Occupy Wall Street
Die weltweite Krise des Kapitalismus der letzten Jahre hat in vielen Ländern – ob arm oder reich – zu Protesten, Aufruhr und sogar Umstürzen geführt. Die Form der politischen Auseinandersetzung hing dabei von einer Reihe von Faktoren ab, vor allem von den konkreten Auswirkungen der Krise an der gesellschaftlichen Basis. In den USA beispielsweise führten die massiven Haushaltskürzungen und der Angriff auf die gewerkschaftlichen Rechte der Angestellten im öffentlichen Dienst Anfang dieses Jahres zu massiven Protesten in verschiedenen Bundesstaaten; vor allem in Wisconsin, wo hunderttausende Demonstranten auf die Straße gingen und sogar das Parlamentsgebäude in Madison besetzten.
Eine noch bedeutendere und radikalere Bewegung ist Occupy Wall Street (OWS). Sie entstand vergangenen September mit der Besetzung des kleinen Zuccotti-Parks im Finanzviertel von Manhattan und hat sich seitdem auf hunderte größerer und kleinerer Städte ausgedehnt. Anders als die Proteste in Wisconsin ist OWS keine Reaktion auf ein einzelnes Gesetzesvorhaben, auf Budgetkürzungen oder eine andere konkrete Bedrohung durch staatliches Handeln. Stattdessen artikuliert sie einen umfassenden, zornigen und durchaus überzeugenden Einspruch gegen die Macht der Großunternehmen in ihrer wirtschaftlichen und politischen Form. Die Bewegung behauptet, „99 Prozent der Bevölkerung“ zu vertreten, und ist mit ihrer Anklage ganz offensichtlich bei sehr vielen Menschen auf offene Ohren gestoßen.
In ihrer „Erklärung der Besetzung von New York City“ machten die OWS-Aktivisten die ebenso demokratische wie internationalistische Perspektive ihrer Kritik am Verhalten der großen Privatunternehmen deutlich: „Wir schreiben, damit alle Menschen, die sich von der Macht des globalen Kapitals ungerecht behandelt fühlen, wissen: Wir sind eure Verbündeten. Als ein geeintes Volk erkennen wir die Realitäten an: Dass die Zukunft der menschlichen Gattung von der Zusammenarbeit ihrer Angehörigen abhängt; […] dass eine demokratische Regierung ihre gerechte Macht vom Volk bezieht, während die Konzerne niemanden um Erlaubnis fragen, bevor sie den Menschen und der Erde ihren Reichtum abpressen; und dass echte Demokratie nicht möglich ist, solange das politische Geschehen von wirtschaftlicher Macht bestimmt wird. Wir wenden uns an euch in einer Zeit, in der unsere Regierungen von Konzernen gesteuert werden, für die Profite vor Menschen kommen, Eigeninteresse vor Gerechtigkeit und Unterdrückung vor gleichen Rechten.“
OWS hat zwar in erster Linie die Banken und finanzwirtschaftlichen Institutionen im Visier, die man gemeinhin mit der „Wall Street“ verbindet. Doch die Bewegung zielt darüber hinaus auf die Macht der privaten Wirtschaft insgesamt. In ihr sieht sie die Ursache der Lebensnöte von 99 Prozent der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten und der Welt allgemein. In einem Land, in dem der Kapitalismus nie ernsthaft und mehr als nur sporadisch infrage gestellt wurde, entfernt man sich mit einer solchen Auffassung sehr weit vom politischen Mainstream.
Die OWS-Aktivisten in New York sind allerdings keine Marxisten im engeren Sinn. Sie empören sich eher über die „Gier der Konzerne“ als über den Kapitalismus insgesamt. Zugleich sind sie unverkennbar von sozialistischen und anarchistischen Ideen und Idealen beeinflusst. In dieser Hinsicht ähnelt OWS dem „Global Justice Movement“, das 1999 in Seattle seinen Anfang nahm – aber auch der gegenwärtigen „Los indignados“-Bewegung in Spanien und vielen anderen linken Protestgruppen von Athen bis Paris.
Die Taktik der anhaltenden Besetzung des öffentlichen Raums geht eindeutig auf die Proteste auf dem Kairoer Tahrirplatz zurück. OWS ist nicht einfach nur ein weiterer Protest gegen Arbeitslosigkeit, Sparprogramme, Zwangsvollstreckungen, gewerkschaftsfeindliche Politik, Umweltzerstörung, ruinöse Studiengebühren oder Korruption in der Politik. OWS ist all das zusammen und bringt diese breit gestreuten Phänomene in Zusammenhang mit der Übermacht der Großunternehmen, der eigentlichen Ursache der aktuellen Krise, welche in den Augen der Aktivisten nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische ist.
Bislang ist die Bewegung ohne Zweifel erfolgreich. Einen großen Dienst hat sie der Öffentlichkeit allein schon dadurch erwiesen, dass sie den Zorn der Menschen auf Banken, Konzerne und gekaufte Politiker zum Ausdruck bringt und deutlich macht, dass sie nicht allein sind. OWS hat außerdem im gesamten Land Debatten über Themen ausgelöst, die in den letzten Jahren kaum noch Eingang in den breiteren politischen Diskurs fanden: die Macht der Konzerne und die Straflosigkeit ihrer Vergehen, die gewaltige soziale Ungleichheit im Land und die Korruption der beiden Großparteien.
OWS hat einer großen Zahl von Gruppen – Gewerkschaften, kommunale Gruppen, Studenten, die Friedensbewegung, Umweltaktivisten – einen gemeinsamen Mittelpunkt gegeben und dadurch zu immer neuen Märschen, Demonstrationen und politischen Initiativen in New York und darüber hinaus angeregt. Etliche andere Gruppen konnten vom wachsenden öffentlichen und medialen Interesse für OWS profitieren. Inzwischen kann man von einem losen „OWS-Bündnis“ sprechen, das all diese unterschiedlichen Gruppen umfasst. Für manche Menschen wirken vor allem die basisdemokratischen und partizipatorischen Strukturen in den OWS-Besetzungscamps anziehend, weil sie eine aufregende Alternative zur kommerziellen Massenkultur bieten.
Die entscheidende Frage, die bisher unbeantwortet blieb, ist, ob und wie es der OWS-Bewegung gelingen kann, die von ihr mit hervorgebrachte Wut und Energie in echte politische Macht umzuwandeln, in wirklichen Einfluss gegenüber der von ihr beklagten Übermacht der Konzerne.
Wirkliche Macht kann der Bewegung eigentlich nur von den Organisationen zuwachsen, die sich um sie scharen: Minderheiteninitiativen, politisch organisierte Studenten und besonders Gewerkschaften haben zumindest ein wenig Einfluss in den wichtigen Institutionen. Doch diese Organisationen sind nach Jahren der Auszehrung durch die Krise noch weiter in Bedrängnis geraten. Ohnehin teilen amerikanische Gewerkschafter, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die grundsätzliche Kritik an Großkonzernen nicht und distanzieren sich auch von der Militanz der OWS-Aktivisten.
Eine weitere Gefahr für OWS sind liberale Politiker innerhalb der Demokratischen Partei, die die Energie der Bewegung nur zu gern für die Wahlkämpfe des Jahres 2012 nutzen würden. Und natürlich ist es sehr unwahrscheinlich, wie Robert Reich, der ehemalige Arbeitsminister unter Bill Clinton, kürzlich betonte, dass sich die Demokraten von OWS zu einer irgendwie unternehmenskritischen Politik drängen lassen. Sie sind viel zu sehr vom Geld der Konzerne, von den Medien und den Beziehungen zur Wirtschaftswelt abhängig, um sich mehr als ein paar Zentimeter in diese Richtung zu bewegen. Einige Politiker der Demokraten werden aber mit Sicherheit versuchen, in der Öffentlichkeit als populistische Gegner der Großkonzerne aufzutreten, um etwas von der Energie und dem Enthusiasmus der OWS-Bewegung abzuschöpfen. Sogar Präsident Obama hat das im Wahlkampf 2008 mitunter getan, trotz seiner guten Verbindung zur Wall Street.
Wird sich die OWS-Bewegung dafür hergeben? Ihr harter Kern sicher nicht, denn dessen Verachtung für liberale Demokraten wie Obama und den New Yorker Senator Charles Schumer, einen weiteren Liebling der Wall Street, sitzt zu tief. Einige Organisationen und Gewerkschaften aus dem OWS-Umfeld werden sich aber in die kommenden Wahlkämpfe der Demokraten einspannen lassen. Dasselbe gilt für viele Studenten und andere Mitwirkende, die die Kritik der OWS an der Wirtschaft – und der Demokratischen Partei – vielleicht nicht im selben Maße teilen. So könnten schon bald viele Enthusiasten von heute der Bewegung den Rücken kehren, je näher das Wahljahr rückt. Jeff Goodwin
Aus dem Englischen von Herwig Engelmann Jeff Goodwin ist Professor für Soziologie an der New York University. Autor u.a. von „No Other Way Out: States and Revolutionary Moments, 1945–1991“, Cambridge (University Press) 2001.