12.10.2007

Im Café auf dem Friedhof

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Im Café auf dem Friedhof

von Mathias Greffrath

Der alte Matthäus-Kirchhof ist der schönste Berlins. Er liegt zwischen zwei S-Bahn-Trassen, er ist übersichtlich, die vier Brüder Grimm, von denen wir nur zwei kennen, sind dort begraben. Die kleinen schwarzen Quader, unter denen sie liegen, stehen neben dem opulenten Mausoleum der Bankiersfamilie Hansemann – das Verhältnis von Geist und Geld ist gut getroffen. Es ist ein Friedhof voll disparater Geschichten – über Revolutionäre von 1848, über den Eisenbahnkönig und Dandy Henry Strousberg, der von den preußischen Bankiers besiegt wurde, über tot geborene Kinder ohne Namen, über Bimmel-Bolle, den Milchhändler, und über das Tunten-Original Ovo Maltine. Als wir an diesem Herbsttag dort herumspazierten, standen fünf Menschen um ein offenes Grab. Das sah traurig aus, irgendwie zu wenig, ohne Pfarrer, ohne Kränze, ohne Vereinsdelegation oder Kapelle.

Aber es gibt etwas Neues: Ein Café auf dem Friedhof mit Blumen und Aschenbechern auf den Tischen, einer Terrasse mit Plastikmöbeln und einem täglich wechselnden Angebot. Der Schauspieler, Pfleger und Akrobat Bernd Bossmann hat es eröffnet, er entwirft die Suppen, seine Kolleginnen die Torten, und wenn ein Trauernder Trostbedarf hat, müssen die anderen Gäste schon mal auf den Kaffee warten.

Es ist die Woche, in der die Nachricht vom Freitod André Gorz’ und seiner Frau Dorine durch die Zeitungen ging, und dieses Café im Zwischenreich von Leben und Tod, neben dem Blumenladen „Roter Mohn“, ist ein Ort, an dem Gedanken darüber sich wie von selbst einstellen. „Ich will nicht bei Deiner Einäscherung dabei sein; ich will kein Gefäß mit Deiner Asche erhalten“, hatte Gorz geschrieben, in seinem „Brief an D.“, einer öffentlichen Liebeserklärung an die Frau, mit der er 58 Jahre gelebt, gearbeitet, gekämpft hat. Erschienen ist er ein paar Wochen vor diesem Akt, der Lebende und Liebende gleichzeitig berührt, schockiert und beschämt; einem herbstlich strahlenden Sieg der Liebe – nicht über den Tod, sondern über die Angst vor ihm und vor der Einsamkeit in seiner Nähe.

Dieser Triumph stellte in vielen Nachrufen die Trauer darüber in den Schatten, dass der Tod des Theoretikers Gorz auch ein wenig mehr den Tod des großen Projekts bedeutet, das sein Lebenswerk bestimmt hat: in den Strukturen des gegenwärtigen Kapitalismus Möglichkeiten für die Herstellung einer Gesellschaft zu finden, „in der ein(e) jede(r) weniger arbeitet, damit alle Arbeit finden und besser leben können“, die nicht gespalten ist in solche, die immer heftiger und sinnfreier ackern, und solche, die in animalische Existenzformen absinken oder ihre Restwürde in archaischen – religiösen oder ethnischen – Identitäten suchen.

Mit dem „Tod der Arbeiterklasse“ –so Gorz’ erster Befreiungsschlag von 1980 – habe sich nur die hohl gewordene Abstraktion des „historischen Subjekts“ erledigt; neue Technik aber mache aus der Utopie einer Gesellschaft freier Menschen eine reale Möglichkeit – wenn die Bürger sie ergreifen. Ein allgemeines Grundeinkommen, nicht bedingungslos, sondern an eine umfassende Erziehung und an eine radikale allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit gekoppelt – das sei die Grundlage, auf der die „menschlichen“ Tätigkeiten der Kindererziehung, der Pflege, der kulturellen Aktivitäten aus der Rationalität des Marktes entlassen werden können, in der jede(r)Zeit hat, an der politischen Gestaltung seines Gemeinwesens mitzuwirken.

Eine solche „Dreizeitgesellschaft“ wäre die Verwirklichung der alteuropäischen Idee der Polis im wissenschaftlich-technischen Zeitalter – es ist eine Idee, auf die Sozialisten kein Monopol haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb John Maynard Keynes „Der Tag ist nicht fern, an dem das ökonomische Problem in den Hintergrund treten wird, wo es hingehört; und die Bühne des Herzens und des Verstandes werden von unseren wahren Problemen besetzt oder wiederbesetzt werden – den Problemen des Lebens, der menschlichen Beziehungen, der künstlerischen Aktivitäten, des menschlichen Verhaltens und der Religion.“

Das große Pathos unserer Meisterdenker (auch Gorz hatte es, wenn auch leise und heiser), ja, sie selbst sind uns abhanden gekommen – weil uns dieses Projekt abhanden gekommen, als „utopisch“ in den Untergrund unserer Wirklichkeit gerutscht ist. Das hat viele Gründe. Einer heißt Globalisierung, einer hat etwas mit dem Wort „Religion“ zu tun, das Keynes benutzt – und mit dem Friedhof.

Denn, es mag ja sein, dass der Glaube an Himmel und Hölle die Akkumulationsaskese der ersten Bürger angeschoben hat, aber erst der völlige Verlust der Jenseitsgewissheit, die auf den älteren Grabsteinen noch gut gemeißelt festzustehen scheint und auf den jüngeren immer rarer wird, schafft die psychischen Voraussetzungen für unendliche Beschleunigung des Kapitalismus. Der Materialismus der Wissenschaften hat den naiven Glauben an die Auferstehung des Fleisches erledigt, die Ersatztranszendenzen der Künstler, Wissenschaftler, Unternehmer, Revolutionäre, Bürgermeister sind ein Privileg weniger. Und auch die kleineren Varianten des diesseitigen Unsterblichkeitsstrebens – Häuser bauen, Bäume pflanzen, Eigentum für die Nachkommen ansparen – sind keine Massenperspektive mehr, nicht einmal für den Mittelstand. Als Erfahrungsraum bleibt die Spanne eines individuellen Lebens.

Und hier setzt die mächtige Verheißung an: Du kannst dem Tod nicht entkommen, aber du kannst – um ihn für viele kleine Weilen zu vergessen – so viel Welt wie möglich konsumieren: zwei Wohnungen, drei Ehen, vier Fernreisen jedes Jahr, Kirschen zu jeder Jahreszeit und ein Schnäppchen jeden Tag. Diese Verheißung ist das eine Element des Zweikomponententreibstoffs der Moderne. Es reagiert mit dem zweiten: dem vampirhaften Wesen des Kapitals, das sich nur vermehren kann, indem es Kontinente und Menschen erobert, umformt, verzehrt und erneut in finanzielle Energie verwandelt. Es ist kein Zufall, dass der Konsumstatus dort am heiligsten ist, wo wir den Tod in die Unsichtbarkeit gedrängt haben und wir eine neue Stufe jenseits der Barbarei – die ehrte doch ihre Toten exzessiv – erreichen, die seit Bismarck undenkbar schien: das Sterbegeld, das nun als „Überversorgung“ abgeschafft worden ist, war eine der allerersten Sozialreformen. Heute nun erfolgt, nach einem verwalteten Leben und einem wertschöpfenden Siechtum, „die Beisetzung ohne Beisein von Angehörigen als rein verwaltungstechnischer Akt. Dabei kann es zu Sammelbeisetzungen von bis zu 250 Urnen kommen.“ In großen Städten Europas wird bald die Hälfte aller Toten namenlos in Massengräbern verscharrt. Wir sind auf dem Weg zur ersten Zivilisation der Weltgeschichte, die keinen Totenkult mehr kennt. Ohne Herkunft, ohne Zukunft, es liest sich in beide Richtungen.

Und weil das so ist, finden wir, während wir auf den Kuchen warten, dass die freundlich profane Neubesiedlung dieses Friedhofs nicht nur eine gastronomische Bereicherung, nicht nur eine kulturelle Tat, sondern eine kleine politische Oppositionshandlung ist.

Eine Gegenoffensive gegen die Verdrängung des Todes aus dem Leben, die Schaffung eines Ortes, an dem ebenso notwendig wie zwanglos über das geredet wird, wofür fast alle keine Worte finden, wenn es eintritt. „Die Besinnung auf den Tod ist Besinnung auf die Freiheit“, „Wer sterben gelernt hat, der hat das Dienen verlernt“, „Wer die Menschen das Sterben lehrte, der lehrte sie das Leben“ – das sagte Michel de Montaigne, der erste Denker der Neuzeit, der ohne Jenseits auskam. „Schafft hier das Leben gut und schön / Kein Jenseits ist, kein Auferstehen“ steht über einem Friedhof demokratischer Freidenker in Berlin. Alle Aufklärer, die über Arbeit und Leben nachgedacht haben, von Bacon bis Keynes, sahen am Ende der Überanstrengungen des kapitalistischen Aufbruchs eine Zeit kommen, in der wir Modernen, wenn auch in einem langen Prozess, wieder lernen müssten, „der Stunde und dem Tag gerecht zu werden“, die Genüsse selbstbestimmter Aktivität höher zu schätzen als die „täuschende Unsterblichkeit“ (Keynes) der unendlichen Akkumulation.

André Gorz’ Dreizeitgesellschaft war die große Skizze einer Gesellschaft, deren Strukturen und Institutionen allen diese autonome Entscheidung über ihr Leben, ihre Bindungen, ihre Arbeit und ihre Muße ermöglicht und zumutet, damit alle die gleiche Chancen haben, die Tauglichkeit des Endlichen zu erproben und nicht schon vor dem Tod zu sterben. „Manch einer hat lange Jahre gelebt und doch wenig gelebt; denkt daran, solange ihr noch da seid“, schrieb Montaigne, und Gorz in seinem „Brief an D.“: „Es hat keinen Sinn, das Leben auf später zu verschieben.“

Die Bedingungen dafür sind da – aber nichts in der Gesellschaft drängt zurzeit auf eine solche große Reform des Lebens und der Arbeit. Das Grundeinkommen wird diskutiert – aber vorwiegend als Rationalisierung des Überflüssigen-Problems. Auch den Einzelnen, auch uns, die wir gerade in der Friedhofssonne sitzen, gelingt es nur knapp, das Wertvollste, was wir haben –unsere Lebenszeit – nachhaltig zu schützen gegen den flüchtigen Erwerb, den schnellen Verschleiß, die Angebote der Genuss- und Langlebigkeitsunternehmer, die Vorsorge-Exzesse. So opfern wir unsere Einsichten, unsere Empörung, unsere Wut und unsere Liebe in kleinen Dosen auf Altären, an die wir uns umso fester klammern, je mehr sie wanken. Der Tod ist das Ende. Punkt.

Diese Erkenntnis ist ein Schock. Aber das ist nur der erste Schritt ins begriffene, nicht mehr abstrakte Leben, in die schmerzhafte Autonomie. Im zweiten Schritt kann man erkennen, dass man sich nun frei an etwas binden kann, an jemanden, an eine Gruppe – stoisch oder epikuräisch und sogar absolut. Solitaire – solidaire: Camus’ Formel klingt knapp und elegant, die Ausführungsbestimmungen können ein Leben füllen. Und dabei helfen weniger Erkenntnisse als Modelle – deshalb gehen junge Menschen oft auf Friedhöfe, um mit den Wichtigen, den Klugen, den Mächtigen der Vergangenheit Zwiesprache zu halten. Und deshalb, so kam es uns an diesem Nachmittag auf dem Schöneberger Friedhof vor, sind das theoretische Werk des André Gorz, das von der Autonomie aller handelt, und sein freier, autonomer, liebender, solidarischer Tod aus einem Guss:

Sich mit dem Tod zu beschäftigen, sein Leben vom Ende her zu denken – das ist der Kern vieler Weisheitslehren für ein erfülltes Leben. Das ist nicht neu, seit Seneca, seit Montaigne, seit Gryphius und Sartre bekannt und schnell vergessen. Aber Friedhöfe legen solche Gedanken nahe, erst recht, wenn sie ein Café haben, das „Finovo“ heißt: „Nichts endet, bevor nicht auch etwas Neues beginnt“, sagt Bernd Bossmann. Das gilt auch für alte Gedanken, murmeln da die Brüder Grimm: „Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.10.2007, von Mathias Greffrath