12.10.2007

Skandal um ein Bergwerk

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Skandal um ein Bergwerk

Brasiliens Unabhängigkeit am 7. September 1822 verdankt sich einem väterlichen Rat. Nur ungern verließ der portugiesische König João VI. 1821 seine tropische Residenz Rio de Janeiro. Hierher hatte er 1807, nach der Flucht vor den napoleonischen Truppen, das Zentrum des damaligen portugiesischen Weltreichs verlegt. Bevor er dreizehn Jahre später nach Portugal zurückkehrte, um seinen Thronanspruch zu sichern, soll er seinem Sohn Pedro zugeraunt haben, er solle sich selbst zum König von Brasilien machen, falls sich das Land eines Tages von Portugal lösen sollte.

Schon im folgenden Jahr befolgte der Prinz den Rat des Vaters mit einer Aktion, die unter dem Schlagwort „Der Ruf von Ipiranga“ in die Geschichte einging. Nach der Rückkehr des Vaters verlangte die portugiesische Ständevertretung Cortes auch die Rückkehr des Thronfolgers nach Portugal. Doch Pedro war unter dem Einfluss seiner Berater wenig geneigt, dieser Forderung Folge zu leisten. Mit dem Ruf „Unabhängigkeit oder Tod“ soll er am Ufer des Ipiranga im Staate São Paulo gestanden und seinen Degen gezogen haben. Ohne Volk, Schlacht und ruhmreichen Sieg begründete Pedro I., wie er sich fortan nannte, in Brasilien ein Kaiserreich, das alle wesentlichen Elemente der Kolonialzeit beibehielt – Sklaverei, Monokultur und Latifundien. Und die lokale Aristokratie behielt ihre Privilegien.

Es war am 7. September 1995, am Nationalfeiertag, als zum ersten Mal so etwas wie ein Echo des „Rufs von Ipiranga“ erscholl: der „Ruf der Ausgeschlossenen“ nach Brot, Arbeit, Land, Gerechtigkeit, Menschenwürde und Selbstbestimmung. In mehreren Städten Brasiliens wird so seitdem alljährlich auf die gravierenden Missstände im Land aufmerksam gemacht. An der Aktualität dieser Forderungen hat auch die vielversprechende politische Vision von Luiz Inácio Lula da Silva nichts geändert. Präsident Lula hatte vor Jahren versprochen, die umfassendste gesellschaftliche Veränderung in der Geschichte Brasiliens durchzusetzen (und man muss sagen: selbst die Herolde der ultrakonservativen Medien haben inzwischen zugeben, dass die Löhne gestiegen sind und die soziale Ungleichheit abgenommen hat).

In diesem Jahr versuchte der „Ruf der Ausgeschlossenen“ diejenigen zu erreichen, die immer noch nichts von einem der größten Skandale im Zuge der Privatisierung staatlichen Eigentums am Ende des 20. Jahrhunderts hören wollen: vom Verkauf des einst staatlichen Unternehmens Vale do Rio Doce (CVRD), der größten und am breitesten diversifizierten Bergwerksgesellschaft auf dem gesamten amerikanischen Kontinent und der zweitgrößten weltweit. CVRD, 1942 als staatseigener Betrieb in Itabira gegründet, besitzt unter anderem Eisen- und Aluminiumreserven, die Brasiliens Bedarf der nächsten drei Jahrhunderte decken könnte. Das Bergbau- und Logistikunternehmen ist außerdem Anbieter von Nickel, Mangan, Kohle, Bauxit, Kaolin, Kupfer und Kaliumkarbonat. Allein ein Drittel der Erlöse aus dem dritten Quartal von 2006 entsprechen dem Preis, den die Staatskasse für den Verkauf ihrer Aktien vor zehn Jahren erzielt hat.

„Der Vale-Verkauf ist ungültig. Das Los von Brasilien ist unser Los“ lautet der diesjährige Slogan der „Ausgeschlossenen“, die sich auf Initiative des fortschrittlichsten Flügels der katholischen Landeskirche Jahr für Jahr auf den Straßen versammeln. Nach und nach war es den Initiatoren gelungen, die gesellschaftlichen Kräfte zu integrieren, die sich am meisten engagieren, darunter die Bewegung der Landlosen (MST) und die Gewerkschaft CUT. 2007 ist die Bewegung enorm gewachsen, nachdem eine Kampagne, die sich über ein Jahr hinzog, nicht weniger als 62 Organisationen, Gewerkschaften und Vereine mobilisieren konnte. Große Hoffnung setzt diese breite Front nun in das Instrument der informellen Volksabstimmung, die im Jahr 2000 eingeführt wurde.

In jenem Jahr stimmten 6 Millionen Brasilianer für eine Revision der Schuldentilgung. 2003 sagten 10 Millionen Nein zum amerikanischen Freihandelsabkommen FTAA und trugen so dazu bei, dass das schon von US-Präsident Georg Bush sen. vorgeschlagene Projekt bis heute nicht zustande kam. Bei der Volksabstimmung über die Frage, ob die Versteigerung der Vale do Rio Doce rückgängig gemacht werden soll, hat der „Ruf der Ausgeschlossenen“ im ganzen Land Stimmen gesammelt. So gelang es der Bewegung, jenseits der brasilianischen Medien eine öffentliche Debatte in Gang zu bringen.

Dennoch sind nur wenige darüber informiert, dass am 6. Mai 1997 ein einträgliches und effizientes Staatsunternehmen mit einer riesigen Infrastruktur von Schiffen, Häfen und Eisenbahnen, mit Kapital und Vermögenswerten von insgesamt fast 94 Milliarden Dollar für nicht einmal 3,3 Milliarden Dollar verkauft wurde. Und kaum jemand weiß, dass es neben anderen Unregelmäßigkeiten bei der Privatisierung auch zu Insidervergehen kam. Denn die Banken und einflussreichen Firmen, die das Staatsunternehmen vor der Versteigerung bewerteten, waren anschließend auch dessen Käufer.

Und nur wenigen ist bekannt, dass seit zehn Jahren insgesamt 109 Prozesse anhängig sind, bei denen es um die Rücknahme der Versteigerung geht. Untergegangen ist auch, dass es durchaus Hoffnung auf eine gerichtliche Lösung gibt: Der „Fall Vale“ wurde Ende 2005 von einem hohen Gericht in Brasília erneut aufgerollt.

Schwer zu sagen, ob der „Ruf der Ausgeschlossenen“ von der Regierung erhört wird – ob sie sich dafür stark machen wird, die Versteigerung der Vale do Rio Doce zu annullieren. In einem Land, das vom täglichen Morden in den Favelas, von unzähligen Korruptionsskandalen und von der medial ausgeschlachteten „Barbarei der Gewalt in den Städten“ in Atem gehalten wird, ist der „Ruf der Ausgeschlossenen“ vielleicht die einzige Neuigkeit, die die Brasilianer aus ihrer politischen Apathie reißen kann. Elizabeth Carvalho

Le Monde diplomatique vom 12.10.2007, von Elizabeth Carvalho