09.09.2011

Brief aus Madrid

zurück

Brief aus Madrid

von Gregor Ziolkowski

Audio: Artikel vorlesen lassen

Vom Fußvolk sieht man nicht sehr viel, aber die Mienen der Führer sagen alles: So zieht eine geschlagene Armee ab, eine Truppe in heilloser Verwirrung, ein unsortierter Haufen von Versprengten, die die rettende Ruhestandsinsel herbeisehnen. Regierungschef Rodríguez Zapatero, dessen ausgestellten Optimismus ein Kommentator schlicht als „krankhaft“ bezeichnete, bietet die letzte Energie auf, um einigermaßen die Fassung zu bewahren.

Es sollte eigentlich die letzte Plenarsitzung des Parlaments werden Ende August. Ende September wird dieses Parlament aufgelöst sein, die vorgezogenen Wahlen werden am 20. November stattfinden. Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung sind im Vorfeld so weit abgestimmt, dass sie mit den Enthaltungsstrategien mehrerer Fraktionen durchgewinkt werden können. Da holt der scheidende sozialistische Ministerpräsident, der schon vor Wochen klargestellt hatte, dass er sich einer Wiederwahl nicht stellen wird, plötzlich aus und vollführt einen unerwarteten Paukenschlag: Verfassungsänderung!

Eine Schuldenobergrenze soll im Grundgesetz verankert werden, mit dem Chef der größten Oppositionspartei, Mariano Rajoy von der konservativen Partido Popular (PP), sei das bereits besprochen worden. Der tritt ans Rednerpult und ist an satter Zufriedenheit kaum zu überbieten: Genauso sei es, eine Schuldendeckelung müsse her, im Übrigen habe er dies vor einem guten Jahr bereits gefordert und sei vom damaligen Innenminister und Vizepremier, Alfredo Pérez Rubalcaba, scharf abgebügelt worden. Letzterer ist inzwischen Spitzenkandidat der Sozialisten und kommentiert den Sinneswandel in Sachen Verfassungsänderung etwas zerknirscht und schmallippig. Der Oppositionspolitiker Rajoy genießt den inneren Vorbeimarsch wie ein General die Siegesparade.

Während Elena Salgado, die Noch-Vizepremierministerin, zuständig für Finanzen, verkündet, dass auch sie – wie der Regierungschef – nicht mehr kandidieren will bei den Novemberwahlen. Während aus der zweiten und der dritten Reihe der Sozialisten Distanzierungsstatements zu hören sind: Wozu diese Verfassungsänderung auf den letzten Drücker, die ohnehin erst ab 2020 greifen soll? Warum ohne Volksabstimmung, die zwar nicht zwingend ist, aber doch möglich wäre?

Wird hier nicht, für eine erhoffte Beruhigung der „Märkte“, ein Gestaltungsinstrument für die wirtschaftliche Entwicklung geopfert? Die Gewerkschaften haben kritische Töne hören lassen, die Vereinigte Linke (Izquierda Unida, IU) noch schärfere. Die Linien bröckeln an der linken Seite der Front, und Rodríguez Zapatero, der bei seinem ersten Wahlsieg im März 2004 von manchen noch als „Bambi“ belächelt wurde, praktisch der letzte Linke an einer Staatsspitze im europäischen Gefüge und somit Hoffnungsträger des Milieus, ist im Lauf zweier Legislaturperioden zu einer zerfurchten und verschlissenen Gestalt geworden.

Die politisch ungünstigen Winde wehen von allen Seiten. Zuletzt, und zwar genau seit dem 15. Mai, auch von der Straße her. Die „Bewegung 15-M“, wie sie seit der internetspontanen Besetzung von Madrids zentralem Platz, der Puerta del Sol, genannt wird, hat ein enormes Potenzial mit ihrer Guerrilla-Protest-Strategie, die so gänzlich unmilitant ist. Keine Gewalt, kein Werfen oder Zündeln, kein allzu aggressives Pöbeln gegen die Vertreter der Staatsgewalt: „Auch du hast eine Hypothek!“, skandieren die Demonstranten den Polizisten entgegen, die in den letzten Wochen gelegentlich zentrale Plätze und Straßen Madrids abriegeln – wobei nicht sehr klar ist, auf welche Paragrafen sich derlei Restriktionen stützen.

Der Protest ist genau so weichlich, wie es manchem alten Straßen- und Grabenkämpfer vorkommen muss: „Ihr werdet härter werden müssen“, sagte unlängst der einstige Chef der spanischen KP, der 95-jährige Santiago Carrillo, als geladener Gast bei der Vorstellung eines knappen Büchleins einer kurzen und brisanten Schriften- und Zitatensammlung zum Selbstverständnis der „Spanish revolution“. „No nos representan“ – „Sie vertreten uns nicht“ lautet der Titel.

Der kommunistische Haudegen Carrillo, der die Schlachten aus heißen und kalten Kriegen kennt und der sich einst – der Legende zufolge – von Picassos Friseur eine Perücke fertigen ließ, die ihm die illegale Einreise ins damals noch franquistische Spanien möglich machte, weiß natürlich einiges über Feind- und Zieldefinitionen einer revolutionären Bewegung.

Was ihn – wie eigentlich alle Kommentatoren – überfordert, ist das betonte Unpolitischsein dieses Aufbruchs. Die „Empörten“ (indignados) tun einiges dafür, sich simplen Zuschreibungen zu entziehen. „Das System“ ist der Feind, und das kann allerlei bedeuten. Da schwenkte ein Mitdemonstrant ein bisschen mit der spanischen Nationalflagge auf der Puerta del Sol herum und wurde sofort von Sprechchören – „Wir wollen keine Fahnen, wir wollen keine Fahnen!“ – zum Einholen des patriotischen Tuchs genötigt. Getan hat ihm keiner was.

Wie überhaupt das Camp auf der emblematischen Puerta del Sol als Beispiel für einen mustergültigen (und damit schwer angreifbaren) friedlichen Protest Geschichte schreiben wird: Ordner, die nach dem Rechten schauen, Bibliothek (vorwiegend wohl zum Schlafen auf den gespendeten Sofas genutzt) und Kindergarten, Kräuterbeet und WLAN-Zone, Putztruppe und Standfahrräder, die die Generatoren für die Beleuchtung der kleinen Bühne der Liedermacher antreiben, Verpflegungsbars, die Brötchen zum Frühstück anbieten, Juristen, die die Demonstranten beraten, auf dass sie im Dschungel der Paragrafen möglichst nicht angreifbar seien, und viele, viele – oft witzige – Sprüche, auf Karton gemalt.

„Ich muss da unbedingt hin!“, rief der deutsche Dichter Volker Braun mit leuchtenden Augen aus, als er im Juni als Gast der Madrider Buchmesse (mit Schwerpunkt Deutschland) in Madrid weilte, und dieses Augenleuchten ist wie ein fernher blitzendes Echo seiner frühen Zeilen: „Kommt uns nicht mit Fertigem. Wir wollen Halbfabrikate.“

Ist die spanische Gesellschaft ein „Halbfabrikat“, eine zu bearbeitende öffentliche Angelegenheit, und wenn ja, von wem wäre sie zu bearbeiten? Die „Bewegung 15-M“ echauffiert sich gegen alles Etablierte (Parteien, Banken, Konzerne) und provoziert damit auch Konfusion: Was kann man denn tun, um diesen frischen Wind zu unterstützen? Nicht einmal Geldspenden (außer Minimal- oder Naturalbeiträge für den Tabak- oder Frühstücksfonds) wurden akzeptiert! Aus dem Dilemma einer extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit von 46 Prozent (bei den unter 25-Jährigen) destilliert sich eine vorerst richtungslose Haltung, die da sagt: Hier sind wir, es geht so nicht weiter!

Das aufgemotzte Papstfest im August, der Weltjugendtag der Katholiken, hat erwartungsgemäß nicht wirklich eine Sinnstiftung in diese Jugend getragen. Die Party war natürlich toll (für die Beteiligten), und wie Joseph Ratzinger durch die weiträumig stillgelegte Innenstadt von Madrid papamobilte, das war alles andere als ein Leidensweg, auch wenn der immerzu flackernde Blick des Kirchenherrschers irgendwie stutzig machte. Zwar flogen ihm nicht gerade Slips entgegen, aber die Stimmung unter den wohl eher nicht so armen Jungkatholiken aus 193 Ländern an den Straßenrändern war doch sichtlich popstarempfangsmäßig.

Schließlich breitete der Meister auf einer riesigen Bühne die Arme zur Weltumarmungsgeste aus. Wenn Mick Jagger so etwas tut, kreuzt er dabei die Beine, es tritt dann im Schritt ein Körperteil leicht in den Vordergrund. Vom Papst aber sieht man nur die roten Schühchen unterm weiten Gewand. (Die Stones können bei alledem sowieso nicht mithalten: 1,5 Millionen „Pilger“, verbilligter Nahverkehrstarif für die Fans, deren Unterbringung in öffentlichen Schulen und Sporthallen und noch ein paar Extras mehr.) Nicht allen hat dieser Aufwand gefallen. Dass die öffentliche Hand Steuergelder für den Papstbesuch bereitgestellt hat, wurde zum Anlass eines Protestmarschs, zu dem auch katholische Basisorganisationen und etliche Gruppierungen von „15-M“ aufgerufen hatten. Das Ganze endete mit unschönen Knüppelszenen; gegen einige Polizisten wird derzeit ermittelt. Aussagen zur Franco-Diktatur und der Rolle der katholischen Kirche in ihr? Ein Spendenaufruf für die Hungersnot in Ostafrika? Darüber hat Benedikt XVI. kein Wort verloren.

Was folgt aus alldem? Freundin E. sagt das so: In Spanien feiern die Linken am Samstag bis tief in die Nacht, am nächsten Vormittag treffen sie sich zum Aperitivo, danach gehen sie essen, und wenn sie von der Siesta aufwachen, sind die Wahllokale geschlossen. Die Rechten gehen pflichtschuldig zur Messe, danach ins Wahllokal, dann zu Aperitivos und Essen. Und Freund M. sagt mit leicht zynischem und abgeklärtem Lächeln voraus: „Acht Jahre Rajoy!“

Gregor Ziolkowski ist Journalist in Madrid. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.09.2011, von Gregor Ziolkowski