12.10.2007

Indianischer Sozialismus in Bolivien

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Indianischer Sozialismus in Bolivien

von Juliana Ströbele-Gregor

Selten haben die politischen Ereignisse in Bolivien so polarisiert. Mit Evo Morales regiert ein Präsident mit dem Nimbus der Herkunft von ganz unten: Kind von Aymara-Bauern, langjähriger Führer der Kokabauern, scheinbar ewiger Oppositioneller gegenüber den Mächtigen in La Paz – und nun Staatschef. Getragen von absoluten Mehrheiten, regiert Morales mit dem Anspruch, eine ganz andere Politik im Interesse der Benachteiligten, der Indigenen und überhaupt all derer zu betreiben, die in Bolivien kaum jemals Zugang zu den Hebeln der Macht hatten. Die einen verfolgen mit großer Sympathie diesen Wandel in Bolivien, andere verweisen warnend darauf, die Regierung zeige deutlich autoritäre Tendenzen und hebele demokratische Rechte aus.

Bolivien ist derzeit gesellschaftlich und politisch tief gespalten. Gesellschaft, politische Ideologien und Parteienlandschaft sind weitgehend entlang ethnischer, kultureller und regionaler Zugehörigkeiten strukturiert. Seit 2000 haben sich gesellschaftliche Konflikte wesentlich verschärft, vor allem, weil tiefe Unzufriedenheit herrschte mit der wirtschaftlichen Situation nach 15 Jahren neoliberaler Politik. Die Krisensituation kulminierte im Aufstand 2003 und der Vertreibung des gewählten Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada. Sein Nachfolger Carlos Mesa, Historiker und geachteter Fernsehpublizist, gab im Juni 2005 auf, ohne eigene parlamentarische Mehrheit und aufgerieben zwischen den großen Erwartungen der sozialen Bewegungen und dem Gegendruck bürgerlicher Kreise, insbesondere der Oligarchie in Santa Cruz. Inmitten von zum Teil bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen wurde verfassungsgemäß der Präsident des Obersten Gerichtshofes, Rodríguez Veltzé, zum Interimspräsidenten bestellt, um Neuwahlen vorzubereiten.

Im Dezember 2005 siegte Evo Morales mit seiner Partei Movimiento al Socialismo (MAS), Bewegung zum Sozialismus, mit 53,74 Prozent der Stimmen. Dieses Wahlergebnis ist Ausdruck der Polarisierung und zugleich des erfolgreichen Machtanspruchs jener Mehrheiten, die in den letzten Jahrzehnten immer nachdrücklicher auf das politische Parkett drängten, aber kaum etwas an den realen Machtverhältnissen ändern konnten: Landbevölkerung, ArbeiterInnen, Menschen in ungesicherten Arbeitsverhältnissen, Informelle, ganz überwiegend indigene beziehungsweise indigen-mestizische Bevölkerung. Auch wenn Parteien wie Conciencia de Patria (Condepa) oder Unidad Cívica Solidaridad (UCS) in den 1990er-Jahren einige aufstrebende, städtische, aymara-mestizische Sektoren repräsentierten und mit Víctor Hugo Cárdenas 1993 erstmals ein Aymara das Amt des Vizepräsidenten bekleidete, so hatte sich damit doch das gesellschaftliche und politische Kräfteverhältnis nicht entscheidend verändert. Weiterhin dominierten „weiße“ Gesichter mit einem an neoliberalen Ideen orientierten Projekt der Modernisierung Boliviens die Politik. Die Ablösung dieser alten Machtgruppen war ein überfälliger Schritt zur Demokratisierung der Gesellschaft. Deswegen gaben auch links orientierte Angehörige der Mittelschicht, die einen grundsätzlichen Politikwechsel wünschten, der MAS ihre Stimme.

Politischer Durchbruch für die Indigenen

Die Parteienlandschaft hat sich – zumindest äußerlich – verändert. Zwei der bedeutendsten Parteien der 1980er- und 1990er-Jahre sind von der Bühne verschwunden. Die sozialdemokratische Movimiento de la Izquierda Revolucionaria (MIR), einst Partei von Expräsident Jaime Paz Zamora, ist aufgelöst, die konservative Acción Democrática Nacionalista (ADN) des verstorbenen Exdiktators Hugo Banzer ist weitgehend in neuen Parteien aufgegangen. An der Spitze der rechtsliberalen Poder Democrático Social (Podemos) steht Expräsident Jorge „Tuto“ Quiroga, früher ADN. Podemos wurde mit 28,6 Prozent Stimmenanteil zweitstärkste Partei und führt nun die Opposition an. Der Osten Boliviens ist Hochburg der Partei. Hinter Podemos steht die frühere ADN-Klientel, insbesondere die Machtgruppen aus Santa Cruz. Auch ein Großteil ehemaliger Wähler der MNR, der Revolutionspartei von 1952 und späteren Partei Gonzalo Sánchez de Lozadas, setzte auf Podemos.

Für die sozialdemokratische Unidad Nacional (UN) ging der Unternehmer Samuel Doria Medina, ehemals MIR, als Präsidentschaftskandidat ins Rennen. Doria Medina versuchte kleine und mittelständische Unternehmer anzusprechen, allerdings mit nur begrenztem Erfolg. 7,8 Prozent Stimmenanteil bedeuteten den dritten Platz. Verheerend war der Wahlausgang für die Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR). Mit 6,5 Prozent der Stimmen ist sie gegenwärtig politisch bedeutungslos. Auch die neopopulistische Partei Nueva Fuerza Republicana (NFR) von Manfred Reyes Villa, Präfekt von Cochabamba, und die neu gegründete Partei des Gewerkschaftsdachverbandes Central Obrera Boliviana (COB), Unión Social de Trabajadores de Bolivia (USTB), spielen keine Rolle.

Die absolute Mehrheit von Evo Morales und der MAS bei einer hohen Wahlbeteiligung von 84,51 Prozent markiert den Beginn eines neuen historischen Abschnitts der bolivianischen Geschichte. Dies nicht nur, weil erstmals ein Indígena zum Präsidenten gewählt wurde, sondern auch, weil er eine „Neugründung“ Boliviens versprochen hat, in der die Bedürfnisse und Vorstellungen der indigenen Mehrheit des Landes maßgeblich sein sollen. Damit nahm die MAS eine Forderung indigener Organisationen des Tieflands auf, die seit deren historischem Marsch 1990 nach La Paz immer mehr Anhänger gefunden hat. Die Indígena-Organisationen des Tieflands sprachen seinerzeit den Altparteien die Repräsentativität für die Interessen der Bevölkerungsmehrheit ab und warfen ihnen vor, korrupt zu sein und Partikularinteressen zu vertreten. Die Altparteien, so ihr Vorwurf, seien Interessenvertreter der europäischstämmigen Machtgruppen des Landes und verantwortlich für die anhaltende Armut und Unterentwicklung, die mit dem neoliberalen Umbau von Wirtschaft und Staat seit Mitte der 1980er-Jahre nicht behoben worden waren. Diese Positionen hatten in den 1980er-Jahren auch radikal-indianistische Gruppierungen mit städtischem Migrantenhintergrund und Fraktionen im Dachverband der Kleinbauern Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia (CSUTCB) vertreten.

Evo Morales und die MAS präsentierten sich als Gegenmodell zu den Altparteien und als neue Hoffnungsträger. Im Jahr 2002 nahm die MAS erstmals an einer nationalen Wahl teil und wurde mit knapp 21 Prozent der Wählerstimmen zweitstärkste Kraft im Kongress. Sie ist keine Partei im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr ein Sammelbecken sozialer Bewegungen. Ihre Wurzeln hat sie im Verband der Kokabauern der subtropischen Region Chapare des Departements Cochabamba.

In der MAS vermischen sich zumindest zwei ideologische Strömungen. Die sozialistische Position ist ein Erbe der stark in der MAS organisierten ehemaligen Bergleute, die nach Schließung der staatlichen Bergwerke im Hochland in den Chapare abwanderten und zu Kokabauern wurden. Sie brachten ihre politischen Vorstellungen und Organisationserfahrungen in kommunistischen und trotzkistischen Gewerkschaften und Parteien ein. Immer einflussreicher wird die indianistische Strömung, deren Bedeutung in der MAS anfangs gering war. Das Spektrum reicht von der Ideologie der indigen-bäuerlichen Kataristenbewegung der Aymara und Quechua des Hochlandes der 1970er- und 1980er-Jahre bis zu radikal-indianistischen Positionen mit rassistischen Zügen, die eine Gesellschaftsordnung nach Vorbild vorspanischer, andiner Strukturen anstreben. Dass diese Ideologien in der MAS an Boden gewonnen haben, lässt sich nicht zuletzt auf deren zunehmende Verbreitung sowohl bei lokalen und regionalen Bauernvereinigungen wie auch in Migrantenzonen der Städte im andinen Hochland zurückführen. Bei den Wahlen 2002 erzielte die radikal-indianistische Partei Movimiento Indígena Pachakutik (MIP) landesweit 6 Prozent, im Departement La Paz lag sie mit knapp 18 Prozent fast 3 Prozent über der MAS.

Die MIP verlor bei den Wahlen 2005 an Bedeutung (2,1 Prozent), vor allem wegen des autoritären Stils des Vorsitzenden Felipe Quispe, „El Mallku“, und der auf ihn zugeschnittenen, vertikalen politischen Kultur innerhalb der Partei. Die Ideologie dagegen hat nicht an Anziehungskraft verloren. Aymara-Organisationen wie etwa Consejo Nacional de Ayllus y Markas del Qullasuyu (Conamaq) und junge Aktivisten, gerade auch Studierende aus Migrantenfamilien in El Alto oder La Paz, teilen Quispes Ideen. Es ist offensichtlich, dass die MAS 2005 in diesen Gruppierungen Anhänger sammeln konnte. Ethnische Diskurse, Gesellschaftsvorstellungen und Forderungen, die eine indigene Identität hervorheben beziehungsweise konstruieren und zum Ausgangspunkt der gesellschaftspolitischen Analyse machen, haben Hochkonjunktur. Bei seiner Amtseinführung in der archäologischen Stätte Tiwanaku inszenierte sich Evo Morales eindrucksvoll als Repräsentant der indigenen Völker Boliviens. Sein Vizepräsident, der Soziologieprofessor und ehemalige Kämpfer der indianistischen Guerillagruppe EGTK, Alvaro García Linera, kündigte – in Anspielung auf die Eroberung Amerikas vor 500 Jahren – den Beginn einer 500-jährigen Herrschaft der indigenen Völker an.

Wenn Evo Morales und viele seiner Anhänger die indigene Abstammung und kulturelle Zugehörigkeit als wesentliches Element in ihren politischen Diskursen einsetzen, stößt das bei Teilen der Mittelschichten auf Ablehnung oder Misstrauen. In Bolivien wird heftig debattiert, wer Indígena, wer „Weißer“, wer Mestize sei. Manche sehen in der Ethnisierung des Politischen das erneute Auftauchen rassistischer Positionen.

Die Frage nach der ethnischen Identität

Dabei wird übersehen, dass Ethnizität – und damit die Identifizierung mit einer „indigenen“ Identität – im politischen Feld in ehemaligen kolonialen und postkolonialen Gesellschaften Lateinamerikas ein diskursives Konstrukt in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist. Es ist ein multifunktionales Instrument. Es dient zur Konstruktion von Wir-Gruppen, zur Gruppenkohäsion nach innen, zur Selbstversicherung, zur Artikulation, Verteidigung und Legitimierung von gemeinsamen Interessen von spezifischen Bevölkerungsgruppen, zur Abgrenzung nach außen sowie zur Einforderung von Rechten in sozial und kulturell hierarchisch strukturierten Gesellschaften. Fragen, ob jemand „wirklich ein Indígena“ sei, wenn er einen Pullover statt des Poncho trägt, besser Spanisch als Aymara spricht und städtisch-mestizische Umgangsformen pflegt, gehen am eigentlichen Thema vorbei. Denn die Selbstdefinition als „indígena“ oder „pueblo originario“ ist Konsequenz des Fortdauerns kolonialer Machtstrukturen im Alltag. Wenn sich Evo Morales dieser Selbstdefinition und dieses Diskurses bedient, dann stellt dies eine politische Positionierung vor dem gesellschaftlichen Hintergrund und vor der Geschichte Boliviens dar.

Die MAS nahm im Wahlkampf 2005 Forderungen von sozialen Bewegungen auf. Im Mittelpunkt standen dabei:

– Die administrative politische und ökonomische Neuordnung des Landes unter Einbeziehung partizipativer Strukturen der Basisbewegungen. Die Neuordnung soll im Rahmen einer verfassunggebenden Versammlung erfolgen.

– Die Renationalisierung des Erdgas- und Erdölsektors, damit verbunden die Erhöhung der Abgaben der Konzessionäre an den Staat. Das bedeutet die Kündigung, sodann Neuverhandlung der Verträge mit den beteiligten internationalen Unternehmen.

– Die Legalisierung des Kokaanbaus.

– Die Reform des Bodenrechts. Nicht produktiv genutztes Land in Großgrundbesitz sollte zugunsten von landarmen Campesinos und indigenen Gemeinschaften enteignet werden.

– Die Bekämpfung von Korruption und Nepotismus und der entsprechenden, zum Teil mafiösen Strukturen im Land.

– Die Durchsetzung eines nichtneoliberalen Wirtschaftsmodells.

Der Widerstand der „weißen“ Machtgruppen in den Tieflanddepartements Beni, Pando, Tarija und allen voran Santa Cruz verhärtete sich weiter. Es geht um massive Eingriffe in ihre Pfründe. Im Verein mit Podemos und UN torpedieren sie die Regierung, wo immer es geht. Es fehlt dabei nicht an rassistischer Rhetorik.

Allerdings produziert die Regierung selbst zusätzlich unnötige Konflikte. Sie paktiert aus taktischen Gründen mit dubiosen, als korrupt bekannten Wortführern im bolivianischen Osten. Darüber hinaus geht es um den Umgang mit den viel zitierten Basisorganisationen. Morales sieht sich beständig neuen Forderungen „seiner Basis“ gegenüber, die massiv und oft unter Einsatz von Gewalt versucht, ihre jeweiligen Partikularinteressen durchzusetzen. Gemeinwohl ist ihnen ein Fremdwort, Gewalt der „Basis“ wird immer mehr zum Instrument der Auseinandersetzung. Die Regierung agiert oft inhaltlich planlos, darauf bedacht, Konflikte kurzfristig zu entschärfen und ihre Mehrheiten nicht ins Wanken zu bringen.

So im Falle des Konfliktes in Cochabamba im Januar 2007. Dort war es zu schweren Straßenkämpfen mit zwei Toten und über hundert Verletzten zwischen Anhängern und Gegnern des gewählten Präfekten Manfred Reyes Villa gekommen. Dieser, ein erklärter Regierungsgegner, hatte für Cochabamba den Autonomiestatus gefordert, obgleich dies beim Referendum 2006 abgelehnt worden war. In einer „Vollversammlung“ wählten seine Gegner ein „revolutionäres Provinzkomitee“, erklärten ihn für abgesetzt und beriefen einen neuen Präfekten. Evo Morales reagierte diesmal schneller als sonst und machte den – kurz darauf modifizierten – Vorschlag, die Absetzung von politischen Mandatsträgern per Volksabstimmung gesetzlich zu ermöglichen. Nun hat die Opposition diese Idee aufgenommen und fordert, sie auch auf den Präsidenten anzuwenden.

Problematisch und konfliktiv ist darüber hinaus die Bildungsreform von Exminister Felix Patzi, einem bekannten Aymara-Intellektuellen, die eine für alle verbindliche zehnjährige Einheitsschule mit den Pflichtfächern indigene Religion und Sprache, die Abschaffung des bisherigen „Bachillerato“ (Abitur) und eine integrierte berufliche Ausbildung vorsieht. Dieses Reformprojekt stieß bereits auf dem Pädagogischen Kongress 2006 auf Widerspruch sogar aus den Reihen der Lehrerschaft. Besorgniserregend ist die Politik im Bereich Ökologie, worauf noch einzugehen sein wird. Ein weiteres Problemfeld stellt der Aufbau von Militärstützpunkten in den Naturschutzgebieten mit dem entsprechenden Straßenbau dar.

Worauf gründen sich diese Konflikte? Repräsentanten sozialer Bewegungen wurden eingebunden, allerdings ohne ein abgestimmtes, kohärentes Regierungsprogramm. Auch der neue Entwicklungsplan von 2007 enthält keine Sektorpolitiken. Damit verfügen die MinisterInnen zunächst über breiten Handlungsspielraum. Wie im Fall von Exbildungsminister Patzi können so Entscheidungen zustande kommen, die aufgrund vielfältiger Ablehnung wieder zurückgezogen werden müssen. Der Minister wurde entlassen, die Verabschiedung der Bildungsreform steht noch aus. Entlassungen weiterer Minister aufgrund konfliktiver Maßnahmen, dazu Demissionen hochrangiger Regierungsfunktionäre sind ein Indiz dafür, dass in der heterogenen Regierungsmannschaft unterschiedliche politische Vorstellungen bestehen.

Unterschiede im politischen Gewicht innerhalb der Regierungsmannschaft sind nicht zu übersehen. Vizepräsident García Linera ist nicht nur das intellektuelle Schwergewicht dieser Regierung. Seine politischen Visionen sind maßgeblich für die Leitlinien der Regierungspolitik. Zudem hat er sich als geschickter Verhandler mit der Opposition und als Vermittler fast unentbehrlich gemacht. Eher im Hintergrund, aber von großem Einfluss ist Juan Ramón Quintana, Minister im Präsidialamt und ehemaliger Hauptmann. Er ist nicht nur der Verbindungsmann zu den Streitkräften, sondern zieht offenbar im Hintergrund in vielen Bereichen die Fäden.

Der Weg zur verfassunggebenden Versammlung, geplant für Anfang Juli 2006, erforderte ein entsprechendes Gesetz. Vorarbeiten hatten bereits unter Carlos Mesa stattgefunden. Da die MAS nicht über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt, war der Konsens mit den Oppositionsparteien notwendig. Die Einigung beinhaltete einen komplizierten Modus für die Wahl der verfassunggebenden Versammlung, der faktisch den politischen Parteien Vorschub gewährte. Deshalb unterstellten sich die meisten Basis- und indigenen Organisationen einer Partei, mit der Folge, dass die Parteivorstände und vor allem auch die Exekutive – oftmals in Gestalt des Vizepräsidenten – offen ihren Parteigängern die politische Linie und Entscheidungen vorgeben. Von einer unabhängigen Meinungsbildung kann kaum die Rede sein.

Parteiinteressen und Parteienstreit dominieren die verfassunggebende Versammlung. Über ein halbes Jahr beschäftigte man sich nur mit der Festlegung von Reglements, vor allen Dingen mit der Frage, welches Quorum Entscheidungen benötigen. Nachdem die MAS die Zweidrittelmehrheit verfehlt hatte, verkündete sie, für Entscheidungen in der Versammlung genüge die einfache Mehrheit – garantiert mit den MAS-Stimmen. Diese „Neuinterpretation“ des Gesetzes erzeugte heftigen Widerspruch der Opposition, über Monate ein zentrales Thema der öffentlichen Debatte. Sie warf der Regierung vor, demokratische Regeln auszuhebeln. Die MAS drohte bereits einen eigenen Entwurf an, falls der Entwurf der verfassunggebenden Versammlung nicht den „Erwartungen des Volkes entspräche“.

Die Öffentlichkeit reagiert enttäuscht über Gezänk und Streiterei, trotzdem ist positiv eine bisher nie da gewesene, breite Debatte über Inhalte und Bedeutung einer neuen Verfassung und Neuordnung des Landes zu vermerken. Einst Gegenstand von Debatten unter Spezialisten und in einigen indigenen Organisationen, ist die verfassunggebende Versammlung spätestens seit Oktober 2003 viel diskutiertes Thema von Basisgruppen bis zur Regierungsebene. Hierzu leisten die fachlichen Inputs und Fortbildungsangebote seitens internationaler Entwicklungsagenturen wie auch nationaler NGOs wichtige positive Beiträge.

Die erdgasreichen Departements Santa Cruz und Tarija hatten ihre Zustimmung zur verfassunggebenden Versammlung von der Durchführung einer Volksbefragung über die Autonomie der Departements abhängig gemacht, und die MAS kam an dieser Forderung nicht vorbei. Die Debatte um departementale Autonomie ist nicht neu.

Separatisten im reichen Osten

Nicht zuletzt geht es um die Verteilung der Erdgaseinnahmen – das Erdgas liegt vor allem im bolivianischen Südosten. Die europäischstämmigen Oligarchien des Ostens lehnen es seit dem Vorschlag über eine Neuordnung der Erdgaseinnahmen, insbesondere seit dem Erdgas-Referendum 2004, ab, die Einkünfte mit den „armen Hochlanddepartements“ und den „indios“ zu teilen.

Die vier östlichen Departements stimmten für das Autonomiereferendum, die fünf Departements der Andenregion dagegen. Die ungenaue Formulierung des Referendums aber bewirkte erneuten Streit. Die Departements, die für das „Ja“ stimmten, verlangen die Anerkennung ihrer Autonomie. Die Regierung hingegen legt das Mehrheitsvotum mit fünf Neinstimmen als Ablehnung aus.

Darüber hinaus wird die administrative Gliederung des Staatswesens in der neuen Verfassung möglicherweise neu festgelegt. Ein Entwurf der MAS sieht vor, die Departements aufzulösen. Gedacht ist an eine weitgehende Dezentralisierung, basierend auf neuen Regionen, mit Dorfgemeinschaft oder Stadtbezirk als Untergliederung. Im Autonomiestreit drückt sich die tiefe Kluft zwischen den reichen Departements, insbesondere der Wirtschaftsmetropole Santa Cruz, und den ärmeren Hochland-Departements mit ihrer starken indigenen Mehrheit aus. Rassistische Rhetorik kommt vom lautstarken und einflussreichen Bürgerkomitee Santa Cruz oder der Organisation Nación Camba, benannt nach der umgangssprachlichen Bezeichnung „cambas“ für die Bewohner von Santa Cruz. Rassistische Töne fließen aber auch in die indianistischen Diskurse ein – eine Reaktion, die zeigt, wie sich die Polarisierung vertieft.

Am 1. Mai 2006 erklärte die Regierung die Verstaatlichung der Erdöl- und Gasvorkommen und die Übernahme der Kontrolle der Produktion. Der kurzfristige Einsatz der Armee hatte dabei symbolische Funktion als Machtdemonstration seitens Evo Morales. Zugleich unterstrich die Regierung, es handele sich keineswegs um eine Enteignung der in- und ausländischen Unternehmen und bekräftigte ihr Interesse an der Neuverhandlung der Verträge unter der Voraussetzung, dass bis zum 31. Oktober 2006 externe Prüfberichte eingereicht werden müssten. Die größten der zwölf involvierten Unternehmensgruppen waren die brasilianische Petrobras sowie das argentinisch-spanische Konsortium unter Führung von Repsol. Hinzu kamen Neuabkommen über Lieferverträge mit den Regierungen Brasiliens und Argentiniens. Am 29. Oktober stand nach zum Teil schwierigen, detailreichen Verhandlungen fest: Es hatte geklappt. Staunen und die Begeisterung in Bolivien waren entsprechend groß, ebenso das Lob für Evo Morales.

Was ist neu? Das Renationalisierungsdekret besagt, dass der Staat mit der vollständigen Kontrolle über die Gas- und Erdölvorkommen die Verantwortung für ihre Förderung, Kommerzialisierung und industrielle Weiterverarbeitung übernimmt. Dafür zuständig ist der Staatsbetrieb Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos (YPFB). Die bisher tätigen Unternehmen haben ihre Gas- und Erdölproduktion an die YPFB zu übertragen, die nun größte Teilhaberin der im Land tätigen, gemischten Unternehmen sein wird. Die Firmen müssen einen Teil ihrer Aktien an die YPFB verkaufen oder übertragen, damit diese jeweils über 51 Prozent verfügen kann. Die ausländischen Energiekonzerne werden zu Dienstleistern, die zu einem staatlich festgesetzten Entgelt arbeiten. Die an den bolivianischen Staat abzuführenden Abgaben aus dem Verkauf werden damit deutlich erhöht. Über Produktionsvolumen und Preise entscheidet YPFB. Wenn das Staatsunternehmen dieser Schlüsselstellung gerecht werden will, wird es Aufsichtspflichten und Planungsaufgaben anders wahrnehmen müssen als in der Vergangenheit. YPFB hatte immer den Ruf, einträglicher Selbstbedienungsladen für korrupte und unfähige Politiker zu sein.

Noch ist unklar, welchen Anteil der Staat nun von den Gewinnen aus den Gasfeldern erhält. Von 82 Prozent war die Rede, mal auch von 70 Prozent. Sicher ist: Die Einnahmen werden erheblich höher sein als bisher. Die Firmen sollen von ihrem Anteil ihre Produktions- und Investitionskosten finanzieren. Abgaben werden aufgrund einer Formel berechnet, die die Höhe der getätigten Investitionen, den aktuellen Gaspreis und die Effizienz der Produktion berücksichtigt. Außerdem sind die Abgaben gestaffelt zwischen etablierten, großen, ertragreichen Erdgasfeldern (bis zu 80 statt zuvor 50 Prozent) und erst jüngst erschlossenen Feldern (rund 50 Prozent), weil hier die höhere Abschreibung der Investitionen der Unternehmen anerkannt wird. Die Regierung rechnet für 2007 mit Einnahmen von über 500 Millionen US-Dollar bei gleichbleibenden Weltmarktpreisen für das Gas. Durch die hohen Preise sind nach Angaben des Nationalen Instituts für Statistik im Jahr 2006 Einnahmen von über 1,48 Milliarden US-Dollar aus dem Öl- und Gasexport nach Bolivien geflossen (La Razón, 18. 10. 2006).

Die Verträge sind öffentlich, die Regierung hat damit ihr Transparenzversprechen eingehalten. Aber bei aller Freude über die Abschlüsse gibt es in der Öffentlichkeit Kritik an der Fortsetzung der bolivianischen Rentiersmentalität. Die Regierung setzt weiterhin auf das Extraktionsmodell, das sich auf den Export von Rohstoffen konzentriert. Konkrete Vorhaben zur Investition in verarbeitende Industrien, um damit eine nachhaltigere Wirtschaftsentwicklung gestalten zu können, liegen nicht vor. Stattdessen verteilt der Präsident schon mal Gelder aus den Gaseinnahmen an verschiedene soziale Akteure, die Teilhabe am neuen Reichtum einfordern.

Die Landfrage hat sich zu einem Konfliktfeld von höchster Brisanz entwickelt. Der Regierungsentwurf zur Reform des Bodengesetzes war bei den mächtigen Verbänden der Großgrundbesitzer und den Departements des Tieflands auf massiven Widerstand gestoßen. Denn die Enteignung von nicht produktiv genutztem Land soll erleichtert werden. Druck kommt vonseiten von Kleinbauern, Indígenas und Landarmen. Im Oktober 2006 waren zur Bekräftigung ihrer Forderungen 2 500 Indígenas aus dem Tiefland nach La Paz marschiert. Die Indígenas ohne eigene Territorien fordern Landtitel. Indigene Gruppen des Tieflands, die über kollektive Landtitel verfügen, fordern Schutz vor dem Vordringen von Siedlern in ihre Territorien. Weiter verlangen sie – ebenso wie Ökologen – von der Regierung die Respektierung indigener Territorialtitel (TCOs) sowie die Aufrechterhaltung der Nationalparks und Schutzgebiete. In beiden Fällen handelt es sich um gefährdete Territorialformen, da es in der Regierung Bestrebungen gibt, diese mit dem Argument der „sozialen Nutzung“ zu modifizieren. Damit würden lang und schwer erkämpfte bestehende Rechte von Indígenas und Regelungen zum Schutz der Natur angetastet.

Anzeichen für eine solche Politik gibt es bereits. In der zweiten Jahreshälfte 2006 erlaubte die zuständige Behörde das Vordringen von Siedlern in den Nationalpark Madidi, der in Teilen zugleich indigenes Territorium ist. Sofort begann die massive Abholzung zwecks landwirtschaftlicher Nutzung sowie für den Holzhandel. Die aymara- und quechuastämmigen colonos sind eine Machtbasis der MAS – anders als die Tiefland-Indígenas –, und die Regierung fördert sie dementsprechend zulasten der Tieflandvölker. Das damit verbundene Konfliktpotenzial ist offensichtlich.

Das Agrargesetz wurde am 28. November 2006 verabschiedet. Der Staat überprüft alle zwei Jahre Großgrundbesitz auf die produktive Nutzung des Landes und überträgt gegebenenfalls Land an Kleinbauern, Landarme oder Indígenas. Die Indígenas bejubelten die Entscheidung; gleichwohl ist damit eine explosive Situation entstanden, denn die Großgrundbesitzer bleiben bei ihrer Ablehnung. Nicht wenige drohen, ihren Landbesitz, wenn nötig, auch gewaltsam „zu verteidigen“. Es wird nun darauf ankommen, dass die Regierung ernsthaft alle Anstrengungen unternimmt, um ihr – zweifelsohne sinnvolles – Gesetz umzusetzen und zugleich den Konflikt mit den Großgrundbesitzern zu entschärfen.

Freigabe des Kokaanbaus? Das Thema wird diskutiert, entschieden ist nur eine etwas größere erlaubte Anbaufläche pro Familie. Morales vertritt eine Politik des „Koka ja, Kokain nein“. Der Drogenhandel soll bekämpft, andererseits aber der Kokaanbau für den legalen Handel zugelassen sein, also für den traditionellen Gebrauch und für Weiterverarbeitung zum Beispiel zu Tees, Nahrungsmitteln und Kosmetika. Eine erste Industrieanlage in der Anbauregion Yungas östlich von La Paz wurde eröffnet. Solange aber die UN-Konvention von 1961 gilt, die Koka als Droge einstuft, wird es international keinen legalen Markt für diese Produkte geben. Die USA erklärten bereits ihr „Nein“ zu Industrialisierung und Marktöffnung, haben sich aber gleichzeitig bisher erstaunlich ruhig verhalten – sie haben andere Probleme. Bolivien hat weiterhin kaum eine Chance, auf internationaler Ebene eine Revision der UN-Konvention von 1961 zu erwirken.

Auch wenn die Zustimmung zu Evo Morales seitens der indigen-mestizischen Bevölkerung groß ist, gibt es doch Kritik an der mangelhaften Umsetzung von Politik. Erwartet wurden Arbeitsplätze, Investitionen in öffentliche Infrastruktur und Wirtschaftsförderung – die versprochene nichtliberale Wirtschaftsordnung. Hier ist bisher wenig geschehen. Die Migration – etwa nach Spanien – gerade auch der „kleinen Leute“ hat 2006 enorm zugenommen. Ungern gesehen wird auch die massive Präsenz von Venezolanern im Land und der große Einfluss des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez auf die bolivianische Politik.

Eine enorme Belastung für die Regierung Morales sind nicht nur politische Strukturen, die von den „weißen“, westlich orientierten städtischen Mittel- und Oberschichten dominiert waren. Gleichermaßen belastend sind Elemente der politischen Kultur Boliviens, die auch für sein eigenes Lager, für MAS, Gewerkschaften und Basisorganisationen kennzeichnend sind. Dazu gehören die Macht, die persönlichen Interessen und Ambitionen charismatischer Führungspersonen – der Caudillos – und ihrer unmittelbaren Gefolgschaft. In Parteien, Gewerkschaften und Basisorganisationen mangelt es an demokratischer Kultur, trotz formal demokratischer Strukturen. Ungeduldig drängen einzelne Gruppen auf die Erfüllung ihrer Maximalforderungen und partikularen Interessen. Die Konfrontation ist zur Handlungsstrategie geworden. Das Gemeinwohl, zum Beispiel Umweltschutz oder Interessenausgleich, ist nur selten Leitgedanke ihres Handelns. Klientelismus, Kooptation von „Basis“-Vereinigungen und verallgemeinerte Korruption in hohem Ausmaß sind Lasten der politischen Kultur, die sich nicht in kurzer Zeit „abschaffen“ lassen, zumal auch die MAS davon betroffen ist.

Morales hatte im Wahlkampf eine andere politische Kultur versprochen, Transparenz im politischen Handeln seiner Regierung und den Kampf gegen die Korruption. Dafür gibt es nur wenige Anzeichen. Gleichzeitig verstärken sich autoritäre Tendenzen, was gewiss nicht allein dem sehr starken Einfluss von Hugo Chávez geschuldet ist. Es ist Teil der politischen Kultur des Landes. Morales handelt als Führungsfigur ganz in diesem Sinne.

Ob die Regierung von Evo Morales das in sie gesetzte Vertrauen und die Hoffnungen erfüllen wird, ob sie die regionale Polarisierung überwinden kann, bleibt abzuwarten – und zu hoffen. Dass die gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich Evo Morales vorgenommen hat und die seine Anhänger erwarten, viel Zeit benötigen und auch auf den Widerstand jener stoßen, die ihre alten Privilegien verteidigen, ist selbstverständlich. Fortgang und Richtung des Umbauprozesses in Bolivien sind allerdings ungewiss. Wichtig ist eine Regierungspolitik, die über die Vision einer gerechten Gesellschaft hinaus den gegebenen Rahmenbedingungen Rechnung trägt, eine Politik, die demokratische Strukturen und Institutionen stärkt und – wenn nötig – aufbaut, anstatt solche unter dem Signum ethnischer Ideologien zu schwächen.

Literatur: Julio Aliaga Lairana, „Análisis y evaluación de 10 meses del gobierno de Evo Morales Ayma“, XI Foro de Análisis Político, Fundación Konrad Adenauer, La Paz, 10. Oktober 2006.

Goedeking, Ulrich und Zuazo Moira, „Bolivien. Studie zur länderbezogenen Konfliktanalyse“, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2006.

José Antonio Mayorga, „Esta gestión política llevará al MAS al fracaso“, Interview in: La Razón, La Paz, 14. 1. 2007.

Evo Morales Ayma, „En Bolivia el modelo neoliberal no funciona! Triunfará la nueva Constituyente?“, La Paz 2006.

Bettina Schorr, „Constituyente: Herrschaft der Mehrheit oder Veto der Minderheit?“, in: Bolivia – Berichte und Analysen, Nr. 148, November 2006–Januar 2007, S. 3–8.

Juliana Ströbele-Gregor ist Altamerikanistin und Pädagogin. Sie arbeitet als Dozentin und Forscherin am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin.

Dieser Text ist eine Vorabdruck aus dem Jahrbuch Lateinamerika 31, das im Oktober erscheint: „Rohstoffboom mit Risiken“, Hg. Karin Gabbert u. a., Verlag Westfälisches Dampfboot, 24,90 Euro.

Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.10.2007, von Juliana Ströbele-Gregor