12.02.2015

Avantgardisten des Augenblicks

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Avantgardisten des Augenblicks

von Stephan Lessenich

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Eigentlich müsste sie allseits noch gut – oder schlecht – in Erinnerung sein, die Debatte um Thilo Sarrazin: die beklemmenden Diskussionen um die vermeintliche Selbstvernichtung Deutschlands, um der Deutschen angebliche Permissivität gegenüber der Zuwanderung aus „fremden Kulturkreisen“ und um die zumal mit der Aufnahme islamischer Migranten verbundene Volksverdummung.

Damals, es ist keine fünf Jahre her, ging das Buch „Deutschland schafft sich ab“ wie warme Semmeln über die Theken, fand die als quasiwissenschaftliche Abhandlung aufgemachte Aufforderung eines aufrechten Sozialdemokraten zum bürgerlichen Salonrassismus reißenden Absatz und vielstimmigen Anklang – und zwar in der gesamten Republik, in ihrem protestantischen Norden ebenso wie im katholischen Süden und im konfessionslosen Osten. Deutschland überlebte – und nicht geringe Teile der gesamtdeutschen Stammtisch-, Fitnessstudio- und Kreuzfahrtöffentlichkeit waren sich einig: Wo er recht hat, hat er recht, man wird ja wohl noch unliebsame Wahrheiten aussprechen dürfen.

Heute, nach mehrmonatiger, plagiatsverdächtiger Wiederauflage der wendedeutschen Montagsdemos in Dresden, sind sich plötzlich alle einig, jedenfalls im deutschen Westen: typisch Ostdeutschland. Da haben wir’s also wieder, Pegida sei Dank: Bühne frei für die nächste Runde wohltuender mehrheitsgesellschaftlicher Selbstvergewisserung, dass man doch so gründlich anders sei als die miefigen, piefigen, vorurteilstriefenden Ossis. Kein Wunder, dass die Demonstrationen gegen die „Islamisierung des Abendlands“ nicht nur im Schutze der Dunkelheit, sondern auch noch im hintersten Winkel Dunkeldeutschlands stattfanden: weit weg vom bundesrepublikanischen Mainstream, bei den staatsautoritär deformierten Schmuddelkindern unseres demokratischen Gemeinwesens.

Die fremdenfeindlichen Umtriebe im ehemaligen Tal der Ahnungslosen bedienen ein weiteres Mal auf wunderbare Weise sämtliche Stereotype westdeutschen Überlegenheitsgefühls. Im deutschen Osten sagen sich demnach nicht nur Fuchs und Hase Gute Nacht, dort sind auch Hopfen und Malz für eine liberale Zivilgesellschaft verloren.

Man muss nicht um politisches Verständnis für die Sorgen und Nöte des durchschnittlichen Pegida-Mitläufers werben oder gar den grassierenden Alltagsrassismus und dessen institutionelle Förderung zumal im Freistaat Sachsen verharmlosen, um es sich analytisch gleichwohl nicht ganz so einfach zu machen und auf ein Phänomen zu verweisen, das für die gesamte Gesellschaft von Belang ist: darauf nämlich, dass sich Ostdeutschland derzeit neuerlich als ein Laboratorium sozialen Wandels erweist. Was in Dresden auf die Beine gestellt wurde, war der – politisch in der Tat bedenkliche – Ausdruck eines radikalisierten Gegenwartsbezugs, wie er sich zukünftig, so steht zu erwarten, auch im vermeintlich demokratiefesteren Westen der Republik Bahn brechen wird.

Was als antiislamische Massendemonstration gesellschaftlichen Konservierungswillens auftrat, ist als Impuls wohl auch den vermeintlich fortschrittlicheren Sozialmilieus, jenseits wohlfeiler Sonntagsreden in Ost wie West, nicht fremd: der tief sitzende Wunsch nämlich, den Lauf der Zeit anzuhalten; an der Gegenwart festzuhalten, weil die Zukunft nichts Besseres mehr verheißt.

In Ostdeutschland ist dieser Wunsch nicht neu, er prägt die sozialen Mentalitäten der neuen Bundesbürger seit nunmehr einem Vierteljahrhundert. Seit der maßgeblich von ihnen selbst herbeigeführten „Wiedervereinigung“ sind die Ostdeutschen die verkannten Helden der Gegenwart. Sie agieren als Avantgardisten des Augenblicks, dem sie – ganz Weimarer Klassik – zurufen, er möge doch, weil so schön, verweilen.

Das die Nachwendezeit einleitende Kanzlerehrenwort von den „blühenden Landschaften“, so oft es seither auch allseits kritisiert, ironisiert und desavouiert worden sein mag, hat im Osten bleibenden materiellen wie ideologischen Eindruck hinterlassen. Denn ungeachtet aller biografischen Brüche und emotionalen Verletzungen, enttäuschten Erwartungen und diskriminierenden Erfahrungen geht es der Bevölkerungsmehrheit im Beitrittsgebiet heute an sozialstatistischen Kriterien gemessen tatsächlich besser als zu Zeiten der DDR.

Der „Fahrstuhleffekt“, den der Soziologe Ulrich Beck einst für die westdeutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit ausgemacht hatte, hat sich einige Jahrzehnte später in Ostdeutschland wiederholt: Die im vereinigten Deutschland nochmals massiv gestiegene wirtschaftliche Wertschöpfung hat auch zwischen Elbe und Oder, Rügen und Erzgebirge die Soziallagen kollektiv angehoben. „Wohlstand für alle“ ist, jenseits aller mit dieser Formel immer schon verbundenen ungleichheitsnegierenden Ideologie, im Kern auch zur neuen ostdeutschen Lebenserfahrung geworden. Eine Erfahrung, die man nicht mehr missen mag.

Und doch treibt die Ostdeutschen – und eben nicht nur sie – zunehmend die böse Ahnung um, dass das Wirken der guten Wohlstandsgeister, die man dereinst rief, nicht von Dauer sein könnte. Die D-Mark, Symbol des alten Wirtschaftswunderlands, hat man den Deutschen, kaum dass auch die armen Verwandten im Osten in ihren Genuss gekommen waren, wieder genommen.

Der über Jahrzehnte hinweg regierungsamtlich betriebene, von keinem gesetzlichen Verschleierungsverbot gehinderte Selbstbetrug, wonach Deutschland kein Einwanderungsland sei, hat sich zuletzt nicht mehr aufrechterhalten lassen, nicht einmal mehr in Bayern. Und in der Finanzkrise, deren Effekte angeblich (wenn jetzt bloß der Grieche nicht verrückt spielt!) überwunden sein sollen, schien es jedenfalls für einige wenige Tage auf unheimliche Weise realistisch, dass aus den Geldautomaten, den Futtertrögen unserer gewohnten und liebgewonnenen Lebensweise, plötzlich kein Nachschub mehr fließen könnte.

Im Zeichen drohenden Wohlstandsverlusts und schleichender Abstiegsangst setzen Mechanismen präventiven Selbstschutzes ein. Da stört dann alles, was man sich als Grund der Gefährdung des eigenen Lebensstandards und Sozialstatus so vorstellen kann oder im Zweifel auch herbeifantasieren mag, von den Bürokraten in Brüssel bis zur imaginierten Überfremdung vor Ort. Pegida, das sind die Klimawandelleugner unter den Protestmarschierern, die Kreationisten unter den sozialen Bewegungen: Gott schuf unseren geliebten Wohlstand, und wenn er nun gefährdet ist, dann sind nicht wir schuld daran, nicht unsere gesellschaftlichen Produktions- und Verteilungsverhältnisse, sondern die bösen anderen, die ihn uns neiden und nehmen wollen – die Nichtdeutschen, qua Ausweis oder Anschein, aller Herren Länder.

Ehe man angesichts solcher sozialen Abwehrreaktionen selbstgerecht auf die dumpfen Ossis zeigt, sollte man sich klarmachen, dass deren auch im Wortsinne abstoßender Protest letztlich für ein allgemeineres, gesamtdeutsches – und wahrlich gesamteuropäisches – Phänomen steht: für das sich abzeichnende Ende des guten Lebens gesellschaftlicher Mehrheiten in den Zentren des globalen Kapitalismus – und die zu erwartenden kollektiven Reaktionen darauf. Nicht nur den Dresdner Marschierern, auch ihren aufrichtigen Kritikern schwant, dass die fetten Jahre ungetrübten Wachstumslebens sich allmählich dem Ende zuneigen könnten.

Hat die kapitalistische Globalisierung bislang die deutschen Mittelschichtsmilieus weitgehend unbehelligt gelassen, so kriecht seit den akuten Finanzmarktkrisenzeiten die ökonomische Unsicherheit teils gefühlt, teils tatsächlich auch in die ehedem gesicherten Etagen der Sozialstruktur hinauf.

Zugleich verlangen die von den blühenden Landschaften Ausgeschlossenen – afrikanische Mittelmeerflüchtlinge ebenso wie griechische Krisenpolitikgeschädigte – Einlass ins europäische Haus des immer noch guten Lebens.

Und dann kommen auch noch, von Mariupol bis Paris, die eine lange Ära des europäischen Friedens ausläutenden Einschläge des Krieges, immer näher. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sich die „Verteidigung des Abendlands“ von den vermeintlichen Rändern in die etablierte Mitte der Gesellschaft hinein bewegen und sich als das zu erkennen geben wird, worum es hinter den mehr oder weniger dunklen Parolen eigentlich geht: um die Sicherung unseres Wohlstands gegen all die da draußen, da drüben und da drunten.

Alles soll so bleiben, wie es ist – und alle da bleiben, wo sie sind: Das hätte man wohl nicht nur in Dresden gern. Am Ende einer historischen Parabel, in der Spätphase einer überlebten gesellschaftlichen Existenzform, bilden die Ostdeutschen, als die Spätgekommenen der deutsch-europäischen Wohlstandsgemeinschaft, die Vorhut der Reaktion. Sie sind die reaktionäre Avantgarde einer Gesellschaft, die sich noch umsehen wird – nach einer Gegenwart, die eigentlich heute schon vergangen ist.

Stephan Lessenich war bis 2014 Professor für Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse an der Universität Jena und lehrt nun Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.02.2015, von Stephan Lessenich