie üblich: erst Fernsehen, dann die Bücher und danach bei Gelegenheit qualitativ gute Videokassetten. Die haben es umgekehrt gemacht, zuerst die Bücher, dann die Videokassetten – übrigens von entsetzlicher Qualität – und irgendwann, wer weiß, das Fernsehen. Ich wollte eine kleine Ausstellung oder so etwas Ähnliches in einer Galerie machen, um eine Gesamtschau zu haben, die zeigt, wie man auf unterschiedliche Weise in das, was man als die Geschichte bezeichnen kann, eintritt und aus ihr herauskommt. Denn für mich ist das Buch etwas Bleibendes. Außerdem ist die Auflage nicht hoch, bei einem Buch ist eine niedrige Auflage nichts Ehrenrühriges. Das ist bei Filmen, die nur in wenigen Kopien laufen, etwas anderes. Das gibt es aber auch nur sehr, sehr selten. Für gebrauchte Bücher gibt es Antiquariate, aber Kinos für gebrauchte Filme gibt es nicht.
YI: Sie haben oft gesagt, dass das Kino etwas zeigt, dass es erzählt, ohne Geschichten zu erzählen.
JLG: Es gibt da trotzdem ein Geheimnis, wenn man bedenkt, dass alles mit dem Stummfilm angefangen hat. Dabei hätte man den Tonfilm schon viel früher haben können. Trotzdem sind 30 Jahre lang Stummfilme gedreht worden, wie bei einem Kind, dass verdorben wurde. So würde ich es eher sehen, das historische Faktum ist jedenfalls unstrittig. Man müsste herausfinden, ob … etwa die Erfindung des Drehbuchs, ich behaupte, das hat etwas mit der Mafia zu tun, das ist eine Intuition, die man jedoch beweisen können müsste. Mit der Erfindung des Drehbuchs wollte man Ordnung da hineinbringen. Es ist also durchaus vorstellbar, dass sich das auf der Ebene abgespielt hat, zumal sich die Mafia ja bekanntlich mit der Geburt Hollywoods von New York nach Los Angeles verlagert hat.
YI: Von Anfang an sieht man in den „Histoire(s)“ den Schneidetisch als eine Apparatur zur Erforschung der Zeit. Doch erst am Ende, wenn Sie vor dem wiederkehrenden Bild Eisensteins den Dichter Pierre Reverdy zitieren, sieht man ein einziges Mal Ihre Hände, die zwei Filmstreifen zusammenführen, und in diesem Zusammenhang zeigen Sie Bilder von André Bazin, dem großen Filmkritiker der Nouvelle vague, mit der Aufschrift „verbotene Montage“. Im ganzen Film gibt es solche Gegensätze.
JLG: Das Verhältnis zwischen dem Positiven und dem Negativen existiert im Kino in seiner einfachsten materiellen Form: Das Kino setzt genau das ins Bild. Doch mit der Digitaltechnik verschwindet das Negativ. Es gibt kein Negativ und kein Positiv mehr, es gibt eine Art platter Linearität, das widersprüchliche Verhältnis zwischen Tag und Nacht existiert nicht mehr – es brauchte ein Jahrhundert, um zu verschwinden.
Deswegen habe ich auch irgendwann einmal gesagt, das Kino ist eine Idee des 19. Jahrhunderts, die ein Jahrhundert gebraucht hat, um sich zu verwirklichen und zu verschwinden. Das bedeutet, dass im 20. Jahrhundert wenig Neues erfunden worden ist. Wie man etwas übertrieben, und nur bildlich gesprochen, auch sagen könnte, dass das 20. Jahrhundert nicht viel Eigenes hervorgebracht hat: Es hat den Horror nicht erfunden, es hat ihn nur tausendfach kopiert. Es hat wenige Ideen entwickelt – die Relativitätstheorie, die Quantenmechanik, das kommt alles aus dem 19. Jahrhun- dert.
Denken, schöpferisch tätig sein, das ist ein Akt des Widerstands, das hat Deleuze auf seine Weise gesagt – um etwas vernehmbar werden zu lassen, im Sinne von verstehbar. Und wir fangen immer wieder von vorn an, indem wir sagen: Mein Gott, so ist es eben. Doch für mich zeigen die „Histoire(s) du cinéma“ ein historisches Bild, ohne verzweifelt zu sein, obwohl das, was sie zeigen, zum Verzweifeln ist. Es gäbe vieles, worüber man verzweifeln könnte, aber die Existenz selbst kann einen nicht verzweifeln lassen. Man kann sagen, dass es eine bestimmte Vorstellung von Kino, der ich mich sehr verbunden fühle, nicht mehr gibt. Ich meine damit nicht die von Lumière, aber vielleicht ein wenig die von Feuillade [der um 1910 begann, die ersten Serienfilme zu drehen, zum Beispiel „Fantomâs“, Anm. d. Red.], Delluc [der 1920 in „Le Silence“ den inneren Monolog in die Filmsprache transponierte, Anm. d. Red.] und Vigo [ein Surrealist, der nur zwei Spielfilme drehte, dessen Werk aber die Nouvelle vague stark beeinflusst hat, Anm. d. Red.]. So wie die Schule von Fontainebleau vorüber ist, wie die italienische Malerei vorüber ist, so wie Venedig von Amsterdam abgelöst wurde und dann Amsterdam von Genua. Dann kam London und dann New York. Man kann sagen, dass ein bestimmtes Kino jetzt zu Ende geführt ist. Wie Hegel sagte, eine Epoche ist zu Ende. Danach ist es anders. Man fühlt sich traurig, weil die Kindheit verloren ist. Aber auch das ist normal. Jetzt gibt es ein neues Kino, und eine andersartige Kunst.
Das Gespräch mit Youssef Ishaghpour, Filmwissenschaftler an der Universität Paris V., erscheint ungekürzt in: „Archäologie des Kinos. Gedächtnis des Jahrhunderts“, Berlin (Diaphanes) 2007. Wir danken dem Verlag für die freundliche Überlassung der Rechte. © Le Monde diplomatique, Berlin