10.08.2007

Alla turca

zurück

Alla turca

von Niels Kadritzke

Bei den Wahlen in der Türkei hat die im Islam verwurzelte AK-Partei einen überzeugenden Sieg errungen. 47 Prozent stimmten am 22. Juli für die Regierung Erdogan – eine „weiche“ Antwort des Volkes auf die „harte“ Drohung der Militärführung vom 27. April, mit der diese die Wahl von Außenminister Gül zum Staatspräsidenten blockierte.

Wer diesen Sieg als eindeutiges Resultat sieht, unterliegt jedoch einer optischen Täuschung. Denn die prekäre Machtbalance innerhalb des politischen Systems ist kaum verändert. Der stärkste Machtblock bleibt das kemalistische Establishment mit seinem eisernen Rückgrat, dem „tiefen Staat“, der sich auf Sicherheitskräfte, Geheimdienste und vor allem auf die Armee stützt. Dieser derin devlet ist durch parlamentarische Mehrheiten nicht zu entmachten. Und solange die Verfassung, die genetisch auf den Militärputsch von 1980 zurückgeht, die Armee als Garanten des kemalistischen Erbes legitimiert, kann sich diese im Ernstfall als Retter der Nation aufspielen. Und den Ernstfall definiert die Militärführung.

Dennoch müssen die Hardcore-Kemalisten vorsichtiger operieren, nachdem ihre Internetdrohung vom 27. April zur Schützenhilfe für die AKP wurde. Sieht man das Wahlergebnis als Resultat kemalistischer Interventionspolitik, die bis zum Militärputsch von 1960 zurückreicht, fällt die Bilanz vernichtend aus: Die stärkste Partei beruft sich auf den Islam – und die Opposition besteht aus nationalistischen Ultras (MHP) und Betonkemalisten (CHP), die sich als parlamentarisches Reservebataillon der Militärs verstehen.

Warum löst diese Bilanz keine breite Debatte über den Kemalismus aus? Die historischen Verdienste Atatürks sind unbestreitbar, ohne ihn gäbe es die heutige Türkei nicht. Die kemalistische Ideologie trägt aber die Muttermale der Zwischenkriegszeit, die bei anderen „verspäteten Nationen“ den Faschismus hervorbrachte. Der Kemalismus war kein Faschismus, aber eine autoritäre Entwicklungsideologie, die längst zur lähmenden Staatsdoktrin erstarrt ist. Deshalb konnten sich die Kräfte, die immer wieder die Demokratie eingeschränkt oder suspendiert haben, stets auf das Erbe Atatürks berufen.

Die Lebenslüge der Kemalisten ist der Säkularismus, das angebliche Hauptvehikel der Modernisierung. (Säkularismus ist Trennung von Staat und Religion.) Der türkische Staat dagegen unterhält eine riesige Religionsbehörde, die das Monopol der sunnitischen Lehre sichert. Von Religionsfreiheit, die ein säkularer Staat garantieren soll, kann keine Rede sein: Die Alewiten werden massiv diskriminiert, nichtislamische Religionsgemeinschaften sind rechtlos, christliche Türken vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen.

Säkularismus alla turca erschöpft sich darin, staatliche Räume für Individuen zu sperren, die ihn mit religiösen Symbolen kontaminieren könnten. Also ist das Kopftuch in Behörden, Schulen und Universitäten verboten – wo an jeder Wand die Atatürk-Ikone hängt.

Die säkulare Religion des Kemalismus hat ihre historische Mission, einen Staat aufzubauen und eine Nation zu stiften, so autoritär wie erfolgreich erfüllt. Der verstaatlichte Kemalismus von heute erschöpft sich in der Behauptung, die Existenz der Nation sei noch genau so gefährdet wie 1922 – und sei es durch Bürger, die das Kurdenproblem demokratisch lösen wollen.

Damit denunzieren die Hagiografen des Staatsgründers jeden postkemalistischen Diskurs als Landesverrat. Und blocken die naheliegende Frage ab: Wenn Atatürk der weise, moderne, vorausschauende Staatsmann war - wäre er heute Kemalist?

Solche und andere Fragen werden derzeit nur in intellektuellen Zirkeln erörtert. Wer sie im politischen Raum erhebt, lebt nicht ungefährlich. Auch das erklärt die spektakuläre Lücke im politischen System der Türkei: das Fehlen einer demokratischen Linken.

©Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.08.2007, von Niels Kadritzke