Brief aus Peking
von Shi Ming
Rein mit Ihnen“, sagt der Taxifahrer, ein Mann um die dreißig mit nordchinesischem Akzent – und auffallend wortkarg. Kaum hat er das Fahrziel erfragt, fährt er los und schweigt eisern. Kein Smalltalk über den blauen Himmel, der sich im Januar doch sonst nur selten zeigt. 2012 zählte die Stadtbehörde in 31 Tagen nur viermal das blaue Glück. Dieses Jahr aber ist bereits sechs Tage nacheinander der Himmel klar und beschert den Pekingern freies Atmen.
Seit drei Jahren existiert sogar ein spezieller Smog-Index für die Autowäsche. Wenn länger als zwei Tage kein Smog zu befürchten ist, stehen die Zeichen auf „günstig“: Dann darf das Blech der Edelkarossen frisch poliert in hellem Licht erstrahlen. Für Taxifahrer ist das wichtig, weil Autowaschen für sie ständige Kosten bedeutet. Egal wie oft die schwärzlichen Rußpartikel Peking einhüllen – kein Taxi darf sich je dreckig erwischen lassen. Dann wäre eine saftige Geldstrafe fällig. In der Nähe meiner Wohnung am Nördlichen Dritten Ring stehen morgens um fünf Uhr Tagelöhner am Straßenrand bereit, um für 30 bis 40 Yuan (4 bis 5,50 Euro) pro Auto die 70 000 Taxen von Peking zu waschen. Seit Tagen lichten sich nun die Reihen der Autowäscher, und die Taxifahrer sparen eine Menge Geld – bis zu einem Zwölftel dessen, was sie in einem schlechteren Monat verdienen.
Aber das alles ist für diesen Herrn hier kein Thema. Und auch sonst nichts. Weder der Benzinpreis, der steigt und sein Einkommen noch mehr schmälert als das ständige Waschen, noch der Dauerstau, über den die Taxifahrer sonst immer witzeln: „Wir haben lauter Probleme, nur mit dem Parken nicht. In der City kann man überall stehen.“ Überhaupt scheint dem Mann am Steuer die flapsige Großmäuligkeit abhandengekommen zu sein, die für Pekinger Taxifahrer sonst charakteristisch ist. Ausländer haben hier oft den Eindruck, man müsse nur in ein Taxi steigen, dann wisse man in zehn Minuten – sofern man Chinesisch versteht natürlich –, was oben im Zentralkomitee der KP alles so passiert.
Und da passiert so einiges. Täglich vermelden die amtliche Medien, wer wieder wegen Korruption abdanken muss. Sich darüber auszulassen ist kein Risiko. Dennoch: Mein Fahrer schweigt auch davon. Endlich, als ein Straßenschild auftaucht, das die nächste Ausfahrt von der Schnellstraße verbietet, rutscht es ihm heraus: „Scheiß-KP!“
Die Dame heißt nicht Su, sie hat mich nicht in die Südstadt zum Treffen mit ihrer Familie eingeladen und das Edelrestaurant heißt nicht „Glückspavillon“. Und alles Übrige ist ebenfalls nicht so, „wenn du darüber schreibst“. Alles Persönliche soll ich unkenntlich machen. „Nur dann darfst du mitschreiben. Du gehörst ja dazu“, lächelt Su herzlich und zeigt auf die Speisekarte. Ich sei ein Glückspilz. Der „Glückspavillon“ sei vor einem Jahr zehnmal so teuer gewesen. Damals hätten vor allem Staatskader das Lokal frequentiert. Für das, was wir jetzt für acht Personen bestellen, hätten die damals locker 30 000 Yuan (rund 4 250 Euro) hingeblättert. Vorsichtiger seien die heute geworden, viel vorsichtiger. „Korruptionsverdacht, verstehst du?“
Nach zwei Stunden habe ich verstanden: Auch diese Familie der Mittelklasse, ohne Staatskader in ihren Reihen und also ohne Korruptionsverdacht, ist vorsichtiger geworden. Zwei Stunden lang haben sie über drei anstehende Probleme gesprochen, so effektiv wie kein Konzernvorstand. Und viel herzlicher.
Punkt 1: Papa muss unters Messer. Herzschrittmacher. Wäre sonst okay, hat er doch eine staatliche Krankenversicherung. Nur: Die Kasse kommt nur für Schrittmacher made in China auf. Auf die sei kein Verlass. Alternative: Französisches Produkt. Garantie: 6 Jahre. Dafür muss man aber jeden Cent selbst bezahlen. Kosten: 60 000 Yuan (ca. 8 500 Euro). Voll bezahlen muss man auch ein deutsches Modell, 2 000 Euro mehr, Garantie 15 Jahre. Beschluss: Wir machen es. Die Kosten werden aufgeteilt unter den zwei Söhnen, Frau Su als Schwiegertochter und einer Enkelin, die bei einem ausländischen PR-Unternehmen Senior-Manager geworden ist.
Punkt 2: Mutters Durchfall mit lebensgefährlicher Unterzuckerung als Folge. Angesichts der Terrorgefahr mussten die freien Gemüsemärkte per Verwaltungsbeschluss aus Peking City verschwinden. Verpackte Waren in Supermärkten sind unsicher. Zu oft erweisen sich die aufgedruckten Verfallsdaten als manipuliert. Lösungsvorschlag: Eine Greenfood-Farm liefert Frischgemüse ins Haus, kunstdünger- und pestizidfrei. Die Jahresgebühr für die Mitgliedschaft in der Einkaufsgemeinschaft kostet 3 000 Yuan (425 Euro), man käme dann insgesamt auf 14 000 Yuan (knapp 2 000 Euro) pro Jahr. Damit würde Mutters Gemüseteller 6,60 Euro am Tag kosten. Die zweite Schwiegertochter will dafür aufkommen – vorausgesetzt, die Sicherheit sei gewährleistet. „Was meinst du?“ Als ich anmerke, dass ich gehört hätte, die Erde am Rand der Großstädte könne mit Schwermetallen verseucht sein, wird der Beschluss vertagt. Ein Cousin von Frau Su, studierter Chemiker, soll weiterrecherchieren.
Frau Su drängt mich, noch ein bisschen zuzulangen. Noch einen Schluck Edelkorn, noch ein Häppchen blanchiertes Lammfleisch vom berühmten Koch? „So oft kommst du nicht aus Europa nach Hause!“ Dann Punkt 3: Schulbildung des zweiten Enkels. So wie es jetzt ist, darf es nicht weitergehen. Der Schultag ist zu voll gepackt. Zu viel Druck auf das arme Einzelkind, das neuerdings auch noch Parteiprogramme zum „Chinesischen Traum“ büffeln muss. Zu „diesem Gelaber“, so Frau Su, die sonst nie ein Wort über die Politik verliert, komme noch die giftige Luft! „Habt ihr in Europa mitbekommen, dass bei uns in Peking die Lungenkrebsgefahr in den letzten fünf Jahren um das 60-Fache gestiegen ist?“ Beschlussbasis: Das Kind muss raus aus China. Am besten nach Europa. Dafür würde die Familie eine Wohnung in bester Lage verkaufen. Zu erwartender Erlös: 6 Millionen Yuan (850 000 Euro). Frau Su hat online herausgefunden: Das Geld würde selbst für ein Jesuiteninternat nahe Bonn reichen. Fürs Erste. Dann ruht der Blick der Familie auf mir.
Anders als Frau Su, die all ihre Vorsicht in Geldsummen visualisiert, ist Herr Li Min, der lange nicht vorsichtig sein wollte und der seit Kurzem seinen realen Namen nicht mehr jedem preisgeben will. Er ist ein Autor ohne Brotberuf und lebt von mageren Honoraren. Dafür lebt er wie ein richtiger Bohemien. Er trinkt, raucht und dreht Dokumentarfilme, allein, mit einer Handkamera. Solche wie die Interviews mit sieben Dörflern aus Südchina, die wegen „Konterrevolution“ zu Gefängnisstrafen verurteilt waren. Ihre Tragödien ereigneten sich zu einer Zeit, an die seit zwei Jahren offiziell nicht mehr erinnert werden soll. Die Richtlinie, die KP-Chef Xi Jinping ausgegeben hat, besagt, dass niemand die ruhmreiche Geschichte der Partei, die seit 1949 China regiert, ungünstig deuten darf. Auf keinen Fall so: Die ersten 30 Jahre der KP-Herrschaft, insbesondere die tragödienreichen Zeit, seien katastrophal gewesen, danach habe die Parteiführung unter Deng Xiaoping die Fehler korrigiert, seither blühe China auf. Das wäre Geschichtsrevisionismus.
Doch den Autor ließ das Dekret kalt. Vor seiner Kamera klagen die Namenlosen an: Willkür, Folter und Menschenverachtung. Unrecht, das bis heute weder gesühnt noch aufgearbeitet ist, meint der Bohemien. Mit seinem Film versuche er, Verbrechen zu dokumentieren. Nur vertraute Freunde lädt er zur Filmvorführung nach Hause ein. Als der Abspann den Bildschirm hinunterrollt, schweigen alle tief berührt. Dann wird gegrübelt, wie man die leidvollen Erfahrungen der Namenlosen unters Volk bringen könne. Vielleicht, regt einer an, kann man es bei den Universitäten versuchen, als Anschauungsmaterial für Historiker. Zuletzt fragt Li einen Verlegerfreund: Wie wäre es, ein Krimi daraus zu machen? Der Freund schüttelt den Kopf: „Absolutes No-go.“
Das junge Start-up-Unternehmen, das im Südosten Pekings in seinen Büroräumen über zwei Etagen sitzt und tüftelt, hat dagegen keine Geldsorgen. Das Staatsfernsehen zahlt gut für die Produktion einer Eventshow zur Belebung der alten Schriftkultur. Im letzten Jahr hat es das Team geschafft, höhere Einschaltquoten zu erzielen als eine Fußballübertragung. Deshalb sprudelt die Geldquelle. In der Show geht es darum, alte chinesische Wörter, die im Computerzeitalter immer schneller in Vergessenheit geraten, weil niemand mehr mit der Hand schreibt, wieder ins Gedächtnis zu rufen. Dafür hat das Team stolze Eltern angestachelt, ihre Kinder in einen Fernsehwettbewerb zu schicken. Quizelemente mit Prämien werden eingebaut, Flash-Aufgaben per Smartphone verschickt. Bezahlte Blogger halten mit flotten Sprüchen das Publikum bei Laune. Und wie in den USA wird gestoppt, wie oft das Publikum in drei Minuten lacht. Unter zweimal fällt man durch, dann muss man das Skript ändern.
Ich bitte die Managerin um ein Beispiel. „Zum Beispiel haben wir eine Szene verworfen, bei der ein Mann seinen jüngeren Bruder bittet, eine Situation mit nur einem Schriftzeichen zu beschreiben, so genau und so lustig wie möglich. Der Jüngere versucht und versucht, und am Ende hat er ein am Smartphone erzeugtes Zeichen, das keiner kennt. Dann löst der Mann die Aufgabe mit einem Zeichen, das seit dem 15. Jahrhundert existiert.“
„Hätte das Publikum da nicht gelacht?“
„Schon. Aber wir müssen das Skript ändern, weil der Mann in den 1980er Jahren geboren ist. Da galt noch die Politik der strengen Geburtenkontrolle der Partei. Demnach kann er keinen Bruder gehabt haben.“
„Es wäre sonst Geschichtsrevisionismus?“
Die junge Dame lächelt verlegen – und wechselt das Thema.
Shi Ming lebt als freier Journalist in Berlin. © Le Monde diplomatique, Berlin