Was ist ein Imperium?
In der Geschichte der Reiche liegt eine Lektion für die Gegenwart von Jane Burbank und Frederick Cooper
Warum heute noch über Imperien nachdenken? Schließlich leben wir in einer Welt der Nationalstaaten, jedenfalls glauben wir das. Es gibt heute mehr als 200 Nationalstaaten, jeder mit Sitz in der UNO, Staatsflagge, eigenen Briefmarken und Regierungsinstitutionen. Der Nationalstaat allerdings ist ein Ideal, das noch gar nicht so alt ist; seine Zukunft ist unsicher, und für viele Menschen könnte er eine verheerende Perspektive bedeuten.
Nach dem Untergang des Osmanischen Reichs und der Habsburger Doppelmonarchie, des russischen Zarenreichs und des Deutschen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg ist nicht etwa eine stabile Welt von Nationalstaaten entstanden – ebenso wenig nach der Entkolonialisierung der französischen, britischen, niederländischen, belgischen und portugiesischen Überseebesitzungen von 1940 bis 1975. Die imperialen Regime wurden nach 1918, nach 1945 und nach 1989 keineswegs durch lebensfähige Alternativen abgelöst. Stattdessen kam es zu vielen blutigen und destabilisierenden Konflikten: in Ruanda, im Irak, in Israel/Palästina, in Afghanistan und in Jugoslawien, in Sri Lanka, im Kongo, im Kaukasus und in Libyen, womit längst nicht alle aufgezählt sind.
Die Nachfolgestaaten früherer Kolonien haben vieles nicht erreicht, was sie sich zum Zeitpunkt ihrer Unabhängigkeit erhofft hatten. Und die Großmächte bekennen sich zwar zu einer Welt von unverletzlichen und gleichberechtigten Nationen, nutzen aber ihre ökonomischen und militärischen Mittel dazu, die Souveränität der schwächeren Staaten zu untergraben.
Imperiale Nostalgie, die sentimentale Beschwörung untergegangener Reiche – etwa des britischen in Indien oder des französischen in Indochina – bringt für die Gegenwart gar nichts. Und der Rückgriff auf Begriffe wie „Imperium“ oder „Kolonialismus“ – mit denen militärische Interventionen der USA, Frankreichs und anderer Staaten verdammt werden –, trägt nichts zu einer Analyse, geschweige denn zur Verbesserung der gegenwärtigen Weltlage bei. Die kritische Erkundung der Geschichte der Reiche – der alten wie der neueren – kann jedoch helfen, unser Verständnis für den heutigen Zustand der Welt zu erweitern. Und eröffnet einen neuen Blick auf die Organisation der politischen Macht in der Vergangenheit, der Gegenwart und vielleicht auch in der Zukunft.
Über lange Epochen gaben die Großreiche mit ihrem Handeln und ihren Interaktionen den Kontext vor, der für das Verhalten und das Denken der Menschen bestimmend war. Die Erforschung der Imperien hilft also beim Nachdenken über die Frage, wie und warum bestimmte Verbindungen und Bezugssysteme über räumliche und zeitliche Abstände hinweg entstanden sind – und andere nicht. Die Reiche formten höchst aktiv die Produktionsweisen, die Kommunikation und die kulturellen Entwicklungen der Welt, aber sie stießen auch immer wieder an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Die größte Herausforderung war dabei immer wieder das Problem, wie sie ihrer Macht über große Entfernungen hinweg über unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen – und angesichts konkurrierender Imperien – Geltung verschaffen könnten.
Wenn man die historische Entwicklung solcher Reiche studiert – ihre Entstehung, ihre Konflikte und Rivalitäten, ihre Erfolge und ihr Scheitern –, wird man erkennen, was in den letzten Jahrzehnten in Vergessenheit geraten ist: dass staatliche Souveränität früher wie in vielerlei Hinsicht auch heute erstens ein komplexes Phänomen ist, das sich auf verschiedene Einzelbereiche und Schichten verteilt, und zweitens aus sehr unterschiedlichen Gründungsprinzipien und Handlungen entsteht.
Der Vielfalt Raum geben
Was verlieh den Imperien ihre weltweit gestaltende Kraft? Zum einen erwuchs sie aus dessen stabiler politischer Ordnung. Reiche sind weiträumige staatliche Gebilde, die auf Expansion setzen oder von einer expansionistischen Vergangenheit zehren. Als solche konservieren sie Unterscheidungen und hierarchische Abstufungen zwischen verschiedenen Völkern, auch wenn sie diese gewaltsam vereinnahmt haben. Der Nationalstaat beruht auf der Fiktion seiner Homogenität: ein Volk, ein Territorium, eine Regierung. Das Imperium hingegen erkennt die Verschiedenheit seiner Untertanen an und muss mit dieser Vielfalt zurechtkommen. Imperien regieren unterschiedliche Völker unterschiedlich.
Diese variablen Herrschaftsstrategien verliehen den Reichen eine hohe Anpassungsfähigkeit, die es ihnen ermöglichte, die Verfügung über wichtige Ressourcen in weiten Territorien und über lange Zeiträume zu behaupten. Im Vergleich mit der langen Lebensdauer des Osmanischen Reichs (600 Jahre) oder gar des chinesischen Kaiserreichs (das mehr als 2 000 Jahre lang und über die Abfolge verschiedener Dynastien hinweg Bestand hatte) sind Nationalstaaten nur ein kurzes Aufleuchten am Horizont der Geschichte.
Da aber innerhalb der Imperien die Unterschiede zwischen den Völkern erhalten bleiben, besteht immer die Möglichkeit, dass sich einzelne Teile des Reichs abspalten. Das erklärt, warum das Imperium als Staatsform historisch so verbreitet ist, sich aber immer wieder aufteilt, neu organisiert oder ganz zusammenbricht.
Das Reich als Staatsidee war ansteckend. Die Völker konnten sich viele Formen der Staatlichkeit vorstellen, aber wenn es in der betreffenden Region ein Imperium gab, das die Herrschaft über die Bevölkerung und die natürlichen Ressourcen in mehreren Territorien oder Ländern ausübte, musste man bei der praktischen Umsetzung solcher Vorstellungen das Modell des Reichs in Betracht ziehen und nach Möglichkeit imitieren. Jedes Reich stand im Grunde vor denselben Problemen: Wie soll man die unterschiedliche Bevölkerungsgruppen regieren? Wie kann man Herrschaft über große Entfernungen (zwischen Hauptstadt und Regionen) ausüben? Wie kann man weit verstreut lebende Untertanen kontrollieren?
Die Antworten auf diese Fragen konnten aber nicht dieselben sein: Jedes Imperium stützte sich auf sein eigenes und besonderes „Repertoire der Macht“. Dabei haben sich einige ihre Strategie von vorangegangenen oder konkurrierenden Reichen abgeschaut. Das Osmanische Reich zum Beispiel beruhte auf einer gelungenen Mischung von türkischen, byzantinischen, arabischen, mongolischen und persischen Traditionen. Bei der Verwaltung ihres multikonfessionellen Gebildes stützten sich die Osmanen auf die Eliten der einzelnen Religionsgruppen und versuchten nicht, diese zu assimilieren oder zu vernichten.
Das Britische Empire umfasste mit der Zeit Dominions (die sich selbst verwalteten), Kolonien, Protektorate; das von einem eigenen Beamtenapparat regierte Indien, ein verkapptes Protektorat in Ägypten und „Einflusszonen“, mit deren Hilfe die Briten ihren „Freihandelsimperialismus“ betrieben. Ein Empire mit einem so breiten Repertoire von Mitteln hatte den Vorteil, dass es je nach Situation seine Herrschaftstaktiken verändern konnte, ohne dass sich das Problem stellte, wie alle Teile des Reichs nach einem einzigen Modell zu regieren und zu assimilieren wären.
Bei der Behandlung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen lassen sich einige grundlegende Muster unterscheiden, die auch völlig gegensätzlich sein können. In manchen Reichen implizierte die „Politik der Differenz“, dass die Vielfältigkeit der Völker und deren jeweilige Sitten und Gebräuche als Teil der Lebenswirklichkeit betrachtet wurden. In anderen Fällen bedeutete sie, dass zwischen „Insidern“ und „Barbaren“ eine scharfe Trennlinie gezogen wurde. So war für die Herrscher der mongolischen Reiche im 13. und 14. Jahrhundert die Unterschiedlichkeit der ethnischen Gruppen sowohl normal als auch praktisch. In diesen Reichen waren der Buddhismus, der Konfuzianismus, das Christentum, der Taoismus und der Islam zu Hause, und es wurden Künste und Wissenschaften gefördert, die auf arabische, persische und chinesische Einflüsse zurückgingen. Das Römische Reich tendierte dagegen zur Homogenisierung auf der Basis einer aus unterschiedlichen Quellen stammenden, aber identifizierbaren römischen Kultur, eines privilegierten Status für die römischen Bürger und – gegen Ende des Reichs – der christlichen Staatsreligion.
Die verschiedenen Imperien entwickelten diverse Varianten dieser beiden Idealtypen; manche, wie das osmanische und das russische, funktionierten mit einer Kombination von beiden. Die europäischen Kolonialreiche des 19. und 20. Jahrhunderts in Afrika schwankten zwischen der Tendenz zum Assimilationszwang – aufgrund ihres Glaubens an die Überlegenheit der westlichen Zivilisation – und der Tendenz zur indirekten Herrschaft, die sich auf die Eliten der eroberten Völker stützte. Das Konzept der „zivilisierenden Mission“ des 19. Jahrhundert stand dabei in einen gewissen Gegensatz zu rassistischen Theorien. Doch gleichgültig welche Vorstellungen die imperialen Herrscher von den „anderen“ Völkern und deren Kulturen im Kopf hatten: Die Eroberer konnten ihre Reiche nicht selbst verwalten. Dafür brauchten sie „Mittelsleute“.
Oft nahmen die imperialen Herrscher Kenntnisse, Fähigkeiten und Autorität der eroberten Völker in Anspruch, indem sie sich der Eliten bedienten, die von dieser Kooperation profitierten; oder sie stützen sich auf Minderheiten und marginalisierte Gruppen, die sich Vorteile von ihrem Dienst für die Sieger versprachen. Eine andere Art von Mittelsleuten waren Siedler oder Staatsbedienstete, die aus dem Land der Kolonialmacht stammten.
Eine genau entgegengesetzte Taktik bestand darin, Sklaven oder andere Personen, die man aus ihrer Herkunftsgemeinschaft herausgelöst hatte und deren Überleben oder Wohlergehen somit allein von den imperialen Herren abhing, als Autoritäten einzusetzen. Diese Methode wurde unter dem Kalifat der Abbasiden und später im Osmanischen Reich erfolgreich angewandt. Bei den Osmanen wurden mit den höchsten Verwaltungs- und Militärposten Männer betraut, die man im jugendlichen Alter aus ihren Familien herausgerissen hatte, damit sie am Hof des Sultans erzogen und ausgebildet wurden.
Nach der Theorie hätten die jüngsten Kolonialreiche der Europäer solche aus Mittelsleuten gebildeten Personalstrukturen durch eine funktionale Bürokratie ersetzen sollen – aber das erfolgte mehr auf dem Papier als in der Realität. In den weiten Räumen Afrikas sah sich der Kolonialbeamte als „König des Urwalds“. Der lokale Funktionär war auf Häuptlinge, Wächter und Übersetzer angewiesen, die alle auf einen persönlichen Vorteil aus waren. In der Geschichte aller Imperien waren Mittelsleute so unentbehrlich wie gefährlich. Die Siedler, die einheimischen Eliten, und auch die einfachen Beamten verfolgten oft mehr ihre eigenen Interessen. Wenn man diese Mittelsleute betrachtet, geraten vor allem die vertikalen Verbindungen zwischen den Regierenden, deren Agenten und Untertanen in den Blick – also jene politischen Beziehungen, die heutzutage oft übersehen werden, weil horizontalen Verbindungen – etwa der Klasse, der Rasse, der Ethnie – mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Politische Vorstellungen waren für Imperien immer heikel. Die imperialen Herren betrachteten politische Herausforderungen und Möglichkeiten situationsbezogen; sie hegten nicht die eine, ganz bestimmte Vorstellung, aber auch nicht unendlich viele; ebenso hatten die lokalen Eliten und Untertanen ihre eigenen Vorstellungen, die wir alle aus dem damaligen historischen Kontext und nicht nach heutigen Maßstäben beurteilen sollten. Nehmen wir den (ost)römischen Kaiser Konstantin den Großen, der – wie später Mohammed – den Monotheismus zur Staatsdoktrin gemacht hat: Die Idee von einem Reich, einem Gott und einem Kaiser war eine starke Stütze der Macht; aber deren Kehrseite das stets drohende Schisma mit dem Argument, der aktuelle Kaiser sei als Hüter des wahren Glaubens ungeeignet.
Es gab auch Versuche, die Reichsidee mit Idealen von Gerechtigkeit und Moral aufzuladen. Doch die konnten von Kritikern leicht gegen das Imperium selbst ins Feld geführt werden, wie es Bartolomé de Las Casas im 16. Jahrhundert und die Antisklavereibewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts taten, oder auch die antikolonialen Freiheitskämpfer in Asien und Afrika, die den Anspruch der Europäer auf ihre „zivilisatorische Mission“ beim Wort nahmen und argumentierten, das Prinzip der Demokratie dürfe nicht auf einen Kontinent beschränkt bleiben.
Bei der Analyse der Transformationsprozesse und von Imperien mag die Vorstellung einer historischen „Verlaufskurve“ hilfreich sein. Damit kann man jenes tautologische Erklärungsmodell ersetzen, das die Geschichte als Abfolge von Epochen sieht, deren jede sich durch bestimmte Merkmale von der Vorläuferepoche unterscheidet.
Großmachtträume und Kriege der Europäer
Die „europäischen Expansion“, die sich seit dem 15. Jahrhundert vollzog, rührte nicht von einem inhärenten „expansionistischen Instinkt“ der europäischen Völker, sie ergab sich vielmehr aus dem historischen Zusammentreffen ganz bestimmter Umstände: Der im mächtigen Chinesischen Reich und in Südostasien erzeugte Reichtum war für die Kaufleute im fernen Europa ein unwiderstehlicher Anreiz; aber dazwischen lag das Osmanische Reich, das größer, stärker und politisch stabiler war als die fragmentierten Staatsgebilde im damaligen Westeuropa. Deshalb wollten die Könige von Spanien und Portugal – und später auch die der Niederlande und Großbritanniens – neue Seewege erkunden, um das Osmanische Reich und ihre Abhängigkeit von einheimischen Geldgebern zu umgehen. Das unerwartete Ergebnis war die Verbindung zu Völkern quer über den Atlantik, als Kolumbus statt einer Westroute nach Asien das spätere Amerika vorfand.
Eine weitere welthistorische Weichenstellung, nämlich die Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts in Europa und Amerika, stellt sich ebenfalls anders dar, wenn man sie durch das Spektrum der Beziehungen zwischen Imperien betrachtet. Die Revolutionen im französischen Santo Domingo, im britischen Nordamerika und im spanischen Südamerika waren zunächst Konflikte innerhalb der Imperien um Macht im Mutterland, die Stellung der Siedler in Übersee und der dortigen Untertanen, ehe sie sich zum Streben nach Unabhängigkeit vom Imperium entwickelten.
Wenn wir die wechselnden Geschicke der Reiche im 19. und 20. Jahrhundert im Schnelldurchlauf betrachten, sehen wir eine Welt, die zerrissen ist zwischen neuen imperialen Projekten – Deutschland, Japan, die Sowjetunion – und den alten Mächten, die das Potenzial ihrer kolonialen Räume gegen die neue Konkurrenz zu mobilisieren suchten. In der Mitte des 20. Jahrhunderts war der Übergang vom Reich zum Nationalstaat keineswegs ein selbstverständlicher Trend. Die ethnisch gemischte Bevölkerung, die in Vielvölkerstaaten wie dem Osmanischen und dem Habsburgischen Reich gelebt hatten, durchlitten dreimal Wellen ethnischer Säuberungen, deren Ziel es jeweils war, jeder Nation einen eigenen Staat zu verschaffen: Das erste Mal in den Balkankriegen von 1876 bis 1878 und von 1912/13; das zweite Mal nach dem Ersten Weltkrieg, als die Sieger die besiegten Reiche zerlegten; das dritte Mal nach dem Zweiten Weltkrieg, als aus einigen Regionen deutsche Volksgruppen, aus anderen wiederum Polen und Ukrainer und andere Minderheiten vertrieben wurden. Aber selbst danach fielen die Staatsgrenzen nicht mit den Siedlungsgebieten der jeweiligen Nationen zusammen. So kam es noch in den 1990er Jahren zu neuen, äußerst blutigen ethnischen Säuberungen.
Auch im Nahen Osten sind die Folgen von 1918, also der Zerschlagung des Osmanischen Reichs, bis heute noch nicht bewältigt. In Palästina/Israel beanspruchen konkurrierende Nationalismen dasselbe Territorium. Der Irak, Ägypten, Libyen und andere arabische Staaten erleben einen ständigen Machtkampf zwischen unterschiedlichen Gruppen.
Die historischen „Verlaufskurven“ der Imperien haben die heutigen Groß- und Weltmächte entscheidend geformt. Ein Beispiel ist China, das vom frühen 19. bis zum späten 20. Jahrhundert durch dynamischere imperiale Mächte niedergehalten wurde. Im Rückblick stellt sich diese Periode nur als das jüngste Interregnum dar, das durchaus kürzer ausgefallen ist als viele andere Zwischenepochen in der 2 000-jährigen Geschichte des chinesischen Kaiserreichs. Die Grenzen dieses Reiches, die im 13. Jahrhundert durch die (mongolische) Yuan-Dynastie und zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert durch die (mandschurische) Qing-Dynastie ausgeweitet wurden, blieben für die Republik (1911 bis 1949) und das kommunistischen China (ab 1949) ein selbstverständliches Erbe. Auch die heutige chinesische Führung beruft sich auf diese Dynastien und ihre imperialen Traditionen.
Inzwischen hat China gegenüber dem Westen die Oberhand gewonnen. Es ist nicht mehr nur Exporteur von Seide und Porzellan, sondern vor allem von industriellen Fertigprodukten, und es erzielt gigantische Handelsbilanzüberschüsse. Und es ist heute der größte Gläubiger der Vereinigten Staaten. Zugleich hat Peking aber die klassischen Probleme des Chinesischen Reichs geerbt: den Wunsch der tibetischen Bevölkerung nach Unabhängigkeit und die sezessionistischen Bestrebungen in der größtenteils muslimischen Provinz Xinjiang. Wie früher muss die chinesische Führung auch heute die „Wirtschaftsbarone“ im Zaum und die verschiedenen Bevölkerungsgruppen unter Beobachtung halten. Doch bei der Bewältigung dieser Aufgabe kann sie auf die historisch gewachsenen imperialen Herrschaftstechniken zurückgreifen und im Zuge der geografischen Machtverschiebungen die alte Bedeutung wiedererlangen.
Auch die Entstehung und den Zerfall der Sowjetunion kann man im Rahmen einer solchen „imperialen“ Verlaufskurve interpretieren. Die sowjetische Politik, nationale Republiken – mit kommunistischen „Mittelsleuten“ heimischer Provenienz – zu gründen, erleichterte in den 1990er Jahren eine geregelte Auflösung der Union und sorgte auch für eine gemeinsame Sprache in den Verhandlungen über die neuen Staatsgebilde. Dabei ist der größte Nachfolgestaat, die Russische Föderation, explizit ein multiethnisches Gebilde. Die Verfassung von 1993 gewährt den konstituierenden Republiken Russlands das Recht auf eine eigene Amtssprache, definiert zugleich aber das Russische als „Amtssprache der Russischen Föderation als ganzer“.
Nach einem kurzen Zwischenspiel hat Wladimir Putin die Traditionen eines patriarchalischen Reichs wiederbelebt. Putin und seine Günstlinge haben die Oligarchen wieder der Regierung unterworfen, die Kontrolle über religiöse Einrichtungen gefestigt, die Medien auf Linie gebracht, die Wahlen unter dem Titel „souveräne Demokratie“ zu einer Einparteienveranstaltung geformt, sich die Gouverneure der Regionen gefügig gemacht, mit dem russischen Nationalismus geflirtet und die Hauptwaffe des Landes – Öl- und Gasressourcen – mit Erfolg in der internationalen Arena eingesetzt. Kurzum, das russische Reich ist in moderner Fassung neu erstanden.
Von allen Großmächten ist die Europäische Union heute das innovativste Gebilde. Vom 5. bis zum 20. Jahrhundert hinein war Europa zerrissen durch die Ambitionen eines Teils seiner Eliten, ein neues Rom zu schaffen, und die Entschlossenheit des anderen Teils, ebendies zu verhindern. Die Kämpfe für und gegen ein europäisches Imperium reichten von Karl dem Großen über den Habsburger Kaiser Karl V. und Napoleon bis zu Hitler. Erst die wechselseitigen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und die folgende Unfähigkeit der europäischen Mächte, ihre Kolonialreiche zu behalten, brachte die Imperien Europas dazu, ihre mörderische Konkurrenz endgültig einzustellen.
Dennoch versuchten einige europäische Mächte nach 1945, ihre Imperien neu zu organisieren und sowohl produktiver als auch legitimer zu machen. Großbritannien und Frankreich gaben dieses Bemühen erst Ende der 1950er Jahre auf. Dagegen waren Deutschland wie Japan aus der Reichsbildungskonkurrenz ausgeschieden. Auf Nationalstaaten reduziert, erlebten beide Länder eine (wirtschaftliche) Blüte, zu der sie es als Imperien nie gebracht hatten.
Die europäischen Staaten machten sich ihre endlich gewonnene „Freiheit vom Imperium“ zunutze und erarbeiteten untereinander ein konföderatives politisches Gefüge. Am besten hat diese Struktur immer dann funktioniert, wenn sie auf administrative und regulierende Funktionen beschränkt blieb. Aber auch eine der grundlegendsten Merkmale staatlicher Souveränität – die Personenkontrolle an den Grenzen – ist inzwischen auf europäischer Ebene angesiedelt. Wenn man die vielen verlassenen Zollgebäude an den denselben Grenzen stehen sieht, für die viele Millionen Europäer in immer neuen Kriegen gestorben sind, wird man gewahr, welch bemerkenswerte Errungenschaft der Schengenraum ist. Die Entwicklung Europas von konkurrierenden Reichsbildungsprojekten zu Nationalstaaten (die ihre Kolonien losgeworden sind) und weiter zu einer Konföderation von Staaten macht uns deutlich, welche komplexe Vielfalt von Souveränitätsmodellen Europa durchlaufen hat. Und dass sich nationalstaatliche Konzepte noch gar nicht so lange von imperialen Konzepten gelöst hat.
Nach dem 11. September 2001 ist zur Mode geworden, die Vereinigten Staaten von Amerika zum „Imperium“ zu ernennen, um entweder die Arroganz ihres außenpolitischen Agierens zu brandmarken oder ihr Bemühen zu feiern, in aller Welt für Ordnung und Demokratie zu sorgen. Erhellender als die Frage nach begrifflicher Zuschreibung ist ein genauer Blick auf das US-amerikanische Repertoire der Macht, unter dem Aspekt, welche Mittel imperialer Strategien jeweils eingesetzt wurden.
Im 20. Jahrhundert haben die USA wiederholt militärische Gewalt eingesetzt und dabei die Souveränität anderer Staaten verletzt; sie besetzten fremdes Territorium, woraus aber nur selten koloniale Gebilde entstanden. Aber sogar das nationale Selbstverständnis der USA ging aus einer imperialen Verlaufskurve hervor: Thomas Jefferson hatte 1776 angekündigt, die aufständischen Provinzen des Britischen Empire würden ein „Empire of Liberty“ errichten.
Das neue Staatswesen entstand aus einer Politik der Differenz nach römischen Vorbild, das heißt: auf der Basis von gleichen Rechten und Anspruch auf Privateigentum für alle Menschen, die als Bürger galten, aber unter Ausschluss der amerikanischen Ureinwohner und der Sklaven. Mit der Ausweitung ihres Staatsgebiets über den Kontinent eigneten sich die Euro-Amerikaner riesige Mengen natürlicher Ressourcen an. Mit der Zeit (und nachdem ihre Föderation fast an der Sklavenfrage zerbrochen wäre) wuchs ihrer politischen Führung die Stärke zu, je nach eigener Interessenlage über Zeitpunkt und Bedingungen ihrer Interventionen im Rest der Welt zu bestimmen.
Imperien existierten stets in Beziehung – und häufig in einem Spannungsverhältnis – zu anderen Formen räumlicher Vernetzung; Imperien ermöglichten oder verhinderten die Bewegungsfreiheit von Waren, Kapital, Menschen und Ideen. Reichsbildung war fast immer ein gewaltsam vollzogener Prozess, und die Eroberung war häufig der Auftakt für Ausbeutung , wenn nicht für Zwangsassimilierung und Erniedrigung. Imperien schufen mächtige politische Gebilde; und sie hinterließen immer eine lange Spur menschlichen Leids. Aber die Idee des Nationalstaats, die selbst aus dem imperialen Kontext erwachsen ist, hat sich nicht als Gegengift gegen die Arroganz der Imperien erwiesen. Man denke nur an die aktuellen ungelösten Konflikte im Nahen Osten und in Afrika.
Mit den Folgewirkungen, die sich aus dem Zerfall und der Überwindung der Imperien ergaben, müssen wir uns bis heute auseinandersetzen: mit der Fiktion gleichwertiger Souveränität und mit der Realität der Ungleichheit innerhalb wie zwischen den einzelnen Staaten.
Nachdenken über das Phänomen Imperium heißt nicht, dass das britische, das Osmanische oder das Römische Reich wiederauferstehen sollten. Es hilft uns aber, die Vielfalt der Formen wahrzunehmen, in denen Macht über geografische Räume ausgeübt wurde. Und wenn wir den Denkfehler vermeiden, die historische Entwicklung vom Imperium zu Nationalstaaten als ehernes Gesetz anzusehen, können wir vielleicht offener und unbefangener über unsere Zukunft nachdenken. Etwa über Formen der Souveränität, die auf die stets aktuellen Fragen der Ungleichheit und Verschiedenheit der Weltbevölkerung eine bessere Antwort geben als Reiche oder Nationalstaaten.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Jane Burbank und Frederick Cooper lehren Geschichte an der New York University. Gemeinsame Verfasser von „Empires in World History: Power and the Politics of Difference“, Princeton (Princeton University Press) 2011.