09.12.2011

Der Süden zuerst

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Der Süden zuerst

Die vergessene Weltkonferenz von 1974 von Aurélien Bernier

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Kaum ist die UN-Klimakonferenz im südafrikanischen Durban zu Ende, da beginnen schon die Vorbereitungen auf das nächste ökologisch-diplomatische Großereignis: die Anfang Juni 2012 in Rio de Janeiro stattfindende UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung (United Nations Conference on Sustainable Development, UNCSD). Angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise wagt allerdings kaum noch jemand, auf einen Durchbruch bei diesen Verhandlungen zu setzen. Anders als in Kopenhagen (2009) und Cancún (2010) sind die Themen Klimawandel und Treibhausgasreduktion inzwischen in den Hintergrund getreten.

Das war 1972, nach dem ersten Erdgipfel in Stockholm, anders. Dieser weckte durchaus Hoffnungen auf ein gemeinsames Handeln zur Rettung des Planeten. Seither finden diese Gipfel alle zehn Jahre statt. 1982 in Nairobi war man sich nur einig in der Feststellung, dass die internationale Gemeinschaft beim Klimaschutz versagt hatte. 1992 in Rio und 2002 in Johannesburg wurde dann der Vereinnahmung der Ökologie durch die Weltkonzerne das Wort geredet. Mit Sicherheit wird es auch nächstes Jahr in Brasilien wieder Lobeshymnen auf den „grünen Kapitalismus“ geben.

Dabei schlummern in den Archiven der Vereinten Nationen wahre Schätze. Das radikalste Dokument zur Umweltpolitik, das diese Institution je hervorgebracht hat, wird heute nach Möglichkeit unter Verschluss gehalten: Im Oktober 1974 kam in der mexikanischen Stadt Cocoyoc eine UN-Erklärung zustande, die eine andere Weltordnung als die uns heute aufgezwungene entwirft.

Alles begann 1971 in Founex, einem Vorort von Genf: Hier trafen sich internationale Fachleute, um im Auftrag der Vereinten Nationen den Erdgipfel von Stockholm vorzubereiten. Sie kamen aus Ländern des Nordens und des Südens. Einbezogen wurden sie wegen ihrer Kompetenz auf den Gebieten der Ökologie, Ökonomie, Sozialwissenschaft oder Entwicklungspolitik. Sie hatten keinen Auftrag vonseiten ihrer Regierungen und erstellten einen inoffiziellen Bericht, der als inhaltlicher Leitfaden für die Verhandlungen zwischen den Staaten dienen sollte.

Der „Founex-Bericht“ war eine erste Synthese dieser vorbereitenden Arbeit. Er hielt fest, dass die schlimmste Umweltverschmutzung in der Armut bestehe, die es in allererster Linie zu bekämpfen gelte. Unter dem Eindruck des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (General Agreement on Tariffs and Trade, Gatt) verteidigten die Founex-Leute das Recht der armen Länder auf Industrialisierung und hielten den Freihandel für ein geeignetes Mittel, um das zu erreichen.

Einige Monate später griff der Gipfel von Stockholm diese Überlegungen auf. Die Staaten kamen zu dem Schluss, dass ökologische Fragen zusammen mit Problemen der Entwicklung zu erörtern seien, und schufen die Basis für ein internationales Umweltrecht, freilich ohne an den Grundfesten des Freihandels zu rütteln. Einige Länder des Südens waren mit dem Kompromiss jedoch sehr unzufrieden und forderten schon damals die Herstellung einer „neuen Weltwirtschaftsordnung“, um die Hegemonie des Westens zu brechen.

Vom 8. bis zum 12. Oktober 1974 versammelte erneut eine UN-Konferenz internationale Fachleute zum Meinungsaustausch, diesmal im mexikanischen Cocoyoc. Leiter der Veranstaltung waren der kanadische Geschäftsmann Maurice Strong, zugleich Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (Unep), und der Ökonom, Diplomat und Unctad-Generalsekretär Gamani Corea aus Sri Lanka.

Unter den Autoren des Berichts finden sich Leute wie die britische Wirtschaftswissenschaftlerin Barbara Ward, die das Thema natürliche Ressourcen behandelte, sowie der kapitalismuskritische norwegische Politologe Johan Galtung, der sich zu entwicklungspolitischen Fragen äußerte.

Unter den in Cocoyoc versammelten Intellektuellen bekundeten etliche große Sympathien für den Sozialismus. Der Vorsitzende Gamani Corea arbeitete als Ständiger Sekretär des Planungs- und Wirtschaftsministeriums von Sri Lanka für eine Regierung, die Ölfirmen, Banken, Versicherungen, Schulen und vieles mehr verstaatlichte und außenpolitisch die Annäherung an den kommunistischen Block betrieb. Beide stellvertretenden Vorsitzenden der Konferenz in Mexiko stammten aus Entwicklungsländern: Wilbert K. Chagula war Minister für wirtschaftliche Angelegenheiten und Entwicklungsplanung in Tansania. Dessen Präsident Julius Kambarage Nyerere, ein ehemaliger Lehrer, hatte 1967 mit der Verstaatlichung der wichtigsten Industrie- und Dienstleistungsbetriebe begonnen, über Steuererhöhungen Sozialprogramme finanziert und eine große Agrarreform in Angriff genommen. Der zweite stellvertretende Vorsitzende, Rodolfo Stavenhagen, war ein mexikanischer Soziologe und hatte sich in seinen Veröffentlichungen mit den Klassenkämpfen in der landwirtschaftlich geprägten Welt auseinandergesetzt. Regierungschef im Gastgeberland der Konferenz war seit 1970 Echeverría Álvarez. Er hatte Bergwerke und Kraftwerke verstaatlicht, Land an arme Bauern vergeben und eine fortschrittliche, wenngleich nicht revolutionäre Sozialpolitik vorangetrieben. Álvarez bekundete seine Nähe zum Allende-Regime in Chile ebenso wie zum revolutionären Kuba. Er nahm persönlich an den Gesprächen in Cocoyoc teil.

Das Schlussdokument vom 23. Oktober geriet zu einer regelrechten Brandrede gegen die Politik des Westens. Im ersten Absatz verwies es auf das Scheitern der Vereinten Nationen, deren Charta aus dem Jahr 1945 eine ungerechte Weltordnung hervorgebracht hätte. „Die Hungernden, die Obdachlosen und die Analphabeten sind heute zahlreicher als zu der Zeit, in der die Vereinten Nationen gegründet wurden.“ An den „Kräfteverhältnissen nach fünf Jahrhunderten kolonialer Fremdherrschaft, in denen die gesamte wirtschaftliche Macht in die Hände einer kleiner Gruppe von Staaten gefallen ist“, hätte sich nichts geändert. Die Autoren des Berichts sahen das Problem nicht in der unzureichenden Produktion, sondern in der „schlechten Verteilung und im Missbrauch“ des Reichtums.

An ihrer Liste von Anklagepunkten hätten auch heutige Wachstumskritiker nichts auszusetzen. Die Erklärung von Cocoyoc stellt ausdrücklich die Doktrin des ständig zu steigernden Bruttonationalprodukts infrage: „Ein Wachstumsprozess, der nur einer kleinen Minderheit zugutekommt und der die Ungleichheiten zwischen Ländern ebenso wie deren soziales Gefälle aufrecht erhält oder vergrößert, ist keine Entwicklung, sondern Ausbeutung. […] Deshalb lehnen wir die Vorstellung ab, es müsse erst Wachstum geben, bevor die Zuwächse gerecht verteilt werden können.“

Das in Cocoyoc favorisierte Entwicklungsmodell konzentriert sich nicht in erster Linie auf ökonomische Fragen, sondern bringt auch Lebensweisen, Werte, die Emanzipation der Völker sowie individuelle und kollektive Rechte ins Spiel. Es beinhaltet „das Recht auf Arbeit, womit nicht nur das Recht gemeint ist, eine Arbeit zu haben, sondern auch das Recht, darin persönliche Erfüllung zu finden und nicht von Produktionsprozessen entfremdet zu werden, die Menschen nur als Werkzeuge benutzen.“

Die Mythen der Marktwirtschaft werden in der Erklärung beiseite gefegt: „Die Lösung der Probleme kann nicht durch die Selbstregulierung der Marktmechanismen erfolgen“, heißt es darin. „Klassische Märkte gestatten in erster Linie denjenigen Zugang zu Ressourcen, die sie bezahlen können, nicht denjenigen, die sie brauchen. Sie regen eine künstliche Nachfrage an, erzeugen viel Müll und nutzen manche Ressourcen sogar zu wenig.“

Frontalangriff auf die Marktwirtschaft

Im Gegensatz zu den damals wie heute herrschenden Gatt-Prinzipien erkannte man in Cocoyoc die Ursache der Umweltzerstörung in unfairen Wirtschaftsbeziehungen und in den Niedrigpreisen für Rohstoffe. Die Fachleute rieten den Ländern des Südens zu Bündnissen nach dem Vorbild der Organisation erdölexportierender Länder (Opec), um angemessene Preise für alle Rohstoffe durchsetzen zu können. Zugleich empfahlen sie eine internationale Verwaltung der „Gemeingüter“ auf solider völkerrechtlicher Grundlage. Um das Ziel einer Autonomie der Nationen ohne Abrutschen in die Autarkie zu erreichen, verlangten sie von den reichen Ländern nicht „Hilfe“, sondern gerechte Preise für Rohstoffe.

Statt sich mit Schuldzuweisungen an einzelne Personen aufzuhalten, betont die Erklärung von Cocoyoc: „Alle haben das Recht, das Wesen des Systems zu verstehen, an dem sie als Produzenten, Konsumenten und vor allem als einer von Milliarden Bewohnern unseres Planeten Anteil haben. Sie haben das Recht zu erfahren, wer von ihrer Arbeit profitiert, wer Gewinne erzielt mit dem, was er kauft und verkauft, und ob er damit eine Bereicherung oder eine Belastung für unseren ererbten Planeten bewirkt.“ Umweltschutz versteht sich hier als Teil eines umfassenderen Bildungsprojekts, bei dem die Herrschaftsverhältnisse nicht ausgeblendet, sondern kenntlich gemacht werden.

Im Gegensatz zum „Founex-Bericht“, der auf den Freihandel und die Schiedsfunktion des Gatt-Abkommens setzte, wies die Erklärung von Cocoyoc den Vereinten Nationen und damit dem Prinzip „ein Land, eine Stimme“ die Hauptrolle zu. „Wir sind überzeugt, dass Entwicklung, Umwelt und Rohstoffnutzung globale Themen sind, die das Wohlergehen der gesamten Menschheit betreffen. Daher sollten die Regierungen alle Mechanismen der Vereinten Nationen nutzen, um diese Probleme zu lösen. Wir glauben auch, dass die Vereinten Nationen reformiert und gestärkt werden sollten, damit sie ihrer neuen Verantwortung gerecht werden können.“

Die Erklärung von Cocoyoc beeindruckt noch heute durch die politischen Perspektiven, die sie eröffnet. Sie definiert Unterentwicklung nicht als eine „nachholende“ Entwicklung, sondern als das Produkt der Entwicklung reicher Länder. Tatsächlich verlief der Siegeszug des Kapitalismus über den Zugriff der Weltkonzerne auf die Rohstoffe des Südens. Dabei war von vornherein klar, wer ausgebeutet wurde und wer ausbeutete. Cocoyoc griff die Marktwirtschaft und mit ihr den Freihandel frontal an. Der Aufruf zum Bruch mit beidem ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Es ging nicht nur darum, das System zu sanieren, sondern ganz auszusteigen. „Zur nationalen Autonomie gehört auch die Möglichkeit einer vorübergehenden Loslösung vom derzeitigen Wirtschaftssystem. Es ist unmöglich, die eigene Autonomie weiter zu entwickeln, solange man voll und ganz Teil eines Systems ist, das die wirtschaftliche Abhängigkeit auf ewig fortschreibt.“ Dementsprechend sollten die Staaten, so die Erklärung, die Unterordnung unter die Abhängigkeit vom Ausland ablehnen, eine kollektive Autonomie organisieren und zusammenarbeiten, nicht zuletzt bei der Verwaltung der Gemeingüter.

Die Erklärung von Cocoyoc forderte nicht weniger als einen ökologischen, von souveränen Staaten geschaffenen, weltweit solidarischen Sozialismus. Die Autoren boten den reichen Ländern sogar an, ihnen beim Ausstieg aus dem übermäßigen Konsum und Lebensüberdruss zu helfen: „Es ist zwecklos, nur immer mehr zu produzieren, wenn das zu einer Zunahme beim Konsum von Antidepressiva und zu immer mehr psychiatrischen Kliniken führt.“

Sofort nach der Veröffentlichung des Textes erhielten die Vorsitzenden der Konferenz ein langes Telegramm von US-Außenminister Henry Kissinger, der die gesamte Erklärung verwarf. Die Wirtschaftskrise von 1973 bot den Großmächten dann die Gelegenheit, widerspenstige Staaten auf Linie zu bringen oder zu isolieren. Wer nicht nach ihren Regeln spielen wollte, musste zusehen, wie die Preise für Importwaren in die Höhe schossen.

Bei den weiteren Verhandlungen über die „neue Weltwirtschaftsordnung“ schufen die reichen Länder immer neue Foren, um den Einfluss der Vereinten Nationen, bei denen die Länder des Südens die Mehrheit stellten, zu verwässern. An der Konferenz über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit in Paris nahmen im Dezember 1975 nur 27 Staaten teil: darunter acht reiche Industrieländer und die wichtigsten Erdölförderländer, aber kein einziges der Länder, die den Kapitalismus in seinen Grundlagen oder die internationale Arbeitsteilung – sie hieß damals noch nicht Globalisierung – infrage stellten.

Zudem spielten einige große Länder des Südens den USA, Europa und Japan in die Hände, indem sie zwar mehr Gewicht in der Weltwirtschaft verlangten, deren Regeln aber nicht ändern wollten. Auch Indien verfolgte trotz des Freundschafts-, Friedens- und Kooperationsvertrags mit der Sowjetunion vom 9. August 1971 eine zwiespältige Wirtschaftspolitik, die man als „Dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus bezeichnen könnte. In Brasilien konnte die Militärdiktatur dank der Kapitalzuflüsse aus westlichen Ländern ein Rekordwachstum verbuchen. Anfang der Achtzigerjahre raffte dann die neoliberale Konterrevolution das wenige dahin, was von den Forderungen aus Cocoyoc noch im Raum stand.

Heute finden sich auf der Internetseite der Vereinten Nationen nur noch ein paar Zeilen zur Konferenz vom Oktober 1974 in Mexiko, darunter auch ein kurzes Zitat aus dem Schlussdokument: „Der Weg, den wir einschlagen wollen, führt nicht über die Verzweiflung und über das Ende der Welt, aber auch nicht über einen naiven Optimismus angesichts immer neuer technischer Möglichkeiten. Er führt im Gegenteil über eine peinlich genaue, leidenschaftslose Anerkennung der ‚äußeren Grenzen‘ [gemeint ist die Bewahrung des ökologischen Gleichgewichts] und über eine gemeinsame Erforschung der Mittel zur Einhaltung der grundrechtlichen ‚inneren Grenzen‘ [der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse]. Er führt über Strukturen, die diese Rechte zum Ausdruck bringen, und über die geduldige Arbeit, die darin besteht, eine Entwicklung zu schaffen, die das Erbe unseres Planeten pflegt und bewahrt.“ Offenbar wollte man an die 1974 in Cocoyoc geleistete Arbeit erinnern, aber den subversiven Gehalt und die politische Perspektive des ursprünglichen Textes so systematisch wie gründlich verstecken.

Aus dem Französischen von Herwig Engelmann Aurélien Bernier ist Autor von „Désobéissons à l’Union européenne!“, Paris (Fayard) 2011.

Le Monde diplomatique vom 09.12.2011, von Aurélien Bernier