Pamir oder die Reise der Poeten
Eine chinesische Traurigkeit von Wolfgang Kubin
Jede Erinnerung ist eine Traurigkeit, und da jede Reise eine Erinnerung ist, beginnt auch jede Reise mit einer Traurigkeit. Meine besondere Traurigkeit heißt Peking. Ich beklage ihre Verluste, und darum habe ich vor vielen Jahren mit der Niederschrift von Essays begonnen, deren Traurigkeiten mir damals zwar von niemandem abgenommen, heute aber von jedermann bestätigt werden, und das durchaus zu meinem Entsetzen, denn ich hätte mich zu gern geirrt. Ist dies nur die Sicht eines Poeten, der bald mit anderen Poeten von Peking Richtung Pamir aufbrechen wird? Schön wär’s, aber bekanntlich ist alles im Wandel begriffen, und die Welt lässt sich nicht weiter strikt in die armen Poeten hier und die reichen Makler dort scheiden.
Vor mehr als zwanzig Jahren traf ich den Dichter Yang Lian (geb. 1955) das erste Mal in eben dem Foyer des „Hotels Xiyuan“ am Pekinger Zoo, wo wir auch diesmal, im September 2006, von überallher zum Nachdenken über die Stimme der Dichtung einberufen sind. Kein Jahr später wird er eine Gründerzeitwohnung in Berlin kaufen. An Übersetzer und Fans voller Stolz verschickte Fotos dokumentieren die sorgfältige Renovierung von Fenstern, Lampen und Wänden einer entschwundenen Epoche. Warum hat er dergleichen nicht in Peking zu erwerben versucht? Steht etwa das alte europäische Legationsviertel nicht mehr, wenn auch in Ruinen? Verbringt er nicht regelmäßig seinen Urlaub in der alten Heimat trotz all seiner öffentlichen Kritik am einstigen Vaterland?
Ein koloniales Erbe hat es in Peking zur Genüge gegeben, aber man hat es von Kadern verwohnen lassen. Und das sogenannte feudale Erbe? Das konnte einen Yang Lian auch nicht begeistern, denn es war ebenfalls großenteils den Bonzen zur Ruinierung überlassen worden. Die Revolution verlangte ihre Opfer, erst die Häuser, dann die Menschen. Der Staat hat seit 1949 aufgebraucht, was das alte, ihm so hassenswert erscheinende China hinterlassen hatte. Die wenigen Reste vernichtet er heute, verhökert sie an den Tourismus oder überlässt sie finanzkräftigen Privatunternehmen zur freien Verfügung.
Wer die (Elite-)Universität Peking vom symbolträchtigen Westtor her betritt, kann sich ein Bild davon machen. Die dortigen Grünanlagen, Reste des einstigen Alten Sommerpalastes (Yuanmingyuan), waren besondere Günstlinge der ausgerufenen Befreiung seit 1949, das heißt, sie waren den für befreit erklärten Volksmassen nach Belieben überlassen und gammelten bis vor kurzem vor sich hin. Nachdem es dort schließlich nichts mehr zum Verwüsten gab, sind „die Herren des Landes“ in Plattenbauten komplimentiert und die einst verachteten Geschäftsleute um die Rettung der alten Hofhäuser samt Gärten gebeten worden. Nun, nach der Renovierung, residieren in schönem Ambiente aus Teichen und Bäumen neben wirtschaftlichen Gruppierungen auch Institute der Universität, die sich der Erhaltung der chinesischen Kultur angenommen haben.
Früher hat man von Mäzenen gesprochen. Jeder Dichter im Reich der Mitte hatte seinen Geldgeber. Heute ist die Rede von Sponsoren, aber kein Dichter kann einen solchen als seinen persönlichen ausgeben. Aus dem Dichter ist ein Plural geworden. Dieser Plural steht für eine Gemeinde von Überlebenden am Rande der Gesellschaft, in der Welt hoch angesehen, in China für gering erachtet. Es ist nicht die Professorenschaft, die in der Lage wäre, es ist nicht der Staat, der willens wäre, etwas für diejenigen zu tun, die China bis vor kurzem zum Großreich der Dichtung gemacht haben. Es muss ein Sponsor herhalten, in diesem Fall die Pamir Investmentgruppe (Zhongkun Jituan), die im Januar 2006 – so ihr Mitteilungsblatt – zehn Millionen Yuan (etwa eine Million Euro) zur Förderung der Lyrik investiert und zu diesem Zweck ein eigenes Zentrum begründet hat.
Woher aber rührt das Interesse, sich für etwas stark zu machen, das in China nur noch ein kümmerliches Dasein führt und kein Geld einbringt? Nun, man muss wissen, dass Zhongkun, 1995 gegründet und auf Immobilien spezialisiert, sich um viele Zweige erweitert hat. 1997 begann man ein Tourismusunternehmen (Zhongkun Guolü) aufzubauen und in vielversprechende Landstriche zu investieren, die der Verwahrlosung preisgegeben waren. Ihr Direktor, mit bürgerlichem Namen Huang Nubo geheißen, ist selbst Dichter und nennt sich als solcher Luo Ying. Er ist jung, sportlich, gut aussehend, gewandt im Umgang mit anderen, wichtiger noch, er ist für die Dichter der gute Mensch von Peking. Drei Dinge würden China heute fehlen, so vertraute er mir bei der ersten Begegnung an, und diese seien unabdingbar für das Wohl eines Landes: die Moral, das Recht und die Poesie. Was dem Sozialismus bis 1989 nicht gelingen wollte, scheint der Protokapitalismus durch die Forcierung der Marktwirtschaft seit 1992 geschafft zu haben: das auszulöschen, was China immer so gern für sich in Anspruch genommen hat, die gute Sitte und die hohe Dichtkunst. Beide bedürfen nun des Schutzes durch das Gesetz, so wie der Mensch, so wie die alten Viertel und Häuser zu ebener Erde. Aber kann ein Gedicht so gerettet werden wie die alten lauschigen Plätze, die für Peking so typisch waren und in der weiten Grünanlage der Universität Peking nun wieder anzutreffen sind? Baumüberstandene Gässchen mit stillen Höfen zur Rechten und Linken in der Abendsonne?
Was passiert mit den Häusern und Städten, die pädagogisch nicht aufzurüsten oder touristisch (noch) nicht zu vermarkten sind? Diese Frage hat sich die private Tourismusbranche in China längst gestellt. Die Sehenswürdigkeiten des Landes sind inzwischen überlaufen und fest in staatlicher Hand. Man hat also selbst für Attraktionen zu sorgen, und tut es, indem man auf dem Lande alte Orte „aufkauft“, ganze Gebiete absteckt und noble Hotels baut. Der Boden mag zwar nach wie vor dem Staat gehören, doch wer heute über seinen Nießbrauch verfügt, wird gleichsam zum neuen Herrn des Landes. Und was geschieht mit den Bewohnern? Da gibt es zwei Möglichkeiten. Man baut nebenan einen neuen Ort und siedelt sie um, oder man belässt sie in den renovierten Häusern, stellt sie dort aber als Hüter an. In beiden Fällen hat der neugierige Tourist Eintritt zu zahlen. Nur im zweiten Fall mutiert der Alteinwohner zum Museumsstück. Die Pamir Investmentgruppe ist eben auf diese Weise zu ihrem großen Reichtum gekommen. Sie hat sich neben Mentougou bei Peking und dem Huang Shan in Anhui ein gefährliches Terrain ausgesucht, nämlich den Süden der Provinz Xinjiang (früher Sinkiang, auch Chinesisch-Turkestan geheißen), und zwar die gebirgige Grenzregion, verkürzt Pamir genannt.
In nahezu menschenleerer Region hat sie mit dem Aufbau eines Tourismus begonnen. Man mag darüber denken, wie man will. Die derzeit einzige Han-chinesische Alternative in den wenigen vorhandenen Orten wäre: ein Abriss der jahrhundertealten Stadtviertel und der Bau eines architektonischen Disneylands. Die Bewohner vor Ort werde ich hierzu nicht befragen können, denn sie sprechen kein Chinesisch, und wenn, dann schlechter als ein westlicher Sinologe. Ich werde mich auf meine Augen verlassen müssen. Und diese Augen werden erkennen, dass das in Kashgar an einem Fels hängende Viertel (Gaotai) mit seiner zweitausendjährigen Geschichte, das aus Sicherheitsgründen abgerissen werden sollte, heute nicht nur Sicherheit, sondern auch fließendes Wasser und dank Tourismus Arbeit bietet. Der Preis, den es dafür zahlt, mag so hoch sein wie in der eher bekannten Altstadt von Kashgar. Auch hier hat besagtes Unternehmen investiert und verlangt von den Gästen 30 Yuan (3 Euro) Eintritt.
Doch was haben Poeten aus Ost und West mit dem fernen Pamir zu tun? Manches! Xinjiang, das als „Neue Grenze“ nach Jahrhunderten praktischer Unabhängigkeit erst sehr spät dem letzten chinesischen Kaiserreich wieder eingegliedert wurde, war zwischen 1957 und 1978 bevorzugter Ort für die Verbannung Andersdenkender. Nach der so verführerisch klingenden wie listig ausgeklügelten Aufforderung von Mao Tse-tung „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern“ entledigte sich der chinesische Staat seiner Kritiker, indem er einige von ihnen am Vorabend des Großen Sprungs nach vorn (1958) zur körperlichen Arbeit und geistigen Umerziehung hierher verschickte. Bevor die Poeten auf Reisen gehen, konferieren sie zwei Tage lang in geschlossenen Räumen des Xiyuan Hotels. Ouyang Jianghe (geb. 1956) redet freimütig über die Mühsal China, der amerikanische Autor Eliot Weinberger beklagt die Wiederholung all der Fehler, die der Westen einst gemacht hat, durch die Verantwortlichen des Landes. Der Literaturkritiker Tang Xiaodu (geb. 1954) mahnt zur Vorsicht. Überall seien Mikrofone aufgestellt. Doch das schert ansonsten niemanden. Privat darf seit langem jeder sagen, was er will. Und geschlossene Räume sind privat. Es darf nur nichts nach außen dringen. Und es dürfen keine „Banden“ gebildet werden.
Ebenso wenig fürchtet man seltsamerweise die Journalisten von der Neuen Pekinger Zeitung (Xinjingbao) und von der Südchinesischen Morgenzeitung (Nanfang Zaobao), die uns für zehn Tage von Peking nach Kashgar begleiten und über jeden unserer Schritte berichten werden. Werden sie nicht öffentlich machen, was verborgen bleiben soll? Vielleicht sind aber auch sie Poeten und wissen gefährliche von ungefährlichen Nachrichten zu scheiden? Außerdem sind sie keine Ausländer, die Wahrheit ist ihnen kein Opfer wert. Ihnen werden von oben nicht nur die Themen, ihnen wird auch das Vokabular vorgeschrieben. So wissen sie im Vorfeld, was sie nach der gemeinsamen Reise publiziert bekommen und was nicht.
Im Land der Uiguren mit seinen insgesamt dreizehn verschiedenen Völkern gilt dank des überwiegend praktizierten Islam so gut wie ein Alkoholverbot. Doch was sind Poeten ohne einen guten Tropfen? Viele behaupten, nur bei einem Becher Schnaps schreiben zu können. Ich habe die Reise nicht ohne Warnung angetreten. Bei Dao (geb. 1949) hatte mich Anfang der 1980er-Jahre nur in den Volksschnaps Erguotou eingeführt. Auch heute kostet die Flasche im Gegensatz zu bekannten Produkten wie Maotai oder Wuliangye nicht viel, umgerechnet kaum mehr als 50 Cent. Ob 52, 56 oder 60 Prozent, manch Kopfschmerz war am nächsten Morgen die Folge gewesen, dem gern das heilige Versprechen folgte, sich nie wieder von einem chinesischen Dichter zum Bechern verführen zu lassen.
Bei Dao trinkt auch heute noch aus gewöhnlichen Schalen à 2 cl. Das hat sich bei mir geändert. Ich bevorzuge nun Weingläser à 0,2 l. Wie das? Bin ich eine Schnapsdrossel? Weit gefehlt! Bei einem Weinglas erst beginnt die Kunst des rechten Gebrauchs flüssiger Betäubungsmittel. In Ji’nan, der Hauptstadt der Provinz Shandong, habe ich dieses Talent anlässlich meiner ersten Gastprofessur entwickeln müssen. Ein großes Glas hat einen untrüglichen Vorteil. Der Trinker, der von jedermann zum Wettkampf aufgefordert wird, weiß, wie viel er jeweils trinkt. Ein Stamperl dagegen, wie man in Wien sagt, erlaubt keine Kontrolle, es lässt sich nicht gut zählen und auf die Gesamtmenge umrechnen. Demgemäß wird der Genießer eines Schnapspokals sein Talent einzuteilen wissen, der Genießer eines Fingerhuts dagegen nicht. Zwei weitere wichtige Komponenten dieser chinesischen Variante eines vermeintlichen Komasaufens sind Wasser oder Tee und, ganz wichtig, die Güte des ausgeschenkten Schnapses. Auf jeden Tropfen Hochprozentiges hat ein Tropfen Wasser oder Tee zu folgen, so der Rat aus der Heimatprovinz des Konfuzius, wo inzwischen 70-prozentige Getränke in Mode gekommen und bei richtigem Genuss durchaus zu überleben sind.
Für Letzteres bin ich ein immer noch äußerst lebendiges Beispiel. Jedes Jahr im Rahmen meiner Gastdozenturen in Tsingtau (Qingdao) zum dortigen Langyatai eingeladen, landete ich nie unter dem Tisch und stand morgens vergnügt auf. Schließlich hatte ich ja ein Mehrfaches an Tee getrunken! Unberechenbar ist eigentlich nur das, was ausgeschenkt wird. Lässt es sich vor dem ersten Schluck prüfen? Farbe und Geruch sind dem Kenner ernst zu nehmende Boten von Tod und Leben. Hierfür bedarf es vieler Jahre geduldigen Trainings von Auge und Nase. Die investierte Zeit lohnt jedoch, wenn man jemals in die Verlegenheit geraten sollte, als Stellvertreter einer Reisegruppe mit Mongolen oder Kirgisen in einen unglückseligen Trinkwettstreit geschickt zu werden.
Der Himmel ist hoch, hatte es einst geheißen. Dies galt noch für das gesamte China der 1970er-Jahre. Seitdem hat sich der Himmel jedoch über nicht wenigen Landstrichen zu senken begonnen. Die großen Städte kennen kaum noch den Anblick eines ätherischen Blaus und den Atemzug eines unvergifteten Hauches. Reich werden ist gut, so heißt es heute in den östlichen und südlichen Landesteilen. Koste es, was es wolle. Statt einmal wöchentlich ein von Sand oder Wolke naturbedingtes Grau gern akzeptieren zu wollen, hat der Großstädter nun fast täglich ein Grau aus Schloten oder Heizungen zu erdulden.
Kashgar im äußersten Südwesten von Xinjiang ist nicht reich und will vielleicht auch niemals freiwillig reich werden. Verglichen mit Städten wie Peking, Tsingtau oder Schanghai ist es rückständig und erlaubt, was sein Erscheinungsbild angeht, eine Erinnerung an das äußere Erscheinungsbild von China zur Zeit der Kulturrevolution. Trostlos breite Straßenzüge, hässliche Betonkästen, verfallende Sehenswürdigkeiten. Von Orient oder Romantik keine Spur. Beispielhaft ist das völlig verwahrloste Museum von Kashgar. Hinter seinen zerschlagenen Fenstern und brüchigen Türen hat es außer der materiell belegten These, dass Xinjiang seit der Frühen Han-Zeit, seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert, zum Reich der Mitte gehört, fast nichts zu bieten.
Doch halt!, darf man hier nur die augenscheinliche Rückständigkeit sehen? Man könnte doch auch das unverfälschte Licht und die saubere Luft genießen. Hat beides nicht überlebt wie das Stück Seide aus der Tang-Zeit (618–907), das, nach mehr als tausend Jahren dem Sand entnommen, heute noch immer im düsteren Museum grünlich aufscheint? Und was ist mit den Obstgärten in den weiten Hofanlagen geräumiger Privathäuser am Stadtrand, von denen es so viele geben soll?
Wir sind am ersten Abend zum Essen bei dem Leiter des Zweigunternehmens vor Ort, einem Uiguren, eingeladen. In hohen Empfangsräumen sind zu ebener Erde die Tische gedeckt. Wir ziehen die Schuhe aus und lassen uns gern zu Melonen, Fladenbrot und Joghurt nieder. Vor dem Hammel wird – Abstinenzgebot hin, Abstinenzgebot her – zuerst ein Apfelwein ausgeschenkt. Ich neige jedoch eher, wie andere auch, dem anschließend folgenden Schnaps aus Yili zu. Er hat nur 52 Prozent und erweist sich als bekömmlich. Wirkliche Opfer werden an diesem Abend noch nicht erwartet. Wir leeren unsere großen Schalen nach Gutdünken, ohne mit dem Hausherrn in einen Wettkampf treten zu müssen.
Trotzdem beginnt sich hier schon abzuzeichnen, welches Triumvirat ein paar Tage später das Trankopfer bei den Kirgisen zu bestehen hat: der iranische Dichter Ehmran Salahi (1947–2006), der die letzten glücklichen Tage seines Lebens mit uns verbringt, der schottische Dichter William Neil Herbert (geb. 1961), der noch nicht um die heftigen Folgen des uigurischen Feuerwassers weiß, und der deutsche Dichter mit dem chinesischen Namen Gu Bin (geb. 1945), der zwar theoretisch wie praktisch perfekt vorbereitet scheint, doch bislang nie die Bekanntschaft mit einem gefälschten Produkt in flüssiger Form hat machen müssen. Und der Ersatzkandidat Yang Lian, der, wie wir erst später bemerken sollten, die Kunst des Fingers im Hals beherrscht. Alle drei bzw. vier treten, sich künftiger Siege gewiss, nach dem Essen in einen der von Wein überwachsenen Höfe, um sich in der Dunkelheit mit dem letzten Fähnlein der Poeten Richtung Großer Platz aufzumachen. Folklore mit Mao-Statue im Hintergrund ist dort angesagt. Es sind hauptsächlich Alte, die tanzen und singen.
Langsamkeit hat auch etwas für sich. Im „Hotel von Kashgar“ sind wir die einzigen Gäste. Ob wir kommen oder gehen, ob wir essen oder nicht, überall stehen junge Uigurinnen in Landestracht auf den Fluren und in den Räumen. Wir sind genügsam und bedürfen ihrer Fürsorge nur selten. So stehen sie, bald zum Bild erstarrt, den lieben langen Tag in freundlicher Erwartung an einer jeden Tür. Sie sind nicht verschleiert. Ebenso wenig die Tänzerinnen, die in einem Obstgarten am Grab der „nach Oliven duftenden Konkubine“, einer Favoritin des Qianlong-Kaisers (1736–1796), eines Vormittags auf uns zu Gesang und Tanz warten. Sie sind bauchnabelfrei, geben sich vergnügt und fordern uns spielerisch auf, ihre erotisch erscheinenden Bewegungen nachzuahmen.
Uns will das nur tölpelhaft gelingen. Weil wir zu alt sind? Zu verklemmt? Zu tollpatschig? Mag alles sein. Manchen freilich erscheint der Genuss von Äpfeln und Feigen in den überwachsenen Laubengängen weniger gefährlich. Doch statt immer nur Reißaus zu nehmen, werden die Poeten bald zu bedenken haben, ob die Verse, die ihnen während der Reise abgefordert werden, nicht auch den schönen Tänzerinnen gelten dürfen, die uns bald an allen Orten ausgelassen erwarten. Herrscht nicht hier ganz augenscheinlich noch die Unschuld wie vor mehr als dreißig Jahren im ganzen Lande, da Mann und Frau gar nicht so recht wussten, was sie zu Mann und Frau macht?
Doch auch in Kashgar beginnen die Zeichen einer neuen Zeit langsam Einzug zu halten. Die Moschee von 1442 war einst das höchste Gebäude der Stadt. Vielleicht ist sie es ja immer noch, aber der weite offene Platz drumherum ist während der letzten zehn Jahre mit Kaufhäusern bebaut worden, so dass das Minarett zumindest kleiner wirkt. Für die alte Zeit sprechen jedoch die Zünfte. Im Rund haben sich Korbmacher, Scherenschleifer, Zahnärzte, Kupferschmiede niedergelassen, als sollte das Mittelalter nie ein Ende haben.
Vor dem Besuch der Moschee ist uns der Genuss des lang versprochenen lokalen Weins während des Mittagessens untersagt worden. Man dürfe die Stätte nicht mit einer Fahne (jiuqi) betreten. Wir halten uns daran und werden reich entschädigt. Die inneren Gärten kühlen die Hitze, und die Blicke folgen gern den griechisch wirkenden Säulen in die Tiefe der Anlage. Als aber am Abend im ersten Lokal vor Ort selbst Bier nicht ausgeschenkt werden darf, erscheint einigen der Poeten die im Anschluss vorgesehene Konferenz verlockender als das schmackhafte Essen. Luo Ying wird uns in versteckten Räumlichkeiten des Hotels eine Flasche Schnaps und etwas Bier aus Peking mit der Bitte zustecken, nicht auf die Teppiche zu kleckern. Der Duft würde bleiben und ihn als Leiter der Reise in Verlegenheit bringen. Wir kommen seinem Wunsch gern nach, ist doch ein jeder Tropfen für die durstige Schar kostbar genug.
Reisen durch Xinjiang bedeutet stundenlange Fahrten in Minibussen. Unterwegs trifft man selten auf Menschen oder Dörfer. Die natürlichen Bedürfnisse der Reisenden werden auf alte Art befriedigt. Frauen haben sich links und Männer rechts von den Minibussen in die wenigen Büsche zu schlagen. Für Speis und Trank ist unterwegs gesorgt: Hie und da finden sich an grünen und wasserreichen Orten weiträumige Jurten, die uns bequem aufnehmen können. Auch hier erwarten schmucke Tänzerinnen wie in einem Epos die Ankunft der Dichter, um mit ihnen springen und singen zu können. Meine Augen gelten weniger ihnen als den hohen Gebirgszügen am Horizont. Immer wieder werde ich unseren uigurischen Reisebegleiter aus Kashgar befragen, was denn nun der Baisha Shan, der Kunlun, was Karakorum und was der Pamir sei. Stets werde ich andere Antworten bekommen und auf jeweils andere Massive verwiesen werden, die sich in den lichten Seen oder den grauen Wüsten spiegeln. Zu guter Letzt werde ich mich mit dem Hinweis auf das leuchtende Rot der Berge und auf die schwarze Lava der Gletscher vertröstet geben müssen. Erst eine chinesische Landkarte daheim soll mir den gewünschten Aufschluss geben und mich in neue Verwirrung stürzen. Wenn ein menschenleeres Gebirgsmassiv 1 200 Kilometer lang und über 7 000 Meter hoch ist, lässt sich da noch sinnvoll nach einem Namen fragen?
Xinjiang war einst nicht nur der Ort der Verbannung, sondern auch der Ort der Abschiede. Krieger und Beamte wurden an den fernen Enden der Seidenstraße von Freunden mit einem guten Becher verabschiedet. Die Quellen sprechen auch von Gesang und Tanz und traurigen Mägden. Bei den Kirgisen hat sich noch die Sitte erhalten, Gäste am Ortseingang mit Schnaps und Gebäck zu begrüßen. Man nennt dieses „Xiamajiu“, eine feuchte Bewirtung nach dem Abstieg vom Pferd. Auf diese Szene sind die drei vorgesehenen Opfer unserer Reisegruppe an einem frühen Vormittag gut vorbereitet. Der 52-prozentige Schnaps wird in kleinen Bechern ausgeschenkt und dient der poetischen Vorbereitung auf die kommende Rezitation des kirgisischen Epos „Manas“ im Städtchen Wuqia. Es ist dies die Geschichte eines Clans, der sich im neunten Jahrhundert gegen seine äußeren Feinde zu behaupten wusste. Seit dem zehnten Jahrhundert überliefert und im zwanzigsten aus Fragmenten rekonstruiert, werden von den über 200 000 Versen Auszüge zur Laute auswendig vorgetragen. Keiner von uns Poeten vermag auch nur ein einziges der eigenen Gedichte frei zu rezitieren!
Wer bei Kirgisen „von einem Pferd absteigt“, hat auch von Kirgisen beköstigt zu werden. Wir wissen, was das bedeutet. Während des Essens werden wir, die wir auf dem Boden hocken, in Zehnergruppen eingeteilt und sollen mit den Herren des Hauses im Wechsel große Schnapsschalen leeren. Jede Schale, gefüllt mit zwei Liang, ist auf einem Tablett in Empfang zu nehmen, ex zu trinken und wieder auf das Tablett zurückzustellen. Ich bin der Einzige, der in kleinen Schlucken trinkt. Bei der zweiten Runde geben die Ersten auf und müssen sich verziehen. Wer jetzt noch keine Probleme hat, wird noch welche bekommen. Doch wir wissen noch nicht, wann dies der Fall sein wird, da wir nie daran gedacht haben, dass, wer von einem Pferd steigt, auch wieder auf ein Pferd aufsteigen muss. Nach der dritten Runde meinen wir, eher nüchtern als trunken, zunächst Gesang und Tanz auf dem Großen Platz in praller Sonne und dann dem Polospiel mit totem Lamm unter verhangenem Himmel am Stadtrand beizuwohnen. Erst sitzen wir auf Stühlen und langweilen uns im Anblick sowjetischer Architektur, dann sitzen wir zu Pferde und genießen das wilde Treiben der Reiter, die, in zwei Mannschaften aufgeteilt, statt einer Kugel ein Lamm von einem Tor zu einem anderen zu bringen haben, das dabei immer wieder von Mitspieler zu Mitspieler durch die Lüfte fliegt.
Die Kirgisen sprechen kein Chinesisch, sie sprechen die Sprache der Gastfreundschaft. Am Ortsende haben wir den Bus zu verlassen. Wieder erwartet uns Schnaps, diesmal erneut in großen Schalen! Dies nennt man den „Umtrunk, da man das Pferd besteigt“ (Shangmajiu). Wir sind darauf nicht eingestellt, erfüllen aber unsere Pflicht. Noch weniger können wir ahnen, dass man uns noch ein volles Tablett in den Bus nachreichen wird. Der Schotte hat es seit dem Mittag auf vier Schalen gebracht, weniger habe ich mir auch nicht zugemutet. Nur unser Freund aus dem Iran meint, sieben Schalen vertragen zu können. Während alles auf der Heimfahrt Lieder anzustimmen beginnt, versinke ich in den himmlischen und wechselnden Farben der Berge. Es ist nur ein kurzes intensives Schauspiel von vielleicht nicht einmal dreißig Minuten. Dieser unwiederbringliche Anblick rechtfertigt jedes Opfer. Wirklich? Yang Lian, eigentlich als Ersatzopfer auserkoren, hatte bereits nach dem Mittagessen die Finger in den Hals gesteckt. Luo Ying hatte sich während der Autofahrt übergeben. Und wir letzten drei? Der Schotte ging gleich nach der Ankunft im Hotel von Kizilsu (Kezhou) schlafen, der iranische Dichter musste von drei Kollegen aus dem Bus ins Bett getragen werden. Selig, wie er schien, war er zu keiner eigenen Bewegung mehr fähig.
Was abends unheilvoll ausklang, sollte morgens mit der Volksbefreiungsarmee beim Frühstück einen guten Anfang finden. An großen, runden Tischen wurden wir so fürstlich bewirtet, als bestünde zwischen einem Poeten und einem Soldaten kein Unterschied. Es sollte nicht das einzige Mal sein, dass wir zum Essen vom Militär eingeladen werden. Am letzten Abend gar in den Stützpunkt von Kashgar, wo Ausländer eigentlich keinen Zutritt haben. Luo Ying, der im Süden von Xinjiang Fünfsternehotels baut, bezeichnet die dortigen Soldaten – die trefflichsten ihrer Art – als seine besten Freunde. Im Erscheinungsbild der Stadt normalerweise so unsichtbar wie Poeten in der Welt, gibt sich das Militär beim Bankett alle Mühe, sichtbar zu sein: Han-Chinesen haben für uns gekocht und bedienen uns auch. Eine Spezialität sind wilde Pilze und wilde Gemüsesorten. Ihre Wildheit steht Dichtern gut.
Jede Reise ist eine Erinnerung, und da jede Erinnerung eine Traurigkeit ist, endet auch jede Reise mit einer Traurigkeit. Auf dem Weg nach Peking legen wir in Urumtschi einen Zwischenstopp ein. Hier sind die Straßen noch baumbestanden wie einst in der Hauptstadt des Landes. Die China Daily gibt es nur von letzter Woche. In den Banken kann man kein Geld ziehen, wie überall mühelos in Schanghai oder Tsingtau. Bei all der Rückständigkeit eigentlich ein Ort für Dichter. Doch unsere Stimme will an der größten Universität der Provinz niemand hören. Wir schenken sie uns und unseresgleichen ein letztes Mal. Luo Ying hat in einem Hotel Tische mit lokalem Rotwein und landesüblichen Knabbereien decken lassen. Jeder von uns, ob Poet, Übersetzer oder Rezitator, wird mit einem Blumenstrauß verabschiedet. Das Fernsehen vor Ort zeichnet uns auf, als gäbe es von uns doch noch etwas der Welt mitzuteilen.
Was nehme ich mit? Eine Lilie aus Urumtschi wird mich nach Peking begleiten. Zum Abschied an einem letzten Freitagabend im September hat Luo Ying erneut Rotwein auffahren lassen. Nur für internen Gebrauch steht auf der Kiste. 200 US-Dollar kostet eine jede Flasche aus chinesisch-französischer Produktion. Ein würdiger Abschied für Emran Salahi, der seinen Traum China auf seine Art verwirklicht hat und mich in die Arme nimmt. Er verstehe weder Chinesisch noch Deutsch, aber er verstehe meine Stimme, gesteht er in broken English. Und ich verstehe seine Muttersprache nicht, verstand aber die englischen Übersetzungen seiner Gedichte und seinen Singsang. Von Papierfliegern und 1001 Spiegeln war da die Rede. Ein Singsang, der auch den Kirgisen gefallen hatte. Anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens des Städtchens Atushi hatte er stellvertretend für die Dichter der Welt das würdige Ereignis auf einem großen Platz unter dem freien Himmel des Pamir besingen dürfen. Danach regnete Lametta vom Himmel. Verstehen Kirgisen nicht nur etwas von Schnaps, sondern auch von Poeten? Vielleicht. Wir wollen nicht übertreiben.
Emran Salahi wird heimkehren und in Teheran den Freunden von seinem lang gehegten und endlich erfüllten Traum berichten. Dabei wird er noch manch guten Tropfen genießen. Natürlich wider den Rat, den ihm seine chinesische Übersetzerin mit auf den Weg gegeben hatte. Sein Herz macht jedoch so viel Glück nicht mit. Kurz nach der Rückkehr setzt es aus. Unser Obolus: ein Vers, ein Schweigen, eine Dankbarkeit.
Wolfgang Kubin ist Sinologe, Übersetzer und Schriftsteller. © Le Monde diplomatique, Berlin