12.02.2015

Im Fegefeuer des Wachstums

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Im Fegefeuer des Wachstums

von Mathias Greffrath

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Ölschock, Waldsterben, Energiekrise, Klimawandel, Währungs-, Finanz- und Schuldenkrisen – keiner dieser Warnschüsse der letzten Jahrzehnte hat den Glauben der Eliten wie der Massen an immerwährendes Wachstums wirksam erschüttert. Eher trifft das Gegenteil zu: Trotz der nicht mehr zu leugnenden Klimagefahren, trotz der alarmierenden Erkenntnisse über die Degradation von Boden, Wasser und Luft führte die Krise von 2008 ff. bei den demokratisch gewählten Entscheidern zu einer Renaissance des Glaubens an bedingungsloses Wachstum. Der Globalisierungsrausch hält an: Der deutsche Agrarminister jubelt über die Steigerung des Exports von niedersächsischen Schweineteilen nach Afrika und bayerischer Trockenmilch nach China. In Europa kündigen die kapitalistischen Eliten den historischen Kompromiss einer mehr oder weniger sozialen Marktwirtschaft; um den Renditen auf die Sprünge zu helfen, betreiben die Regierungen der reichen Länder, Deutschland voran, soziale Demontage auf Kosten von ganzen Generationen.

Alle Erkenntnisse und Gremien, alle Diskussionen über eine Neudefinition des Sozialprodukts sind bis heute Selbstbeschäftigung im vorparlamentarischen Raum geblieben. Die Bekenntnisse aller Parteien, dass „Wachstum nicht alles“ sei, finden ihre Grenze am – vermeintlichen – Zwang, die Besitzstände ihrer Wählerklientel sichern zu müssen. Die über den Wohlstand wie über die Demokratie der Zukunft entscheidenden Fragen aber lauten: Wie können – unter Bedingungen schrumpfender Wachstumsraten – Arbeitsplätze, Renten, Bildung, medizinische Versorgung gesichert werden? Wie könnten die Ess- und die Mobilitätsgewohnheiten einer ganzen Bevölkerung verändert werden? Wie sähen die Lehrpläne für eine Gesellschaft des „Weniger“ aus? Wie definiert man angesichts der kommenden Rationalisierungswellen „gute Arbeit“? Derart vertrackte, institutionelle Fragen werden in der alternativen Öffentlichkeit eher am Rande behandelt, die „Visionen“ sind zumeist sehr grobmaschig. In der „Qualitätspresse“ und im Parlament spielen sie kaum eine Rolle.

Der Preis für das gedankliche Kleben am Status quo und kleinen Reparaturen ist der Zerfall des Interesses an der parlamentarischen Demokratie. Die Wahlenthaltungen, die Verachtung für die Politiker, die Rufe nach aggressivem Wirtschaftsnationalismus nehmen zu – und werden von den Mainstream-Eliten als „Modernitätsverweigerung“ oder mit dem Verweis auf die überlebensnotwendige „globale Konkurrenzfähigkeit“ abgetan: Verdrängungen aus Furcht vor einer linken Alternative zu den Pegidas.

Gleichzeitig wächst – neben der politischen Arena – die Zahl der Wissenschaftler und Aktivisten, die von „Postwachstum“ reden. Die griffige Formel lässt vergessen, dass es auch eine Zeit vor dem Wachstum gab – und das war die Welt von Krieg und von Klassenkampf. Nicht der Sieg der Demokratie am Ende des „Zeitalters der Extreme“ war der große Peacemaker, nicht einmal der deutsche historische Kompromiss, mit dem die Nachkriegslinke ihre Sozialisierungsforderungen gegen Mitbestimmung und Sozialstaat eintauschte. Es war die Ausweitung des Massenkonsums von Haushaltsgeräten, Automobilen, Telekommunikation, die in dreißig goldenen Jahren eine Konjunktur erzeugte, deren fiskalischer Fallout den Ausbau des Sozialstaats finanzierte.

Der Konsumismus, so schrieb es schon Mitte der fünfziger Jahre der Soziologe Helmut Schelsky nicht ohne kulturkritisches Bedauern, werde zur „wirksamsten Überwindung des Klassenzustands und des Klassenbewußtseins“ führen. Und so kam es, für eine Weile jedenfalls. Für ein paar Jahrzehnte herrschte ein Ausnahmezustand leicht abnehmender Ungleichheit und moderater Demokratie. Als dann Mitte der Sechziger die Profitmargen zu fallen begannen, ging es mit dem Konsumieren erst so richtig los. Die Industrialisierung der Landwirtschaft war der entscheidende Beitrag zu dieser letzten Wachstumsblüte: Die Einkommensanteile, die für Lebensmittel aufgewendet werden mussten, schrumpften innerhalb von 50 Jahren von 40 auf unter 15 Prozent. So entstand die Kaufkraft für all das, was die Kultur- wie Wachstumskritiker nun seit Jahrzehnten bejammern: die werbegetriebene Ausweitung der Konsumsphäre, die Durchkapitalisierung der Freizeit durch die wachsenden Unterhaltungs-, Dienstleistung- und Tourismusindustrien.

Aber dieser letzte Akt des Duetts von Kapital und Demokratie war nur noch (wie Wolfgang Streeck es in seinem Buch „Gekaufte Zeit“ nachzeichnet) durch die Abfolge von Inflation, Staatsverschuldung, Sozialabbau und Senkung der Lohnquote zu finanzieren. Die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen stieg, die Güterfülle auf Pump und die Arbeitslosigkeit schwächten die Kraft der Gewerkschaften. Der Überhang an Kapital und die Schuldenlast beförderten die Privatisierung der öffentlichen Infrastrukturen.

Die Unzufriedenheit über den Bruch des Wohlstandsversprechens wächst; aber die Regierenden sehen nur einen Ausweg: die Wiederkehr des Wachstums. Global gesehen hat der Verbrauch von Rohstoffen, Energie und Ökosystemen die natürlichen Grenze der Belastbarkeit von Erde und Atmosphäre überschritten. Aber eine Politik des Übergangs zum Postwachstum stößt an politische Grenzen: In China, Indien, Afrika und Lateinamerika würde eine präventive Drosselung des Wachstums zur Abwendung ökologischer Desaster am Wohlstandsbegehren der Massen scheitern; die Regierungen werden also den Wachstumstiger nicht reiten können, es sei denn mit autoritären Maßnahmen.

Aber auch in den westlichen Demokratien wären die Konsumgewohnheiten aller Schichten nicht ohne schwere politische Verwerfungen zu deckeln. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird erst der Druck realer Katastrophen die Politik zur Wende zwingen, und aller Voraussicht nach werden deren Formen dann nicht aus dem Lehrbuch der Demokratie stammen.

Wo die Sollbruchstelle der jetzigen, medial unterstützten und „marktkonformen“ Ordnung liegt, „der Moment, an dem sich die Wege von Kapitalismus und Demokratie trennen“ (Wolfgang Streeck), das wird unter dem offenen Himmel der Geschichte entschieden. Dabei ist eines offenkundig: Eine zukunftsfähige Reorganisation der Wirtschaft würde nicht nur den Reichtum der oberen „1 Prozent“, sondern auch die Einkommen der Mittelschichten einschränken. Große gesellschaftliche Projekte sind in einer Gesellschaft mit schrumpfendem Konsum demokratisch nur mit mehr Gleichheit durchsetzbar – Gleichheit der Konsum-, der Gesundheits-, Bildungs- und Berufschancen. Damit aber käme die in den Wachstumsjahrzehnten verdrängte Gerechtigkeitsfrage in neuer Schärfe auf die Tagesordnung.

Eine neue Stufe der Zivilisation

Bevor so etwas im Ernst geschieht, so schließt Streecks Analyse, „bedürfte es zum Mindesten jahrelanger politischer Mobilisierung und dauerhafter Störungen der gegenwärtig sich herausbildenden sozialen Ordnung“. Das ist eine Ordnung mit gedoptem Wachstum, noch mehr Ungleichheit und ohne Demokratie: der oligopolistische Kapitalismus global agierender Großkonzerne, welche die kapitalistische „Landnahme“ zum Ende treiben, mit „Marktstaaten“, die hinter einer demokratischen Fassade mit polizeilicher Gewalt Störungen verhindern, die Massen mit abgestuften Rationen von Enter- und Politainment ruhigstellen. Gelegentliche Terrorwarnungen stabilisieren dann das Ganze. In seinem Roman „Globalia“ hat Jean-Christophe Rufin eine solche Ordnung beschrieben: das gruselige Gegenbild zu einer ebenso gruseligen Ökodiktatur, wie sie sogar der neuliberale Flügel der Grünen als Schreckgespenst an die Wand malt.

Ohne eine kräftige Belebung der parlamentarischen, gewaltengeteilten Demokratie könnte sich Hoffnung auf eine befriedete Welt dann nur noch auf eine quasievolutionäre Entwicklung stützen: auf die Erwartung, dass das Wachstum im globalen Süden mit dem ökologisch destruktiven Wohlstand, der Emanzipationen der Frauen und der wachsenden Bildung langfristig die Geburtenrate sinken lässt. Nach sechs oder sieben Generationen würde ein solcher Entwicklungspfad – so hat es Reiner Klingholz in seinem Buch „Sklaven des Wachstums“ skizziert – in eine Welt führen, wo die Fortpflanzungsrate auf das heutige westliche Niveau geschrumpft wäre, und 3 Milliarden Menschen der Erde nicht mehr so viel antun können. Aber dieser Pfad ginge durch das Fegefeuer der Erderwärmung, kriegerischer Auseinandersetzungen um Rohstoffe und Wasser sowie Glaubenskriege aller Art.

Ein solcher Weg hätte – wenn auch auf völlig anderer Grundlage – große strukturelle Ähnlichkeit mit der Welt „vor dem Wachstum“, vor dem Siegeszug des Kapitalismus. Die Integrationsmechanismen der vorbürgerlichen Gesellschaften hießen Gewalt und Religion. Es dauerte Jahrhunderte, bis Wissenschaft, Aufklärung, Klassenkampf und Revolutionen Demokratieforderungen hervorbrachten, bis Technik und Wissenschaft das Leben der Massen leichter und länger werden ließen. Bis heute aber bricht sich die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie – einer Beteiligung aller Bürger an der Gestaltung der Arbeitsgesellschaft – am Primat des Privateigentums.

Die Einsicht, „dass es so nicht weitergeht“, breitet sich seit den siebziger Jahren aus. Eine andere Welt ist möglich – nicht nur in Gedanken: Die materiellen Voraussetzungen für eine neue Stufe der Zivilisation sind gegeben. Aber für viele Postwachstumsdenker liegen die politischen Rahmenbedingungen für den Übergang dorthin „jenseits des Gegebenen“ – so sagt es Harald Welzer, einer der kreativen Vordenker der Graswurzelbewegungen. Solche Resignation gegenüber den politischen Institutionen verstärkt die Tendenz, „bei uns selbst anzufangen“ und tragfähige Inseln der Zukunftsfähigkeit zu bauen, denn „das geht sofort“.

Gegen die Hoffnung auf einen allmählichen Wandel von unten aber spricht nicht nur, dass sich die Zeitfenster schließen, sondern auch die historische Erfahrung, dass es nicht das Problembewusstsein der Massen und nicht die noch so progressiven Subkulturen sind, die das Gewebe von Gesellschaften dauerhaft verändern, sondern nur die normativen Zwänge, die Notlagen, die Katastrophen, die Kriege. Als Jimmy Carter 1977 zur Lösung der Energie- und Umweltkrise aufrief, zu einem Bewusstseinswandel und zur Schaffung neuer Institutionen, sagte er, diese Anstrengung sei „the moral equivalent of war, except that we will be uniting our efforts to build and not to destroy“. Er meinte damit das gesellschaftliche Gesamtkunstwerk einer demokratischen Konstruktion normativer Zwänge, die eine große Wende ermöglichen.

Alle Überlegungen über die Konturen einer „Postwachstumsgesellschaft“, alle bewundernswerten Pioniertaten und Experimente könnten Übungen in Vergeblichkeit sein, wenn sie nicht – gleichgewichtig – mit einer Politisierung der ökologischen Aktivisten, mit ihrer Orientierung auf eine Instandbesetzung der politischen Institutionen einhergehen. Denn noch stehen diese, aber ihre Fundamente schwanken und ihre Fassaden sind durchlöchert. Zurzeit scheint das die anstrengendere, langweiligere, langwierigere, gelegentlich gar verachtete Arbeit zu sein – aber es gibt nicht nur einen Peak Oil, einen Peak Soil, einen Peak Water, es gibt auch einen Peak Democracy.

Mathias Greffrath ist Soziologe und Journalist. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.02.2015, von Mathias Greffrath