12.03.2015

Kein Frieden ohne Taliban

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Kein Frieden ohne Taliban

von Michael Semple

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Die afghanischen Taliban haben ein Problem, das für bewaffnete Aufstandsbewegungen typisch ist: Ihre Führung will mit militärischen Mitteln politische Ziele erreichen, die Realisten für nicht durchsetzbar halten. Vor demselben Dilemma standen schon die IRA in Irland und die Farc in Kolumbien.

Der Ausgang des Kriegs in Afghanistan hängt wesentlich davon ab, wie die Taliban darauf reagieren, dass ihr bewaffneter Kampf nicht zum Erfolg führt. Werden sie weiterkämpfen in der Hoffnung, dass ihre militärischen Optimisten recht behalten? Oder werden sie eine Verhandlungslösung anstreben, die hinter ihren Zielen zurückbleibt? Ob Afghanistan ein Abnutzungskrieg bevorsteht, hängt von den Entwicklungen innerhalb der islamistischen Bewegung ab – also davon, wie die Auseinandersetzungen zwischen den Kräften, die eine endlose Fortsetzung des Dschihad wollen, und denen, die zu Kompromissen bereit sind, ausgeht.

Der Streit über die Zukunft des Dschihad muss zwar in erster Linie unter den Taliban selbst ausgetragen werden, aber die anderen Akteure, vor allem die Regierungen Afghanistans und Pakistans, können diese interne Debatte durchaus beeinflussen.

Die afghanischen Taliban haben die zehn Jahre dauernde Militärintervention der USA überlebt und stellen auch heute noch die größte Bedrohung für die Regierung in Kabul dar. Die Taliban sind überzeugt, dass sie sich nur dank ihres militärischen Kampfs auf der afghanischen Landkarte behaupten konnten. Ihr Behauptungswille ist nicht nur ein militärisches, sondern ebenso ein politisches Phänomen.

Die afghanische Talibanbewegung ist nach wie vor eine intakte Organisation ohne größere Spaltungstendenzen oder Führungsrivalitäten – was in einer seit zwanzig Jahren von Fraktionskämpfen geprägten politischen Situation schon bemerkenswert ist. Ihre Kommandostruktur erstreckt sich auf alle Provinzen des Landes. Zudem haben die Taliban eine eigene Bürokratie aufgebaut, mit einer ganzen Reihe spezieller Kommissionen, die für so unterschiedliche Bereiche wie Kultur, Justiz, Kontakte nach außen, Gefängnisse und zivile Kriegsopfer zuständig sind. Man könnte sogar behaupten, dass die Talibanbewegung die effektivste Organisation im heutigen Afghanistan darstellt.

Die Talibanführung bekennt sich nach wie vor zu dem Ziel, die Herrschaft ihres „Islamischen Emirats“ im ganzen Land durchzusetzen. Nach ihrer Niederlage Ende 2001 hatte sie geschworen, bis zum vollständigen Rückzug der internationalen Truppen aus Afghanistan weiterzukämpfen. Doch obwohl die meisten dieser Militäreinheiten inzwischen abgezogen wurden, haben die Taliban den Konflikt weiter verschärft. Ihre Vorstellung von einem wiedererrichteten Islamischen Emirat setzt voraus, dass sie die stärkste Kraft in der afghanischen Regierung werden, eine auf der Scharia beruhende Gesellschaftsordnung aufbauen und ihren Emir Mullah Omar als eine Art obersten Führer installieren.

Die Taliban behaupten, die heutigen Machthaber in Kabul seien Handlanger der USA, und sie rechnen fest damit, dass die Kabuler „Regierung der nationalen Einheit“ (NUG) zusammenbrechen wird. Diese Regierung wird nicht umhinkommen, sich mit den Taliban einzulassen, weil diese sich in Teilen des Landes behaupten können. Gleichzeitig lehnen die Taliban die durch die NUG repräsentierte politische Ordnung ab.

Ihren Anhängern versichern die Talibanführer, dass ihr militärischer Sieg gewiss sei: Der Rückzug der Nato habe die Truppen der Kabuler Regierung verwundbar und anfällig für Desertionen gemacht. In ihren eigenen Reihen sind tausende junger Männer bereit, ihr Leben im Kampf für die Bewegung aufs Spiel zu setzen, befeuert durch die Aussicht auf ihren Sieg und das Gefühl, der Sache des Islam zu dienen.

Das Problem der Taliban besteht darin, dass ihre Behauptung vom großen militärischen Sieg wenig glaubwürdig ist. Trotz aller 2014 unternommenen militärischen Anstrengungen, territoriale Gewinne zu erzielen, haben sie noch kein einziges größeres Verwaltungszentrum erobert. Solange die afghanische Regierung ihre Armee- und Polizeieinheiten mit Geld aus dem Ausland finanzieren kann, werden die Sicherheitskräfte kaum zusammenbrechen oder zulassen, dass die Taliban in Kabul einmarschieren. Der größte militärische Erfolg, den diese realistischerweise erzielen könnten, wäre die Ausdehnung der „No-go-Areas“ auf dem flachen Land, zu denen die Zentralregierung keinen Zugang hat und wo die Taliban parallele Verwaltungsstrukturen aufbauen konnten.

In seiner Antrittsrede als neuer Präsident Afghanistans erklärte Aschraf Ghani am 29. September letzten Jahres, er werde einen raschen Frieden anstreben und hoffe, die Taliban in das politische System einbinden zu können. Auch Abdullah Abdullah, Ghanis Partner in der Einheitsregierung, sprach sich für einen Kompromiss mit den Taliban aus, obwohl er deren Absichten skeptischer sieht und befürchtet, dass sie solche Verhandlungen nur aus taktischen Überlegungen heraus beginnen würden, um die Entschlossenheit der Regierung zu schwächen.

Der erste Schritt, den die Kabuler Regierung in Richtung Frieden unternommen hat, ist ihr Bemühen um eine Annäherung an Pakistan. In einer komplexen diplomatischen Initiative verfolgt Präsident Ghani das Ziel, ein neues Verhältnis nicht nur zwischen Kabul und Islambad, sondern letztlich auch zwischen Islamabad und den Taliban herzustellen. Ghani ist sich bewusst, dass Pakistan die afghanischen Taliban nutzt, um einen Stellvertreterkrieg zu führen. Nun hat er Pakistan eine wirtschaftliche und sicherheitspolitische Zusammenarbeit angeboten, falls der Nachbarstaat diesen Stellvertreterkrieg beendet. In seinen ersten Monaten im Amt verzichtete Ghani bewusst auf alle hochrangigen Kontakte mit Indien und bot Islamabad an, gegen Kämpfer vorzugehen, die von Afghanistan aus gegen Pakistan operieren.

Im Grunde gab Ghani damit den pakistanischen Geheimdienstkreisen zu verstehen, dass sie alle legitimen Ziele, die sie womöglich mithilfe der Taliban verfolgen wollten, doch besser in direkter Zusammenarbeit mit Kabul erreichen könnten. Als Gegenleistung erwartete die Regierung Ghani von Islamabad, dass sie die Taliban dazu bringen, den Kampf einzustellen und Verhandlungen über eine politische Lösung aufzunehmen.

Dieser Ansatz ist deshalb bedeutsam, weil er auf elegante Weise den Entscheidungsprozess innerhalb der Talibanführung in Richtung Verhandlungen zu beeinflussen versucht. Seit zehn Jahren gehen die Taliban davon aus, dass ihre Fähigkeit, in Afghanistan zu kämpfen, davon abhängt, ob die Machthaber in Islamabad ihnen ihre Rückzugsbasis in Pakistan belassen. Kabul will mit seinem Schachzug die Überzeugung der Taliban erschüttern, dass ihnen dieser Rückzugsraum auch weiterhin zur Verfügung stehen wird.

Während sie die Annäherung an Pakistan vorantreibt, hat die Regierung Ghani die anderen Elemente ihrer Friedensstrategie noch nicht offenbart. Optimisten in Kabul gingen davon aus, dass der Druck aus Pakistan – zusammen mit den positiven Signalen der neuen Regierung – so frühzeitig zu Verhandlungen hätte führen können, dass eine Frühjahrsoffensive der Taliban vermieden worden wäre. Die Talibanführung bleibt aber offenbar entschlossen, ihr Glück auf dem Schlachtfeld zu suchen. Da sie sich durch den Druck aus Islamabad nicht zu ernsthaften Verhandlungen drängen ließ, muss Kabul jetzt eine Langzeitstrategie entwickeln und zusätzliche Hebel einsetzen, um die Taliban zu zwingen, vom Kampf- in den Verhandlungsmodus umzuschalten.

Die Erfahrungen der USA in den letzten drei Jahren machen deutlich, welche Fallstricke beim Umgang mit bewaffneten Organisationen wie den Taliban drohen. Unter anderem hatte Washington auf Katar eingewirkt, eine Delegation der Taliban einzuladen, die als Kontaktstelle zu deren Führern dienen sollte. Daraufhin entsandten die Taliban ihre „Politische Kommission“, die sie als ihr Außenministerium in spe ansehen, nach Katar. Mit der Durchführung des Austauschs eines US-Kriegsgefangenen gegen fünf Guantánamo-Häftlinge hat diese Kommission im Sommer 2014 demonstriert, dass man mit ihr ins Geschäft kommen kann. Aber ihre Mitglieder unterstehen der Talibanführung – ihre Macht reicht nicht aus, um die Talibanführung zu verlässlicheren Abmachungen zu bewegen.

Die langfristige Friedensstrategie der Kabuler Regierung dürfte auf einen Ansatz nach der Formel „Islamabad & Katar plus“ hinauslaufen. Man will also – über den Einfluss via Islamabad und die Kontakte zur Taliban-Verbindungsstelle in Katar hinaus – neue Wege gehen, um die friedensbereiten Pragmatiker innerhalb der Bewegung zu stärken, auch über Kontakte zu den Taliban in afghanischen Gefängnissen.

Bislang galten solche Gefangenen lediglich als Tauschobjekte oder als taktisches Pfand. Zum Beispiel haben die Regierungen Afghanistans, Pakistans und der USA der Talibanführung die Freilassung von Gefangenen als „vertrauensbildende Maßnahme“ angeboten. Aber Gefangene können viel mehr bewirken. Da sie für die „gerechte Sache“ im Gefängnis sitzen, genießen sie innerhalb der Bewegung einen gewissen Sonderstatus und können, wenn man es schafft, sie während ihrer Haft zu überzeugen, zu potenziell mächtigen Friedensadvokaten werden.

Das zeigt das Beispiel Nordirland. Hier wurden einige ehemalige IRA-Gefangene zu den einflussreichsten Figuren, denen es gelang, den bewaffneten nordirischen Untergrund auf Friedenskurs zu bringen. Auch in Afghanistan wird die neue Friedensstrategie vermutlich auf ausgewählte Talibangruppen wie die Gefangenen setzen.

China in der Vermittlerrolle

Für die Friedensbemühungen der Regierung könnte auch eine andere Entwicklung wichtig werden: das Auftauchen Chinas als potenzieller Vermittler. Da China in Afghanistan langfristige ökonomische Interessen verfolgt, war es nur eine Frage der Zeit, wann sich Peking in die Bemühungen um eine Stabilisierung des Landes stärker einmischen würde. China hat einen Sonderbeauftragten für Afghanistan ernannt und sowohl Präsident Ghani als auch den Talibanvertreter Qari Din Mohammad Hanif empfangen.

Die eigentliche Bedeutung der chinesischen Vermittlungsoffensive liegt darin, dass sie mit den Regierungen in Kabul und in Washington abgestimmt war. Das verringert die Gefahr, dass andere Akteure die Bemühungen durchkreuzen oder dass die Taliban die verschiedenen Partner gegeneinander ausspielen. Und doch ist nicht damit zu rechnen, dass das chinesische Vermittlungsangebot die Taliban in ihrer Abwägung der Alternative „verhandeln oder kämpfen“ unmittelbar beeinflussen wird. Vielmehr wird sich erst, wenn es eine friedensbereite Talibanführung gibt, für China die Chance bieten, den neutralen Gastgeber für Verhandlungen zu spielen.

Bislang ist die Liste der maximalistischen Ziele, die die afghanischen Taliban formulieren, jedoch immer noch entmutigend lang – sie läuft auf eine Übernahme des gesamten Staats hinaus. Das kann keine andere afghanische Gruppierung als Verhandlungsbasis, geschweige denn als Lösungsformel, akzeptieren. Es gibt jedoch einige für die Taliban wichtige Themen, bei denen die Regierung Entgegenkommen zeigen könnte, ohne die Interessen derer zu opfern, die bereits viel in das bestehende politische System in Kabul investiert haben.

Wenn die Regierung Ghani Bereitschaft signalisiert, über diese Themen zu verhandeln, könnte sie das Kalkül der Taliban nach und nach beeinflussen. Denn dann müsste sich eine Talibanführung, die eine Verhandlungslösung verweigert, den Vorwurf gefallen lassen, die Interessen ihrer eigenen Basis zu verraten. Diese Interessen haben weniger mit der Verfasstheit des afghanischen Staats zu tun als vielmehr mit Symbolen und Fragen der Legitimität – und mit den alltäglichen Bedürfnissen der Talibananhänger.

Die Interessen der Basis lassen sich in acht Punkten zusammenfassen. Ihre Legitimität bezieht sich aus der Frage, wie der Staat Afghanistan zum Islam, zu den Märtyrern, zum Emir und zur Präsenz ausländischer Mächte steht. Die alltäglichen Bedürfnisse betreffen die Behandlung der Mudschaheddin, die Frage der Gefangenen, den Respekt vor den Taliban und ihre Beteiligung an der Macht.

Der Legitimitätsanspruch der Taliban entspringt der Auffassung, dass Mullah Omar die Bewegung als „rechtgeleiteter“ Emir führt, um den Islam in Afghanistan zu stärken und die „fremde Besatzungsherrschaft“ zu beenden. Wenn man mit Talibankämpfern spricht, verweisen sie oft auf ihre „Märtyrer“, um zu begründen, warum sie weiterkämpfen. Nach so vielen Opfern sind es die Überlebenden ihrer Ehre schuldig, eine Lösung zu suchen, die ihrer Märtyrer würdig ist.

Wenn die Regierung in Kabul die Taliban zu einer Lösung bewegen will, wird sie beweisen müssen, dass sie imstande ist, auf all diese symbolischen Schlüsselthemen einzugehen. Natürlich erfordert eine Vereinbarung über alle diese Punkte „kreative Lösungen“. Zum Beispiel müsste man den Taliban zugestehen, dass sie den inzwischen erfolgten Rückzug ausländischer Truppen zum Teil als ihren eigenen Erfolg darstellen können.

Auf die konkreten Bedürfnisse der Taliban einzugehen, dürfte sich als weniger kompliziert erweisen. So muss es nach dem Ende der Kampfhandlungen eine nationale Lösung für die Freilassung der Gefangenen geben. Die Talibankämpfer werden Schutz vor Belästigungen brauchen, ebenso wie Unterstützung bei ihrer Rückkehr in ein normales Leben.

Respekt ist bei den Taliban ein Dauerthema – besonders wichtig ist ihnen dabei, nicht erniedrigt oder abhängig von Leuten zu werden, die ihre politischen Rivalen waren. Die Formel für eine Beteiligung der Taliban an der Regierung dürfte am Ende so aussehen, dass man ihnen genügend Einfluss lässt, damit sie ihre Anhänger gegen Verfolgung schützen können und Zugang zu einem Teil der klientelistisch verwalteten Finanztöpfe des Staats erhalten. Ihr Einfluss darf jedoch nicht so weit gehen, dass die vorhandene Machtbalance innerhalb der Regierung der nationalen Einheit ins Wanken gerät.

Angesichts der komplexen Probleme eines afghanischen Friedensprozesses und der ungewissen Erfolgsaussichten stellt sich in der Tat die Frage, ob eine Einigung zwischen den Taliban und Kabul so wichtig ist, dass sich die Mühen lohnen. Wichtig ist sie ganz sicher für Afghanistan. Wenn der Konflikt nicht beigelegt ist, bis die USA ihre Militärhilfe für Kabul beenden, wird der afghanische Staat in seiner heutigen Gestalt wohl kaum überleben. Wenn die Taliban und ihre dschihadistischen Verbündeten ihre Einflusszone in Afghanistan mit militärischen Mitteln ausdehnen, ohne dass sie durch eine Kompromisslösung mit den anderen afghanischen Machtgruppen in Zaum gehalten werden, wird am Ende wahrscheinlich auch Pakistan destabilisiert.

Die Frage, ob Afghanistan in Richtung Frieden steuert oder ins Chaos treibt, ist auch weit über Südasien hinaus von Bedeutung. Durch den Zustrom von Kämpfern und Ideen ist eine Verbindung zwischen dem Afghanistan-Konflikt und den katastrophalen Entwicklungen in Syrien und im Irak, in Libyen und im Jemen entstanden.

Aber Afghanistan unterscheidet sich auch von diesen anderen Konflikten, weil es der einzige Fall ist, bei dem im Lauf der Jahre so etwas wie ein internationaler Konsens über eine teure militärische Intervention entstanden ist. Nach einer derart umfassenden Investition würde ein Scheitern des Friedensprozesses die Glaubwürdigkeit einer länderübergreifenden Zusammenarbeit ernsthaft beschädigen. Zudem würde es extremistische Gruppen, die den Vorstellungen von einem „Kampf der Kulturen“ anhängen, weiter beflügeln.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Michael Semple ist Professor an der Queens’s University in Belfast. Von 2004 bis 2007 war er stellvertretender EU-Botschafter in Afghanistan. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.03.2015, von Michael Semple