12.10.2007

Brutal liberal

zurück

Brutal liberal

von Ignacio Ramonet

Nicolas Sarkozy hat durch sein Temperament und seine Eloquenz namhafte Persönlichkeiten aller politischen Lager betören können wie weiland der Rattenfänger die Kinder von Hameln durch sein Flötenspiel. Verantwortlich für die Massensuggestion waren auch die Mediengiganten mit ihren maßlosen Hymnen auf den neuen Präsidenten. Frankreich erstarrte in einer Art kollektiver Hypnose vor einem Mann, der das Land mit seiner hektischen Betriebsamkeit und immer neuen, wolkigen Ideen in Verwirrung stürzte.

Inzwischen hat der Gaukler die Maske fallen lassen. Die Menschen beginnen sich die Augen zu reiben. Schon die ersten angekündigten Wirtschafts- und Sozialreformen künden von einem Neoliberalismus in Reinkultur: Steuergeschenke an Besserverdienende, Begrenzung der Gesamtsteuerlast, weitgehende Abschaffung der Erbschaftssteuer, Befreiung der Arbeitgeber von Sozialabgaben für Überstunden.

Die letzten Zweifel an seinen Absichten räumte Sarkozy aus, als er die rasche „Reform“ der Sonderrenten ankündigte: „Die unterschiedlichen Lebenslagen, die manche Vergünstigung vor dem Zweiten, wenn nicht sogar vor dem Ersten Weltkrieg gerechtfertigt haben mögen, sind heute weitgehend ausgeglichen.“ Kernstück der Rentenreform ist die neuerliche Verlängerung der Beitragsdauer, die jetzt 41 statt 40 Jahre betragen soll.

Überdies hat Sarkozy eine „große Debatte über die Finanzierung des Gesundheitswesens“ angekündigt. Da die gesetzliche Krankenversicherung „nicht für alles einspringen“ könne, plant er eine privat finanzierte Zusatzversicherung wie in den USA, wo fast fünfzig Millionen Menschen keinerlei Krankenversicherungsschutz mehr besitzen. Bei der „unvermeidlichen“ Aufweichung der 35-Stunden-Woche will der Präsident „den eingeschlagenen Weg fortsetzen“. Und natürlich will er auch das System der Frühverrentung abschaffen und „wirksamere entschiedene Maßnahmen und Sanktionen“ gegen Arbeitslose ergreifen, die zwei Stellenangebote ausgeschlagen haben. Einen solchen Frontalangriff gegen soziale Errungenschaften hat Frankreich noch nie erlebt.

Die politische Linke hat recht, wenn sie von der „größten sozialfeindlichen Offensive der letzten fünfzig Jahre spricht“. Aber auch die neue außenpolitische Linie, die die Regierung am 27. August auf ihrer Botschafterkonferenz skizziert hat, ist niederschmetternd. In Bezug auf den Nahen und Mittleren Osten bedeutet sie eine kopernikanische Wende. Frankreich gibt damit die weltpolitische Position auf, die General de Gaulle 1958 bei der Gründung der Fünften Republik begründet hatte.

Sarkozy schwenkt nunmehr auf die Linie von George W. Bush ein und teilt damit die härtesten Positionen der Neokonservativen. Das gilt für seine absurde Vorstellung, „die größte und wohl auch eine der wichtigsten Herausforderungen“ sei für Frankreich die „Konfrontation zwischen Islam und Abendland“. Wobei er mit keiner Silbe die Fehler Washingtons erwähnt oder darauf verweist, was für verheerende Folgen es hätte, wenn der israelisch-palästinensische Konflikt ungelöst bliebe.

Auch die Haltung Sarkozys zum Iran deckt sich so weitgehend mit der Politik des State Department, dass Außenminister Bernard Kouchner einen Krieg gegen Teheran als mögliche Option bezeichnen konnte. Die Voraussetzungen für den Ernstfall muss Verteidigungsminister Hervé Morin schaffen, der bereits verlauten ließ, man denke über eine Rückkehr in die integrierte Militärstruktur der Nato nach, aus der Frankreich 1966 ausgetreten war.

Sarkozy mag ein gewiefter Taktiker und ein meisterhafter Lavierer sein. Doch seine jüngsten Ausflüge in die Sozial- und Außenpolitik machen klar, dass er alles andere als ein Stratege ist. Dafür nämlich fehlt es ihm ganz einfach an Weitblick.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2007, von Ignacio Ramonet