Die universelle Adresse
Der Cyberspace könnte ein Raum der kritischen Weltöffentlichkeit werden von Pierre Levy
Mit der Entwicklung hochwertiger Dienstleistungen, dem breiteren Zugang zu höherer Bildung und dem von Informatik und Internet angestoßenen Aufbau eines universellen interaktiven Kommunikationsnetzes zeichnet sich eine Weltgesellschaft des Wissens ab, deren kritische Erkenntnisse massiv distribuiert sein werden. Angesichts dieser Entwicklung scheint es dringend notwendig, die Rolle des Intellektuellen neu zu bestimmen.
Ausgangspunkt ist dabei folgende Überlegung: Menschliche Gemeinschaften werden durch Symbolsysteme zusammengehalten. Das sind etwa: Sprache, Schrift, Wissensdisziplinen, technische und professionelle Traditionen, ästhetische Konventionen, politische Institutionen, religiöse und rechtliche Normen. Die „Kultur“ solcher Symbolsysteme unterscheidet die menschliche Gattung von anderen Gattungen gemeinschaftlich organisierter Lebewesen.
Eine wichtige Aufgabe der Intellektuellen besteht darin, diese untrennbar mit den menschlichen Gemeinschaften verbundenen Symbolsysteme zu untersuchen und auf ihre Ausprägung, ihr gutes Funktionieren und ihre Vervollkommnung zu achten. Diese Verantwortung ist angesichts der neuen Weltkultur kollektiver Intelligenz wichtiger denn je. Die heutigen Intellektuellen lassen sich im Wesentlichen drei Kategorien zuordnen, die mehr und mehr auf Kooperation angewiesen sind: die Human- und Sozialwissenschaftler, die Forscher auf dem Feld der Kommunikationswissenschaften und -technologien sowie die Verantwortlichen für die Weitergabe des kulturellen Erbes.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts müssen die Intellektuellen auf die Vorzeichen einer weitreichenden kulturellen Veränderung reagieren. Die Symbolproduktion der Menschheit findet sich zum überwiegenden Teil in digitalen Dokumenten dargestellt, die mittlerweile in Form von Texten, Bildern, Tönen, Musik und Software aller Art online verfügbar sind. Zudem gibt es eine Unzahl von Automaten zur Bearbeitung dieser Symbole (also der Programme), die sich online koordinieren lassen, um digitale Daten nach Belieben zu filtern, zu übersetzen und umzuwandeln.
Die digitalen Speicher werden wie die automatischen Symbolmanipulatoren (also die Software) immer rascher zu einem universellen Kommunikationsnetz verknüpft, dem Cyberspace. Sobald eine Information irgendwo im Netz existiert, ist sie von allen seinen Knoten aus zugänglich. Die digitalisierten Dokumente sind virtuell Teil eines dynamischen, universellen „Hyperdokuments“, das von den am Cyberspace teilnehmenden Institutionen und Personen aufgebaut, abgerufen und transformiert wird.
All diese Möglichkeiten der automatischen Symbolmanipulation und der Kooperation von Software-Agenten sowie die Ubiquität und Vernetztheit des Cyberspace ergeben ungeahnte Kapazitäten zur Bearbeitung des gemeinsamen digitalen Gedächtnisses.
Eine der Fragen, die sich den Intellektuellen des 21. Jahrhunderts stellt, lautet, wie diese neue Macht optimal genutzt werden kann. Denn es gibt erhebliche Hindernisse, die es der kollektiven menschlichen Intelligenz schwer machen, diese neuen Möglichkeiten optimal auszuschöpfen.
Diese Hindernisse lassen sich in zwei Unterkategorien aufteilen. Die erste betrifft die Vielfalt und Abgegrenztheit symbolischer Systeme: Pluralität natürlicher Sprachen; Inkompatibilität der vielfältigen Systeme zur Indexerstellung und Katalogisierung, die noch aus der Epoche der Druckerzeugnisse stammen (also nicht mit Blick auf Vernetztheit und Rechengeschwindigkeit im Cyberspace angelegt sind); Vielfalt und Inkompatibilität der Taxonomien, Wörterverzeichnisse, Terminologien, Ontologien und Klassifikationssysteme (die auf Unterschiede zwischen Kulturen, Traditionen, Theorien und Disziplinen zurückgehen).
Die zweite Untergruppe von Hindernissen betrifft Schwierigkeiten bei der Programmierung, insofern es darum geht, die Bedeutung von Dokumenten mit Hilfe verallgemeinerbarer Methoden zu erfassen. Hier ist das offensichtlichste Hindernis die relative Ineffizienz der von kommerziellen Suchmaschinen verwendeten Methoden, sobald sie vor etwas komplexere Aufgaben gestellt werden. Sie wird zum Beispiel offenbar, wenn Google und Yahoo nur 10 bis 20 Prozent des Webinhalts aufbereiten können.
Hinzu kommt, dass diese Maschinen ihre Suchfunktion auf Zeichenketten und nicht auf Begriffe stützen. Gibt ein Benutzer zum Beispiel die Suchanforderung „Hund“ ein, wird dieses Wort als Zeichenfolge „h, u, n, d“ behandelt und nicht als ein Begriff, der sich in viele Sprachen übersetzen lässt (dog, perro, kelb, cane) und eine Unterkategorie der Säugetiere und Haustiere benennt.
Während das quantitative Wachstum und die Diversifikation der Nutzungen des Cyberspace außer Zweifel stehen, gelingt es den Programmentwicklern kaum, ihre Konzepte über die Grenzen der Suchmaschinen hinaus zu erweitern. Nach einer Phase hoher Aktivität gegen Ende der 1990er-Jahre scheint die Forschung im Bereich der Künstlichen Intelligenz ihre Schrittmacherfunktion verloren zu haben. Das sogenannte semantische Netz, das ein Konsortium großer Unternehmen (Google, Yahoo, AOL, IBM, Microsoft etc.) vor mehr als zehn Jahren auf den Weg brachte, macht bei all seiner technischen Raffinesse nicht die erwarteten Fortschritte.
Künstliche Intelligenz und semantisches Netz leiden unter derselben perspektivischen Beschränkung: Sie halten sich an die Automatisierung logischer Operationen, um das Beste aus den Rechnern herauszuholen. Doch das ist nur die eine Hälfte der Arbeit. Die andere, noch weitgehend unerkundete Hälfte betrifft die Entwicklung von grundlegend neuen Systemen der Bedeutungsnotation, mit deren Hilfe sich neue Möglichkeiten der automatisierten Verarbeitung für die kollektive Intelligenz online ausnutzen lassen.
Die Information und ihre automatisierten Verarbeitungsagenten sind also auf dem Weg zu einer materiellen Vereinheitlichung in einem virtuellen digitalen Gedächtnis, das der gesamten Menschheit gehört. Doch weil semantische Barrieren, Abgrenzungen und Inkompatibilitäten nur teilweise abgebaut sind, bleibt der bereits erreichte Zuwachs kollektiver Intelligenz deutlich hinter seinen Möglichkeiten zurück.
Das ist allerdings nicht verwunderlich, denn der weitaus größte Teil der verfügbaren Systeme zur Bedeutungskodierung wurde entworfen und entwickelt, bevor es den Cyberspace gab. Schließlich existiert dieser für seine Benutzer in aller Welt erst seit knapp einer Generation. Noch ist die neue kulturelle Matrix nicht vollendet. Die Intellektuellen des 21. Jahrhunderts stehen deshalb vor dem Problem, eine neue Generation von symbolischen Systemen erfinden, anpassen und verbessern zu müssen, die den mittlerweile verfügbaren Verarbeitungskapazitäten entsprechen.
Von den Naturwissenschaften lernen
Intellektuelle, die ihre Aufgabe in der Steigerung der kollektiven Intelligenz sehen, müssen also an der noch unfertigen neuen kulturellen Matrix weiterbauen. Ihr Ziel müsste es sein, die symbolische Natur des menschlichen Geistes in Form eines Kosmos von quasi unendlicher qualitativer Diversität abzubilden, der zugleich mathematisch organisiert, beobachtet, entdeckt und im Cyberspace simuliert werden kann. Dieses neue intellektuelle Unternehmen könnte den Ansatz einer Lösung für das Problem der Fragmentierung der Humanwissenschaften darstellen und unsere Gesellschaften befähigen, über Internet eine effizientere Zusammenarbeit im Dienst der menschlichen Entwicklung aufzubauen.
Lehrreich ist in dieser Hinsicht das Beispiel der Naturwissenschaften. Zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert schufen sich die Naturwissenschaften einen unendlichen homogenen physikalischen Raum, ausgestattet mit einem Koordinatensystem und universellen Einheiten. Das Ergebnis war ein Kosmos, dessen Transformationen sich mathematisch beschreiben lassen. Mittlerweile sind die Beobachtungsinstrumente der Naturwissenschaften technisch verfeinert und werden laufend weiterentwickelt.
Die Metasprache (die Gesamtheit der symbolischen und begrifflichen Instrumente, die unabhängig von den natürlichen Sprachen existieren) der Naturwissenschaften ist hoch formalisiert, logisch kohärent und innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft praktisch universal. Die Mathematiker kennen ihre Mengen, Relationen, Zahlen und Funktionen. Die Physiker haben ihre Masse, Energie und Partikel. Die Chemiker bearbeiten ihre Elemente, Moleküle und Reaktionen. Die Biologen haben ihre Biomoleküle, ihre DNA, ihre intra- und interzellulären Kreisläufe.
Die Theorien können wuchern und divergieren, doch die gemeinsame Metasprache bleibt gleich. Genau das ermöglicht den Dialog, überprüfbare Tests und die geordnete Akkumulation der Entdeckungen. Was die Verwaltung der gewonnenen Erkenntnisse anbelangt, so ist es den Naturwissenschaften gelungen, einen großen Teil ihrer Wissensbestände explizit, zugänglich, operativ und für die wechselseitige Bereicherung verfügbar zu machen.
Dagegen haben die Geistes- und Sozialwissenschaften kein gemeinsames kulturelles Universum, keine unendliche, metrisch bestimmte und durch mathematische Funktionen beschreibbare Noosphäre (Menge der menschlichen symbolischen Aktivitäten). Die Disziplinen sind nach wie vor klar gegeneinander abgegrenzt. Und innerhalb der Disziplinen setzen Paradigmenkonflikte dem fruchtbaren Dialog oft enge Grenzen. Manchmal ist es sogar schwer, sich darauf zu einigen, wo der Kern der Uneinigkeit liegt. Die Beobachtungsinstrumente sind nicht geschliffen genug. Das Hauptanwendungsgebiet der Mathematik ist die Statistik. Bis auf einige hoch formalisierte Unterdisziplinen (wie einige Zweige der Linguistik oder der Ökonomie) sind Berechenbarkeit, Voraussagefähigkeit und Überprüfbarkeit von Theorien kaum ausgebildet.
Das wichtigste Ergebnis dieser Situation ist, dass der überwiegende Teil des Wissens und der Praktiken, die humanwissenschaftliche Forscher zusammengetragen haben, „implizit“ bleibt und nur schwer in Kontexte außerhalb des ursprünglichen Verwendungszusammenhangs übertragbar sind. Um Lösungen für die schweren Probleme zu finden, vor denen die Menschheit steht, ist es unerlässlich, dass die Kulturwissenschaften sich ein Beispiel an der Geschichte der Naturwissenschaften nehmen – und enger zusammenarbeiten.
Aus dem Französischen von Helmut Mayer Pierre Levy ist Philosoph und lehrt an der Universität in Ottawa, Kanada. Auf Deutsch erschien von ihm: „Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des Cyberspace“, Mannheim (Bollmann) 1997.