Brief aus Lissabon
von Sandra Monteiro
Der Juli dieses Jahres war reich an Ereignissen, Debatten und Kommentaren, die ein wenig Schwung in die gedehnte Zeit der heißen Ferienmonate gebracht haben.
Eine politische Krise führte zur Auflösung der Lissabonner Stadtverordnetenversammlung und zu Wahlen, aus denen die Sozialistische Partei als Siegerin hervorging, allerdings innerhalb einer deutlichen Mehrheit von linken Parteien und Gruppierungen und selbst ohne absolute Mehrheit. In den Diskussionen über die Projekte der Stadt ging es immer wieder um Aspekte der mehr oder weniger atlantischen, iberischen, mediterranen und afrikanischen Identität Lissabons, um seine „Berufung zur Weltoffenheit“, um sein Verhältnis zu Europa und der Welt, um seine Rolle als Ort der kulturellen Vielfalt.
In dem, was über die Zukunftsprojekte Lissabons gesagt und geschrieben wurde, gab es auch immer wieder Diskussionen im Kontext der portugiesischen Präsidentschaft der Europäischen Union. Die Aufmerksamkeit der Medien galt vor allem dem EU-Gipfeltreffen mit Brasilien und Afrika und dem europäischen „Reformvertrag“.
In diesem Zusammenhang gab der Schriftsteller José Saramago der Zeitung Diário de Notícias ein Interview, das unter dem Titel „Ich bin kein Prophet, aber Portugal wird sich letztlich Spanien anschließen“ am 15. Juli 2007 veröffentlicht wurde. Darin äußerte der Literaturnobelpreisträger seine Überzeugung, dass es letztlich auf dem Höhepunkt der „territorialen, administrativen und strukturellen Annäherung und Integration“ einen „iberischen Zusammenschluss“ geben werde, allerdings unter Beibehaltung der unterschiedlichen Sprachen und Kulturen der iberischen Völker. Portugal und Spanien würden sich dann zusammen „Iberia“ nennen.
Reaktionen auf das Interview füllten – nicht nur in Portugal – die Zeitungen. Die spanische Tageszeitung El País räumte dem Thema Sonderseiten ein. Die portugiesische Blogosphäre und das Fernsehen griffen die Debatte auf, Intellektuelle und Politiker wurden zu ihrer Meinung befragt. Der portugiesische Außenminister Luís Amado erklärte, er habe seinerseits eine „ganz andere Sicht der Dialektik der Beziehungen zwischen den beiden Länden in den nächsten Jahrzehnten“ (RTP online, 17. Juli 2007.)
Ein paar Tage lang spalteten sich die in der Auseinandersetzung engagierten Portugiesen in zwei Lager – wobei allerdings weder die Zusammensetzung der beiden Lager noch die ausbleibende Begeisterung irgendwen überraschten.
Da gab es Reaktionen – von rechts, die sich über die „Auslassungen des kommunistischen, antinationalistischen Schriftstellers“ empörten, welche „die Geschichte dieses Landes missachten, das die ältesten Grenzen Europas hat“. Und Reaktionen – von links, die den „fiktiven oder utopisch literarischen Charakter des Vorschlags“ hervorhoben. Dabei waren sie jedoch vor allem geteilter Meinung, was am Antieuropäismus oder Altereuropäismus von Saramagos Ausführungen denn nun kritikwürdig sei.
Das linke Lager war auch gespalten, was die Interpretation einer schon im vorangegangenen Jahr von der Wochenzeitschrift Sol durchgeführten – und nun natürlich wieder aufgegriffenen – Befragung betraf, die zum Ergebnis gekommen war, dass 28 Prozent der Portugiesen für eine iberische Integration seien. Die Zeitschrift sah darin entweder den Ausdruck eines realen Wunsches, der „natürlicherweise“ entsteht, wenn das Nationale nicht mehr grundsätzlich „als Opposition gegen die neoliberale Globalisierung“ dient, oder aber „lediglich“ den Ausdruck des Protests gegen den immer tieferen Graben, der sich zwischen den Lebensbedingungen von Portugiesen und Spaniern auftut. Die sozioökonomische Entwicklung in Spanien kommt nämlich sehr viel schneller voran.
Ein paar Tage lang raunten die üblichen Meinungen durch den öffentlichen Raum, dann verstummte die Debatte wieder, ohne wirklich geführt worden zu sein.
Mich interessiert – und stört – daran vor allem die Tatsache, dass es sich hier um ein Paradebeispiel dafür handelt, wie in der portugiesischen Gesellschaft wiederholt und blitzartig Fragen aufgeworfen werden, die durchaus unterschiedliche Haltungen provozieren und öffentlich diskutiert werden. Doch weder sind die meisten Menschen im Bilde, was dabei auf dem Spiel steht, noch hat die Debatte einen nennenswerten Einfluss auf die „spontane“ Meinung, die jeder zu Beginn einer solchen Diskussion ohnehin schon hat.
Tatsächlich war dies nicht das erste Mal, dass José Saramago diese Idee vorbrachte. 1986, als Portugal Mitglied der EU wurde, veröffentlichte er das Buch „Das steinerne Floß“, in dem er sich ausmalte, dass die iberische Halbinsel sich vom europäischen Kontinent löst und, zu einem steinernen Floß geworden, auf der Suche nach einer Identität für Portugiesen und Spanier ganz allein dahintreibt. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass die Wiederaufnahme dieses Themas in dem Monat, in dem Portugal die Präsidentschaft der Europäischen Union übernimmt, ein Zufall war.
Unabhängig davon, welche Haltung man zu Iberismus, Europäismus und anderen identitätsstiftenden Konstruktionen haben mag, scheint mir der wichtigste und zugleich am meisten vernachlässigte Beitrag, den diese öffentliche Debatte leistet, eben der zu sein, dass sie die Bürger über die Auswirkungen historischer Konstruktionen auf nationale und regionale Identitäten aufklärt.
Ich möchte an dieser Stelle ein paar kurze persönliche Anmerkungen machen. Zum einen denke ich, dass die verschiedenen Identitäten in aller Regel sehr gut miteinander auskommen. Ich bin von Hause aus Historikerin, wurde als Portugiesin in Angola geboren und habe erst später – nachdem die ehemalige portugiesische Kolonie 1975 die Unabhängigkeit erlangte – die angolanische Staatsangehörigkeit angenommen, ging anschließend nach Portugal, um dort zu leben. Vielleicht liegt es ja an meiner persönlichen Geschichte, dass ich Staatsangehörigkeit bei all ihrer Bedeutung nicht als etwas Ausschließliches oder Ewiges, sondern vielmehr als ein Privileg betrachte, als eine in jedem Augenblick der Geschichte vorhandene Übereinstimmung zwischen der politischen Gestalt eines Territoriums und dem Willen der Bürger, die in ihm leben.
Dies vorausgeschickt, möchte ich daran erinnern, dass die iberische Frage (mindestens) so alt ist wie das Land Portugal, das 1143 entstand. Die Frage wurde von den unterschiedlichen politischen Machtblöcken (dem religiösen, dem politischen, dem wirtschaftlichen und so weiter) in der Vergangenheit immer wieder aufgegriffen und neu interpretiert.
Auch wenn ich Gefahr laufe, allzu schematisch zu verfahren: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwarf die liberale portugiesische Romantik eine Identität der portugiesischen Nation, die sich auf eine bestimmte geschichtliche Darstellung gründet. Demnach verlor das ursprünglich hispanische Volk seine Identität durch die sogenannte islamische Invasion, die im Jahr 711 zur Niederlage des westgotischen Reiches und der Islamisierung der Halbinsel führte. Dass dieses Volk sich als eine vom Rest der iberischen Halbinsel unabhängige Nation habe konstituieren können, liege an der Rolle, die es bei der sogenannten Reconquista, der christlichen Wiedereroberung des islamisierten Raums, gespielt habe.
Der Estado Novo, wie die zwischen 1926 und 1974 herrschende Diktatur bezeichnet wurde, hat diese Darstellung weiter festgeschrieben sowie noch einige Elemente herausgenommen und sie damit noch stromlinienförmiger gemacht. Erst nach der Nelkenrevolution begann man diese Sichtweise, die jahrzehntelang in den portugiesischen Schulen gelehrt wurde, in wichtigen Aspekten zu revidieren. So bestätigen die neuen von der Forschung zur Verfügung gestellten historischen und archäologischen Daten keinesfalls die These der islamischen Invasion, sondern weisen auf ein allmähliches Zusammenwachsen der Gemeinschaften hin.
Die kritische Betrachtung kirchlicher Texte zeigt, welche Rolle die Kirche bei der Entstehung der These von Invasion und Reconquista gespielt hat – und wie damit die politische Macht der ersten portugiesischen Dynastie und die Unabhängigkeit von Kastilien legitimiert wurde. Portugiesische wie spanische Quellen betonen immer wieder, dass die Restauration des 17. Jahrhunderts zwar die zeitweilige Personalunion in Form eines Königs für beide Länder beendet hat, die vollkommene Übereinstimmung zwischen den beiden iberischen Monarchien jedoch ließ sie völlig unangetastet.
Jede Zeit besitzt ihre Mythen, und wer immer diese zu dekonstruieren versucht, bereitet unvermeidlich der Bildung neuer Mythen den Weg. Dennoch ist eine Gesellschaft, die sich selbst kritisch zu betrachten in der Lage ist – durch Information, Wissen und Diskussion –, von einer zu unterscheiden, die ihre mehr oder weniger heroischen Mythen als „natürlich“ betrachtet und fortschreibt. Und zweifellos bediente die historiografische und literarische Tradition Portugals lange Zeit den Mythos von den heroischen Männern, die den Kampf um die Rückkehr zum Katholizismus auf der Halbinsel begannen und damit Portugals Autonomieanspruch in die Welt setzten.
Nach dem Ende der portugiesischen Diktatur wurde die Nähe des Regimes zum Nationalismus und dessen Symbolen sehr deutlich. Diese Beziehung ist heute viel komplexer, zumal auch die Wahrnehmung des Nationalen im Kontext der Globalisierung komplexer geworden ist.
In den vergangenen Monaten hat es in den Medien Äußerungen gegeben, die vermuten lassen, dass sich mit der EU-Präsidentschaft neuere nationalistische Neigungen verstärken werden. In Fernsehspots ist die Rede von der „historischen Mission“, Europa aus der Sackgasse zu führen und Zustimmung zum Verfassungsvertrag zu erreichen – und von der „nationalen Schicksalsfrage“, bei Nichterfüllen der Mission zu „scheitern“. Es kommt einem fast so vor, als würde eine apolitische nationale Mobilisierung an die Stelle des Streits über die Inhalte des Vertrags treten und als wäre es nicht mehr wichtig, dass die sozialistische Regierung ihr Wahlversprechen, den Vertrag einem Referendum zu unterwerfen, auch erfüllt.
Ich erinnere mich an Umfragen aus dem Jahr 2005. Da hieß es, die Portugiesen hätten zu den entschiedensten Verfechtern eines europäischen Verfassungsvertrags gehört – hätten aber zugleich auffällig wenig über den Vertragstext Bescheid gewusst.
Wenn Individuen oder Gesellschaften eine Entscheidung nicht auf der Grundlage von Wissen, kritischer Reflexion und im Bewusstsein der Dynamik aller historischen gesellschaftlichen Prozesse treffen, dann neigen sie zur Wiederholung der schon einmal gemachten Fehler. Und wenn ich mich umschaue, habe ich fast den Eindruck, als hätte hier niemand eine Entscheidung gefällt.
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann Sandra Monteiro leitet die Redaktion der portugiesischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.