Brief aus Istanbul
von Niels Kadritzke
Einiges ist passiert, seit ich das letzte Mal meine Istanbuler Freunde besucht habe: Die angeblich islamistische AKP erzielte im Juli einen rauschenden Wahlsieg. Im August wurde Abdullah Gül, der engste Weggefährte von Regierungschef Erdogan, zum neuen Präsidenten gewählt. Im September begann eine aufgeregte und aufregende Diskussion über die neue Verfassung. Die soll nach dem Willen der AKP-Regierung – und zum Entsetzen der Kemalisten jeglicher Couleur – jungen Frauen erlauben, an staatlichen Universitäten zu studieren, ohne dass sie am Eingang das Kopftuch ablegen müssen. Oder genauer: den strengen türban, der alle Haare verbirgt.
Ziemlich viel Neues für drei Monate, aber eines bleibt hier immer beim Alten: Atatürk ist allgegenwärtig. Dieses Mal hängt sein Porträt auch an jedem einzelnen Pfeiler der Galata-Brücke. Unter dem vertrauten Gesicht mit dem strengen Blick stehen seine schlichten Lehrsätze, die jedes türkische Schulkind auswendig kennt. Einer der Sprüche preist natürlich den „Säkularismus“, den neuerdings nicht nur stramme Kemalisten bedroht sehen.
Die linke Istanbuler Intelligenzia und viele meiner kosmopolitischen Freunde, die mir die politische Lage erklären, sind besorgt. Und nervös, wie Ece, die hellsichtige Reportagen schreibt, zum Beispiel über die türkischen und irakischen Kurdengebiete. Ece hat einen besonderen Blick für Frauenschicksale; ich glaube, sie würde sich als postkemalistische Feministin bezeichnen. Wir trafen uns in einem eleganten Café am Taksim-Platz, im Zentrum des weltlichen Istanbul.
Ece ist natürlich gegen das Türban-Verbot an Universitäten. Aber sie fürchtet, wenn das Verbot fällt, werde es bald keine Studentin mehr wagen, ohne Kopftuch in der Uni zu erscheinen. Sie zitiert die Warnung des türkischen Starsoziologen Sherif Mardin: Der „Gruppendruck“ einer traditionell-islamischen Umgebung könnte junge Frauen dazu bringen, sich entgegen ihrer eigenen Überzeugung religiös zu tarnen. Deshalb hält sie das Spiel der Erdogan-Regierung mit der Kopftuchfrage für sehr gefährlich.
Ece versteht nicht, warum viele nichttürkische Europäer das nicht verstehen wollen und erklärt nebenbei, die unkritische Haltung vieler Ausländer gegenüber der regierenden AKP zur „raffiniertesten Version des Orientalismus“. Das sitzt. Ich kann nicht kontern, mir fallen nicht einmal die weniger raffinierten Formen des Orientalismus ein, die Edward Said in seinem berühmten Buch geißelt. Also frage ich, ob auch sie persönlich zuweilen diesen „Gruppendruck“ verspüre.
Durchaus, meint Ece. Als „unbedeckte Frau“ traue sie sich nicht mehr in gewisse Stadtteile von Istanbul, wo man sie für eine westlich verdorbene Schlampe hält. Da fühle sie sich ausgegrenzt, ja bedroht. Zum Beispiel in Fener, einem Viertel auf der europäischen Seite, südlich des Goldenen Horn.
Wer immer nach Istanbul kommt, sollte die faszinierende Fahrt vom Taksim-Platz ins Fener-Viertel machen, die von Europa nach Ostanatolien führt: die Touristenmeile Istiklal entlang und am Galata-Turm vorbei hinunter zur Brücke mit den Atatürk-Häuptern. Am anderen Ufer steigt man in einen der blauen Busse und fährt am Goldenen Horn entlang Richtung Westen. Im Bus sind Frauen mit Kopftuch bereits in der Mehrheit. Wenn links am Hang das gedrungene blutwurstrote Gemäuer des Ökumenischen Patriarchats aufragt, hat man Fener erreicht.
Die Zitadelle der orthodoxen Christenheit liegt inmitten eines Viertels, das in den letzten zwanzig Jahren zu einer Enklave des orthodoxen Islam geworden ist. Und zu einem veritablen Slum. Häuser mit blinden Fenstern und Sperrholzplatten statt Türen; Kinderhorden, die im Rinnstein spielen oder in Müllcontainern wühlen; streunende Hunde und Unmengen räudiger Katzen.
Dies ist ein Viertel, das Ece auch dann meiden würde, wenn das Straßenbild nicht an ein arabisches Land erinnern würde. Weit und breit ist nicht eine unbedeckte Frau zu sehen, jede zweite ist in einen carsaf gehüllt, ein bodenlanges schwarzes Gewand, das nur das Gesicht frei lässt. Die meisten Männer, nicht nur ältere, tragen die Strickkappen und strengen Bärte ultrafrommer Muslime. Da der Ramadan noch andauert, sitzen sie in den Teehäusern an leeren Tischen, weil sie vor Sonnenuntergang weder essen noch trinken.
Vor der Ismail-Aga-Moschee steht ein Bücherkarren mit frommer Literatur, und mit Tonbandkassetten und CDs von wahabitischen Predigern und Afghanistan-Kämpfern. Der Imam der Moschee wurde vor einem Jahr unter Umständen ermordet, die für immer ungeklärt bleiben werden. Der türkische Staat hat keine Chance, die Geheimnisse von Fener zu ergründen. Im Polizeirevier an der Lokmaci Caddesi steht ein Beamter am Fenster und späht hinaus wie in Feindesland; Atatürk schaut ihm besorgt über den Rücken. Wenn es in Istanbul ein autonomes Islamistan gibt, so ist es dieses Viertel.
Aber auch hier findet sich ein Lokal, wo selbst im Fastenmonat nicht nur dem ungläubigen Flaneur, sondern auch türkischen Männern ein Mittagessen serviert wird – unter den Blicken des Imam, der statt Atatürk an der Wand hängt. In Fener gibt es auch Spielhöllen und Videotheken mit dem ganzen „Rambo“- und „Alien“-Zeugs des Westens. Gewiss, das Viertel wirkt nicht besonders einladend, aber es strahlt auch keine Feindseligkeit aus. Und wenn sich ein Tourist verläuft, findet sich stets ein frommer Muslim, der ihm den Weg zu den alten byzantinischen Kirchen zeigt.
In Vierteln wie diesem werden mir erneut zwei Dinge klar: Die Beharrungskraft des „anatolischen“ Islam lässt sich nicht durch Zwang brechen. Und die religiöse ist auch eine soziale Frage. Der Wandel traditioneller Formen und Einstellungen vollzieht sich hier wie überall im Gefolge der ökonomischen „Modernisierung“. Aber eben nicht sofort, sondern mit einer Verzögerung, die sich nicht künstlich abkürzen lässt.
Eces Ängste zeigen, dass auch die Wahrnehmung der kritischen Linken häufig kemalistisch eingefärbt ist. Der Kemalismus ist im Kern eine autoritäre Beschleunigung des „zivilisatorischen Prozesses“, doziert mein Freund Ayhan, also eine ambivalente Form von „Fortschritt“, die mit demokratischen Defiziten erkauft wurde. Ayhan ist Historiker, der auch über die Minderheiten seiner Stadt forscht. Vor zwei Jahren betreute er eine Fotoausstellung, die das Pogrom von 1955 gegen Istanbuls Griechen dokumentierte. Die Fotos hingen in einem Gebäude an der Istiklal, vor dem fünfzig Jahre zuvor der Mob getobt hatte; im Herbst 2005 beobachtete ich Jugendliche, die erst auf die Fotos und dann entsetzt aus dem Fenster starrten.
Ayhan ist Spezialist für verzerrte Wahrnehmungen. Auch er hat viele Bekannte, die den Vormarsch der Kopftuchfrauen an den Universitäten befürchten. Er empfiehlt mir eine Studie, die das Forschungsinstitut Tesev unter dem Titel „Religion, Gesellschaft und Politik in einer sich wandelnden Türkei“ publiziert hat. Ali Carkoglu und Binnaz Toprak fanden mit ihrer repräsentativen Befragung eine interessante Differenz heraus: Im Mai 2006 bekundeten zwei von drei türkischen Bürgern ihren Eindruck, dass immer mehr Frauen ein Kopftuch tragen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Seit 1999 ist die Zahl der „bedeckten Frauen“ von 72,7 auf 63,5 Prozent zurückgegangen, also in sieben Jahren um über 9 Prozent. Die verzerrte Wahrnehmung der Befragten ist interessant genug. Noch aufschlussreicher ist ein anderes Ergebnis: Je reicher und gebildeter die Befragten desto „falscher“ ihre Kopftuch-Eindrücke. Bei den begüterten Schichten empfinden 75 Prozent eine Zunahme (31 Prozent sogar eine „erhebliche“), bei den Universitätsabsolventen sind es 68 (27) Prozent. Die verzerrte Sicht hat freilich nicht nur subjektive Ursachen.
Die Kopftücher sind zwar objektiv weniger geworden, aber ihre Trägerinnen drängen häufiger ins Blickfeld der Eliten: durch die Zuwanderung aus Anatolien in die großen Städte, durch den sozialen Aufstieg anatolischer Unternehmer mit traditionellem Familienhintergrund, durch die Medienpräsenz von AKP-Politikern wie Erdogan und Gül, die ihre Frauen nicht verstecken.
Als ich mit Ayhan über die Tesev-Studie diskutiere, meint er triumphierend: Die Angst vor dem Siegeszug des Türbans verrät das soziale Ressentiment: Die „weißen Türken“ spüren, dass die „anatolischen Neger“ ihnen näher gerückt sind, und das gefällt ihnen nicht.
Ayhan liebt polemische Zuspitzungen. Ich frage mich, ob nicht überall die Menschen ein Unbehagen empfinden, wenn sich ihre Umgebung rapide verändert? In der anatolischen Kleinstadt wie im kosmopolitischen Istanbul wie im schwäbischen Dorf. Mein alter Freund Arif ist im Stadtteil Moda auf der kleinasiatischen Seite aufgewachsen. In seiner Jugend, erinnert sich Arif, gab es in Moda fünf orthodoxe und drei armenische Kirchen, vier Synagogen und höchstens zwei Moscheen, aber nicht eine Kopftuchfrau. Fünfzig Jahre später sind fast alle christlichen Gotteshäuser in Moda geschlossen, Arif zählt an die zwanzig Moscheen, von denen „ständig die Imame brüllen“ – und jede zweite Frau trägt den strengen Türban.
Seit Arifs Jugend hat sich Istanbul doppelt verändert. Erstens hat es seine Minderheiten verloren (1955 gab es noch an die 200 000 Griechen, 2007 weniger als 3 000) und mit ihnen seinen kosmopolitischen Charakter. Und zweitens leben heute in den innerstädtischen Slums und den Vorstädten, die sich in alle Richtungen ausbreiten wie Tinte auf Löschpapier, 10 Millionen Binnenmigranten aus der ganzen Türkei. Anatolien ist in Istanbul angekommen, für immer. Und die alten Istanbuler lernen mühsam, sich mit dem neuen Istanbul zu arrangieren.
Zum Beispiel während des Ramadan. Mein Kollege Erdal ärgert sich heftig, dass wir mitten im „europäischen“ Galata-Viertel kein Bier zum Essen bekommen. Aber er ist versöhnt, als der Kellner vorschlägt, uns das Essen eine Tür weiter zu servieren, in einem Bierlokal. Für ihn sind es nur fünf Schritte mehr, für Erdal ist der Abend gerettet. © Le Monde diplomatique, Berlin