Zurückessen
von Katharina Döbler
Tiere töten: An einem heißen Sommertag, am Mittelmeer. Man saß im angenehmen Schatten der Pergola. Die Sonne spielte im Laub. Es sah aus, als ob die Blätter hüpften. Ich setzte die Brille auf. Sie hüpften tatsächlich. Die schönen Weinblätter hatten Beine. Und Fühler. Und lange Mundwerkzeuge, mit denen sie alles niederfraßen, was ihren Weg kreuzte. Es waren Heuschrecken. Sie hatten sich ihrer Umgebung so gut angepasst, dass sie sogar zarte Blattrippen auf ihren grünen Flügeldecken zeigten. Ein Wunderwerk der Natur. Doch der Hausbesitzer hatte uns einen strikten Befehl erteilt: Wenn ihr im Garten eine Heuschrecke seht, tötet sie sofort.
Wie bringt man eine Heuschrecke um? In Mexiko, sagte eine Person, wirft man sie in siedendes Öl. Wir hatten kein siedendes Öl. Aber ich glaube heute noch, wenn wir damals die Heuschrecken nicht nur getötet (ich verrate nicht, wie), sondern auch gegessen hätten, wäre mein Gewissen leichter.
Gut sein: Menschen lassen sich marktwirtschaftlich gut unterscheiden. Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen und so weiter bestimmen ihr Konsumverhalten. Auch die Religions- und Parteizugehörigkeit. Das ist einer der Gründe für unsere soziale Toleranz: Jede Konsumgewohnheit bedeutet ein Marktsegment. Besonders gut lässt sich das an Nahrungsmitteln erkennen, wie beim Einkaufswagen-Spiel im Supermarkt: Schau, was darin liegt, und rate, wer ihn schiebt. Tiefkühlpizza mit Salami? Ziegenkäse? Schweinemett? Fettarme Biomilch? Salat? Schnaps?
Essen ist ein wichtiger Indikator für den sozialen Status. „Ich ernähre mich gesund“ ist ein Satz, der auf Bildung, gehobenes Selbstwertgefühl und Verantwortung hinweist. „Ich ernähre mich bewusst“, die Steigerungsform davon, hat schon eine moralische Komponente. Und in der Tat: Einer der leichtesten Wege, ein besserer Mensch zu werden, ist es, besser zu essen. Er bedarf keiner tiefgreifenden Veränderung im Denken oder gar im Fühlen, keiner, wie man früher, ganz früher, gesagt hätte, wie auch immer gearteten Tugendhaftigkeit. Man braucht nur zu wissen, dass, wer keinen Thunfisch ist, die Welt bereits zu einer etwas besseren macht.
Um ein guter Mensch zu sein, fährt man im Bioladen vor und kauft den fair gehandelten Kaffee, die regionalen pestizidrückstandsfreien Erdbeeren und das Fleisch von Tieren, die bis an ihr jähes Ende gelebt haben wie im All-inclusive-Urlaub. Das alles gibt es natürlich nur im gehobenen Preissektor, wir leben schließlich im Kapitalismus. Aber in den Kosten für das Abendessen ist dann auch etwas enthalten, das man nicht überall kriegt: ein deutlich verbessertes Gewissen, oder wer es etwas spiritueller mag: gutes Karma. Gut essen ist also eine einfache, wenn auch nicht ganz billige Weise, seine gefühlte Güte deutlich anzuheben. Man kann sich gewissermaßen gutessen.
Gut essen: Früher verstand man darunter, ohne Mangel zu essen. Die Kinder der Kriegsgeneration sind noch aufgewachsen mit dem Satz: Im Krieg wären wir froh gewesen … um eine solche Graupensuppe, um altes Brot mit Margarine. Gut essen war sattessen. In den 1950er Jahren gaben sich die Deutschen einer Fresswelle hin. Die Steigerung war: satt essen, fett essen, süß essen, Fleisch essen. Verfeinerungen kamen mit der Zeit – und immer exotischere Zutaten: Ketchup. Auberginen. Meeresfrüchte. Kiwi … Lange ging es beim Essen eben um Essen, nicht um die Moral. (Die seltenen Vegetarier waren mit dem Hinweis auf Hitler, der bekanntlich Vegetarier war, leicht mundtot zu machen. Allerdings boykottierte man als guter Mensch natürlich Orangen aus Südafrika, um das Apartheidregime zu untergraben.) Die Frontlinie zwischen den verschiedenen Ess-Schulen verlief entlang der Ekelgrenze. Der Kampf wurde ohne große Erbitterung zwischen Kartoffel-und-Fleisch-Spießern und Austern schlürfenden Freigeistern ausgetragen. (Interessanterweise ekeln sich viele Austernesser von heute vor schlichten alten Gerichten wie Lungenhaschee oder paniertem Kalbsbries.)
Ekel und Appetit haben bekanntlich mit Kultur zu tun. Und damit auch mit zivilisatorischen Hierarchien. Innereien sind „niederes“ fettarmes Fleisch, die Speise der Armen, Tierfutter, von Menschen gerne verschmäht. Die wechselhafte Karriere des Lachses beispielsweise folgt interessanten sozialen Kurven. Vom massenhaft vorhandenen Allerweltsfisch, den man den Hausangestellten vorsetzte, wurde er zeitweilig aus Gründen der Verknappung (was mit Flussregulierungen zu hat, aber das ist eine andere Geschichte) zur Delikatesse; und ist nun als Zuchtlachs wieder zur ungeliebten Massenware geworden.
Ein schlagendes Beispiel für kulinarische Hierarchien ist das Sushi: In meiner Kindheit war es ein beliebter Schocker, bei Tisch zu erzählen, die Japaner äßen rohen Fisch – nicht eingelegt, nicht geräuchert, einfach roh. Es wissen ganze Völkerschaften nicht, was gut ist, pflegte mein Großvater gemütvoll zu bemerken. Er hatte sein halbes Leben in Neuguinea verbracht. Ich aber war mit kulinarischen Höhepunkten wie Hawaii-Toast und Steak aufgewachsen. Die Vorstellung von kaltem Reis mit totem Fisch zum Frühstück trieb mir Tränen des Ekels in die Augen.
Fünfzehn Jahre später aß ich mein erstes Sushi. In diesen fünfzehn Jahren war Japan vom Herkunftsland billiger Plastikprodukte zum Exporteur anspruchsvoller Unterhaltungselektronik geworden. Gitarren, Motorräder und Autos aus Japan verloren den Ruf billiger Imitate. Die Japaner hatten, so entdeckte man in Europa, eine interessante Kultur: Essstäbchen, Kimonos, Fujiyama – und Sushi. Das erste Reisbätzchen mit rohem Fisch drauf kostete Überwindung. Beim dritten Mal schmeckte es bereits köstlich.
Zurück zu den Heuschrecken: Meine erste Portion Heuschrecke erforderte nicht nur Mut, sie schmeckte auch fürchterlich. Das lag wahrscheinlich nicht an den Heuschrecken, sondern am Koch, der in einem sehr rustikalen australischen Restaurant in einem abgelegeneren Viertel Berlins amtiert. Ein Gericht namens „Buschteller“ bietet dort so etwas wie einen Rundumschlag in den Randbezirken des Essbaren: Känguru, Krokodil, Schwarzkäferlarven und Heuschrecken liegen so geschickt auf grünen Blättern verteilt, dass man sie ohne Brille gerade noch sehen kann. Wahrscheinlich ist es im australischen Busch auch so, wenn man nach etwas Essbarem sucht.
Die Larven sehen genau wie Würmer aus, sie haben Ringe und sind braun, lang und dünn. Man macht es mit ihnen und den Heuschrecken genauso wie mit kleinen, ganz gebratenen Sardinen: Man steckt sie einfach in den Mund, mit Kopf und allem, und beißt hinein. Das knirscht ein bisschen, im Mund krümelt und splittert es. Etwas weniger, wenn man den Heuschrecken die Flügel entfernt. Sie schmecken nach altem Frittierfett. Eine ziemlich enttäuschende Erfahrung, da der einschlägigen Literatur zufolge Insekten durchaus nicht wie angebrannte Mumien schmecken müssen.
Dass Ameisen und Skorpione eher knusprig sind, wird niemanden wundern. Letztere sollen frittiert besser schmecken als aus dem Wok. Chinesische Arbeiterinnen in Seidenfabriken nehmen sich gelegentlich einen Topf voll Seidenlarven mit nach Hause, die ohne ihren Kokon sowieso keine Zukunft mehr haben, und bereiten sie im Wok mit Sojasauce zu. Termiten sind im Gegensatz zu Ameisen ziemlich fett und haben mehr Kalorien als Pizza – die Behauptung, alle Insekten seien fettarm, ist also falsch. Die Larve des Holzbohrers erfreut sich großer Beliebtheit im australischen Outback. Geschmack und Konsistenz gebratener „Witchetty Grubs“ werden verglichen mit Rührei und Mozzarella mit leicht nussiger Note, gehüllt in feinen Blätterteig. Das könnte man sich gut mit Tomatensoße vorstellen. Warum gibt es hier keine gehobenen Köche, die dergleichen zubereiten? Warum essen wir so etwas nicht?
Esskultur: Es gibt auf der Welt etwa 500 Insektenarten, die gegessen werden. In Europa sind es 27. Theoretisch. Wir essen zwar Garnelen und Shrimps, wir essen rohe Austern und Fischeier. Aber eben keine Heuschrecken. Und gerade die haben es verdient, dass zurückgegessen wird, sie haben genug Verheerungen angerichtet.
Essen ist etwas, das man lernt. Raffinierte Geschmäcker, wie der Hautgout von Wild, die leichte Bitterkeit von Spargel, das Schimmlige am Roquefort, kommen mit der kulturellen Anpassung. Sushi wurde im Westen erst populär, als die japanische Kultur als Bereicherung verstanden wurde. Das wiederum hat mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Japans zu tun. Was wir kulturell achten, essen wir auch. Und je höher wir es schätzen, desto mehr zahlen wir dafür. In Berlin, wo es ja alles gibt, kostet ein Tütchen geröstete Ameisen knapp sechs Euro. Sie verkaufen sich schlecht. Insekten verschwanden auch mangels Nachfrage von der Speisekarte eines angesagten Szenerestaurants.
Es hat also wenig Sinn, den Konsum von Insekten zu propagieren, weil sie so gesund sind. Und weil es moralischer ist, Maden aus Baumstümpfen zu sammeln, als Hühner zum Fraß zu züchten. Wir würden Insekten essen, wenn sie aus einer Kultur kämen, die wir akzeptieren, vielleicht sogar bewundern. Alles Übrige ist eine Frage der Sozialisation – wie der Hawaii-Toast.
Kinder essen, wenn sie klein sind, tendenziell alles; dann kommt eine Zeit, ungefähr gleichzeitig mit der ersten Trotzphase, in der sie nur Dinge essen, die nach nichts schmecken. Man könnte sich gut vorstellen, dass Holzbohrermaden zum Renner werden könnten.
© Le Monde diplomatique, Berlin