Tunesisch denken
Selbstbewusstsein ist ein zentraler Begriff, um das Rätsel von Tunis zu entschlüsseln von Charlotte Wiedemann
Think tounsi!“ steht auf den Werbetafeln für eine Limonade. Denk tunesisch! Die Botschaft in angloarabisch vermittelt Chic und Selbstbewusstsein, ein Moment der Abkehr vom kolonialen Französisch. Think tounsi, das ist jung und frisch. Arabische-Frühlings-Limonade.
Aber tunesisch denken, wie geht das nun – nachdem die Islamisten in Tunesien stärkste Partei geworden sind? Ennahda, die Renaissance-Partei, stellt den Premierminister im Mutterland der Arabellion – ist das Vorbild oder Versehen, Wende oder Ausrutscher, Fortschritt oder Reaktion? Von den Tunesiern ist eine klare Antwort nicht zu erwarten. Das Land ist seit der Wahl gespalten; jene, die sich Laizisten und Modernisten nennen, blicken auf ihr Volk wie auf einen fiebernden Patienten. Der andere Teil, also der zu therapierende, wirft sich derweil mit Euphorie auf die Aufgabe der Gestaltung.
Ein historischer Augenblick, mit diskret absurden Zügen. Es wird ja nun nicht nur eine neue Verfassung geschrieben und ein politisches System erfunden, sondern es muss auch gleich noch, quasi nebenbei, eine neue politische Klasse aus dem Boden gestampft werden. Die alte, natürlich säkular, steht nun wie eine Randgruppe da, gemeinsam mit Tunesiens berühmten Frauenrechtlerinnen (natürlich säkular). Von den 49 Frauen in der 217 Köpfe zählenden verfassunggebenden Versammlung sind 42 Islamistinnen. Schwestern, macht uns keine Schande!
Ganz im Ernst: Wofür steht Tunis nun? Auf der Terrasse des Grand Café du Théatre (einer modernistischen Bastion) mehren sich die Fragen. Etwa die nach dem einstigen Todesurteil für den Wahlsieger, den Vorsitzenden der Ennahda, Rachid Ghannouchi. Verhängt unter Bourguiba, jenem allzeit verehrten Habib Bourguiba, nach dem in Tunesien jede gerade verlaufende Straße benannt ist, natürlich auch die, an der wir gerade sitzen. Und nun hat ein Mann, den er vernichten wollte, das Vertrauen der Wähler gewonnen?
Nehmen wir noch den designierten Premierminister dazu, Hamadi Jebali, 16 Jahre Gefängnis im Lebenslauf. Kann man sich einen dramatischeren Bruch mit der Vergangenheit denken? Und warum wird das so wenig erwähnt? Die Islamisten haben kein Recht auf Rechte, so dachten viele Tunesier früher; heute denken sie das nicht mehr. Aber im westlichen Denken steckt das noch drin. Die Kerkerjahre der Islamisten wecken bei uns wenig Respekt: Das ist nicht Bekennende Kirche. Dabei gab es in den arabischen Diktaturen durchaus ein Äquivalent zu der Verhaftungs-und-Schweige-Spirale, die Martin Niemöller in seinem berühmten Zitat verewigt hat. Als das Regime die Islamisten holte, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Islamist. Und irgendwann war niemand mehr da, der protestieren konnte.
Die Anwältin Radhia Nasraoui, eine der mutigsten Frauen Tunesiens und nebenbei Kommunistin, gab im Frühjahr auf meine Frage, warum sie unter Ben Ali Islamisten verteidigt hat, die wunderbare Antwort: „Weil es mir egal ist, warum jemand gefoltert wird.“ Das ist Think tounsi.
Für die Frage, wer in der Ennahda-Partei etwas zu sagen hat, spielt die sogenannte legitimité carcérale eine große Rolle, die Kerkerlegitimität. Obwohl die Gefängniskarrieren in eine Zeit zurückreichen, als die Protagonisten noch von einer Radikalität waren, die sie inzwischen über Bord geworfen haben. Es gibt keinen Reuediskurs; für das Scharia-Kettenhemd von gestern muss sich nicht entschuldigen, wer nun den zivilen Anzug des moderaten Neoislamisten trägt. Eher halten die Geläuterten, mit neuem Selbstbewusstsein, der Gesellschaft vor, wie sie sich vom Regime die Vernichtung jeder Solidarität hat aufzwingen lassen.
Täuscht man sich, oder hat das Klima von heute viel mit diesen Beschädigungen in der Vergangenheit zu tun? Die Grabenkämpfe zwischen religiös und säkular, die obsessiven Debatten, die ins Absurde verzerrten Feindbilder? Selbstbewusstsein ist jedenfalls ein zentraler Begriff, um das Rätsel von Tunis zu entschlüsseln. Ennahda hat ihren Erfolg um eine doppelte Botschaft herum konstruiert: Der radikale Bruch mit dem alten System wird nur möglich durch die Wiedergewinnung des Stolzes auf arabisch-muslimische Identität. Das haben die tunesischen Laizisten als Hieb gegen Verwestlichung verstanden. Aber die Botschaft vom Stolz ist viel simpler; sie streicht heilende Salbe auf die gequälte arabische Psyche, auf die Wunden jahrzehntelanger Demütigung und Selbstdemütigung in den Diktaturen. Scham und Selbsthass, darüber wird auch heute kaum gesprochen, aber beides färbt die Psychologie der Gesellschaften im Umbruch, schürt die Sehnsucht nach Selbstversicherung.
Oder verrennen wir uns hier? Heilende Identitätspolitik, ist das nur Ablenkung, Spiele statt Brot? Ist nicht die viel entscheidendere Frage: Entwickelt der populäre neue Islamismus eine soziale Option?
Es irrt ja, wer meint, Muslimbrüder und Co. seien sozial. Sie sind karitativ eingestellte Wirtschaftsliberale, so war es jedenfalls bisher. Statt sozialer Kämpfe: durch Almosen und fromme Taten Klassenharmonie bewirken. Bei den großen Streiks vor und nach dem Sturz Mubaraks waren die ägyptischen Brüder kaum präsent, auch nicht bei der Gründung von 90 neuen Gewerkschaften. Die wesentliche Frage lautet also nicht: Sind die neuen softeren Islamisten mit einem demokratischen Staat kompatibel? Sondern: Leisten sie einen Beitrag, dass es den betroffenen Völkern besser geht? Vulgo: Sind die Islamisten zu etwas nutze?
Think tounsi. Die arabischen Rebellionen haben die Empört-euch-Bewegungen in anderen Kulturen befruchtet. Aber wie ist es umgekehrt? Vom Widerstand gegen den Finanzkapitalismus wollten die Islamisten, siehe oben, bisher nichts wissen – Teufelszeug. Auf der letzten Kundgebung von Ennahda vor der Wahl aber plötzlich ein neuer Ton. Rachid Ghannouchi bezog sich positiv auf Occupy Wall Street und versicherte seiner Anhängerschaft im Sportstadion eines Vororts: „Ihr seid Teil der weltweiten Bewegung gegen Ungerechtigkeit.“ Vielleicht nur Taktik, doch für wen? Eine Beziehung herzustellen zwischen dem Umma-Gefühl der muslimischen Weltgemeinde und der Universalität einer globalisierungskritischen Bewegung, das fällt Muslimen aus Indien, Südostasien oder Subsahara-Afrika leichter als den Arabern. Die sitzen im Gefängnis ihrer Auserwähltheit; sie könnten es verlassen.
Think tounsi, think big. Ein Sieg des Arabischen Frühlings wird nicht möglich sein ohne eine massenhafte „Neulektüre“ des Islam. Demokratische, vitale Gesellschaften können in den arabischen Ländern nur entstehen, wenn die ängstliche, unhistorische, buchstabengläubige Lesart des Islam, wie sie sich in den vergangenen Jahrzehnten massenhaft verbreitet hat, überwunden wird zugunsten einer selbstbewussten, in sich ruhenden Weise, Muslim zu sein. Dies festzustellen, ist keine Plattitüde – handelt es sich doch um den Traum von einem gewaltigen, völlig unüberschaubaren Projekt, das Jahre, Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde. Das also auf einer ganz anderen Zeitschiene angesiedelt ist als, sagen wir, die ägyptische Parlamentswahl Ende November. Wir werden also über Jahre hinaus zitternde Zeugen einer Transformation sein, deren Gelingen alles andere als gesichert ist.
Es war ein Irrtum, zu meinen, eine revolutionäre, nichtreligiöse Bewegung könne die konservativ-religiöse Verfasstheit der Gesellschaft in einem einzigen Kraftakt überspringen. Möglich war das ein paar Tage lang, im Rausch der Tahrir-Tage. Aber in der Mühe der Ebene sind die dezidiert säkularen Kräfte, soweit sie überhaupt auf der Seite des Fortschritts stehen, zu schwach, um den politischen Prozess zu prägen. Vielmehr ringen in den postrevolutionären Gesellschaften heute zwei große geistig-politische Impulse miteinander: Der erste Impuls ist rebellisch, das radikale Verlangen nach Bürgerrechten, Rechtsstaat und sozialer Gerechtigkeit. Der zweite Impuls ist beharrend: der kulturelle Konservatismus in Alltag, Familie, Sittenwelt – Produkt der religiösen Überfütterung durch Fernsehprediger, Satellitenprogramme, Online-Fatwas.
Der demokratische Aufbruch muss einhergehen mit einer religiösen Emanzipation des Individuums, wie sie dem Islam überhaupt nicht fremd ist, wären nur erst einmal all die Pappmaché-Autoritäten abgeräumt, die sich in seinem Haus einquartiert haben. Think tounsi. Tunis, das steht nun für die Ungewissheit – voller Hoffnungen und Möglichkeiten, doch alles noch richtungslos. Ein Ahnen, dass dies erst ein Anfang ist, ein früher Anfang. Und dass niemand weiß, wie es weitergeht.
Charlotte Wiedemann ist Journalistin in Berlin. © Le Monde diplomatique, Berlin