14.12.2007

Leute, auf die es nicht ankommt

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Leute, auf die es nicht ankommt

Die Wiederkehr des Klassenbewusstseins als Vorurteil von Bruno Preisendörfer

Anfang November präsentierte der deutsch-französische Kulturkanal Arte seinem gebildeten Publikum einen Themenabend über die Unterschicht. Die Dokumentation zeigte abwechselnd Szenen aus dem Alltag von Elendsfamilien und dazu passende „Expertenstatements“. Die Verarmten waren die Objekte, die Wissenschaftler und Sozialpolitiker die Subjekte. Hoffnungslose Hilflosigkeit auf der einen Seite stand gepflegtem Bescheidwissen auf der anderen gegenüber. Wenn auf der Seite der Hilflosigkeit „wir“ gesagt wurde, handelte es sich um das „wir“ der Demütigung. Wenn auf der Seite des Bescheidwissens von „wir“ gesprochen wurde, war es das „wir“ des Mitleids von überlegener Warte. Das „wir“ der Armen beschränkte sich schamvoll auf die eigene Familie und wagte es nicht, die Zuschauer dabei mitzumeinen. Das „wir“ der Armutsexperten trat als Pluralis Majestatis des öffentlichen Meinens auf, schloss die Zuschauer darin ein und die Dargestellten davon aus.

Der Gestus der Dokumentation war „kritisch“ und doch durch und durch klassistisch, wie ein ähnlich gestrickter Film über schwarze Leute rassistisch gewesen wäre, von weißen Filmemachern für ein weißes Publikum gedreht und mit lauter weißen Wissenschaftlern, die als Experten das Leben von schwarzen Leuten kommentieren. Kennt man im wirklichen Leben Menschen, wie sie in „aufrüttelnden“ Filmen dieser Art vorzukommen pflegen, hört man in der einen oder anderen Variante häufig den Satz: „Es gibt die da oben und uns hier unten. Das ist so, das war so und das wird immer so bleiben.“ Als gebildeter Mensch der akademischen Mittelschicht weiß man natürlich, dass man das so allgemein nicht sagen kann.

Und befindet sich im Irrtum. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler zum Beispiel weiß, dass man es doch so allgemein sagen kann: „Es ist eine anthropologische Konstante, dass es immer Herrschende und Beherrschte gegeben hat und geben wird.“ Wenn zwei das Gleiche sagen, ist es noch lange nicht dasselbe. Das „die da oben“ einer Putzfrau hat einen anderen Status als die „anthropologische Konstante“ eines Historikers. Auch wenn die Aussagen in der Sache völlig übereinstimmen, wird die eine ernstgenommen und die andere nicht. Den Aussagen geht es wie den Menschen, die sie treffen.

Im Englischen gibt es die Wendung „persons of no consequences“. Damit sind Leute gemeint, auf die es nicht ankommt. Genauer gesagt: Leute, auf die es als Einzelne nicht ankommt. In der Mehrzahl sind sie so wichtig (als Konsumenten, als Publikum, als Wähler) wie in der Einzahl unwichtig, weil es jedem Einzelnen von ihnen an Geld, Macht und Wissen fehlt. Sie gehören zur Unterschicht.

Nicht jede Person, die arm ist, gehört zur Unterschicht. Nicht jeder, der zur Unterschicht gehört, ist arm. Für Einkommensstatistiker gilt als arm, wer über weniger als zwei Drittel des durchschnittlichen Monatseinkommens jener Haushalte verfügt, die der eigenen Familiensituation entsprechen. Die promovierte Anglistin, die sich als freie Lektorin und Übersetzerin durchschlägt und nach dieser Definition arm ist, mag sich auch arm fühlen, wird sich aber trotzdem nicht zur Unterschicht zählen. Wenn sie mit studierten Freundinnen zusammensitzt, denen es auch nicht besser geht und die wie sie von einer festen Stelle träumen, wird sie es beim Diskutieren vielleicht mit der Selbstbeschreibung als Angehörige des „akademischen Prekariats“ versuchen. Die etwas aggressivere Formulierung vom „akademischen Proletariat“ dagegen wäre ihr unangenehm. Mit einem Universitätszeugnis in der Tasche, auch wenn es auf dem Markt nur wenig wert ist, lässt man sich nicht widerspruchslos „Proletin“ schimpfen, auch nicht „akademische“. Und obwohl sie rein theoretisch der „anthropologischen Konstante“ von Professor Wehler zustimmen würde, käme ihr praktisch kaum in den Sinn, mit ihren Freundinnen von „denen da oben und uns hier unten“ zu schwadronieren.

Der angelernte Postbriefträger, der als Festangestellter mit Urlaubs- und Krankengeldberechtigung nach der am Durchschnittseinkommen orientierten Zweidritteldefinition nicht arm ist, mag sich trotzdem über seinen Verdienst beklagen – schon deshalb, weil das alle tun. Auch er wird zögern, sich zur Unterschicht zu zählen, obwohl er weiß, dass nur die gelbe Karre zwischen ihm und dem teilzeitbeschäftigten privaten Zusteller steht, dessen erbärmlicher Bezahlung der Staat neuerdings mit einer Mindestlohnregelung aufzuhelfen sucht. Sitzt der Postbote mit seinen Kumpeln zusammen, denen es auch nicht schlechter geht und die wie er eine feste Stelle haben, wird er es beim Diskutieren vielleicht mit der Selbstbeschreibung als „kleiner Mann“ versuchen. Rein theoretisch kann ihm die „anthropologische Konstante“ des Professors gestohlen bleiben, alltagspraktisch weiß er genau, dass „die da oben“ machen, was sie wollen, und es auf Leute wie ihn nicht ankommt.

Wenn die Anglistin im Hausflur dem Briefträger über den Weg läuft und der Briefträger ahnungslos die Absage auf ihre jüngste Bewerbung nicht in den Kasten wirft, sondern ihr in die Hand drückt, kommt es für einen kurzen Moment zu einer Berührung der Lebenswelten der beiden.

Die sozialen Reichweiten der Anglistin und des Postboten sind verschieden. Sollte die Anglistin in ihrer prekären Lage auch noch alleinerziehend sein, wird ihr Kind trotzdem mit viel höherer Wahrscheinlichkeit eines Tages die Universität besuchen als das Kind des Postboten. Erkrankt die Anglistin, wird sie beim Arzt zuvorkommender behandelt als der Postbote, obwohl sie mit ihrer Künstlersozialversicherung auch nur Kassenpatientin ist. Allerdings wird auch sie manchmal gefragt: „Wie geht es uns denn?“ Dieses „uns“ ist nicht einbeziehend wie das „wir“ der Experten im Fernsehen, sondern schwankt zwischen Leutseligkeit und Verachtung und erinnert an das „er“, mit dem einst der aristokratische Herr seinen Diener anzureden pflegte.

Clemens weiß, wo seine Tonnen stehen

In diesen Momenten bekommt die Anglistin auf einmal zu spüren, wie es ist, als jemand behandelt zu werden, auf den es nur in der Mehrzahl ankommt. Sie lässt sich das nicht gefallen und verschafft sich individuell Respekt. Es fehlt ihr zwar an Geld, jedoch nicht an Wissen und deshalb auch nicht ganz und gar an Macht oder wenigstens nicht an jenem indifferenten Einfluss, der vieles im Alltagsleben leichter macht. Eine subkutane oder gar offene Diskriminierung aufgrund ihres sozialen Ortes in der Gesellschaft gehört normalerweise nicht zu ihren Problemen. Sie stößt selten auf Herablassung, abgesehen vom manchmal herablassenden Mitleid derer, die es gut mit ihr meinen und denen es selbst besser geht.

Dem exemplarischen „kleinen Mann“ in Gestalt des fest angestellten Postboten fehlt es auch an Geld, allerdings nicht so sehr wie der exemplarischen Anglistin in prekären Verhältnissen. Doch vor allem fehlt es ihm an Wissen, das zusammen mit dem akademischen Persönlichkeitsschliff wenn schon nicht zu Macht, so doch zu einem gewissen „Auftreten“ verhilft. Er ist zwar saturiert, aber auf unterstem Niveau, und steht den Armen von der Arte-Doku mental und in seiner sozialen Aura viel näher als die definitorisch tatsächlich arme Anglistin.

Im Unterschied zu den statistisch Armen des gebildeten Prekariats fehlt es den verelendeten Armen des ungebildeten Proletariats, von denen einige Exemplare bei Arte mehr zoologisch vorgeführt als soziologisch verstanden wurden, an Geld, Macht und Wissen.

An solche Menschen, denen außer einem letzten bisschen Würde alles fehlt, denken mittelschichtige Feuilletonisten, wenn sie über „Unterschichtigkeit“ debattieren. Oder sie stellen sich verfettete, verblödete, verfernsehte Leute vor, körperlich, geistig, seelisch verwahrlost. Einst echauffierten sich rassistische weiße Zeitungsschreiber über die Verkommenheit der Neger in den Kolonien, heute fantasieren klassistische Mittelschichtsjournalisten von alimentierten Sozialhilfedynastien, die dem Steuerzahler, womit sie sich selbst meinen, auf der Tasche liegen.

„Wenn ich auf die Straße schaue, sehe ich zwanzig, fünfundzwanzig Prozent Menschen, die sich damit abgefunden haben, dass sie vom Staat leben und auch in Zukunft leben werden. Fünfzehn Prozent sind oben, die werden bald gehen und sich in Sicherheit bringen. Und die Mehrheit in der Mitte, die bildet den am stärksten gebeutelten, ausgebeuteten Teil des Volks. Sie werden vom Staat gejagt, aus purer Not, weil die Politiker Geld brauchen, um ihre sozialen Versprechungen zu halten.“ Das ist der Sound des Klassismus. Allerdings hat das kein Journalist geschrieben, sondern der Maler Markus Lüpertz gesagt (in der Zeit vom 22. Juni 2006). Künstler sind Künstler.

An ihr Denken sollte man keine zu hohen Ansprüche stellen. Der Maler weiß nicht, dass der weitaus größte Teil staatliche Transferleistungen keineswegs von den Mittelschichten nach unten fließt, sondern innerhalb der Mittelschichten hin- und hergeschoben wird.

Das hat damit zu tun, dass die Mittelschicht trotz ihrer Ideologie des Individualismus kollektiv gut organisiert ist und mit Hilfe des Verbandslobbyismus dafür sorgt, dass an einer Stelle weggestrichene Subventionen (wie beispielsweise die Eigenheimzulage) an anderer Stelle wieder eingestrichen werden (wie bei der neu eingeführten steuerlichen Absetzbarkeit von Handwerksarbeiten am Eigenheim).

Die Menschen der Unterschicht dagegen haben ihre politische Vertretung verloren. In den westlichen Ländern gibt es keine Unterklassen mehr, wenn darunter ein kollektives Subjekt mit historischem Selbst- und Selbstbildungsbewusstsein verstanden werden soll, vergleichbar etwa der Arbeiterklasse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Klassenbewusstsein ist heute eine Sache der Oberschicht, die sich im Inneren nach Familienzugehörigkeiten strukturiert und nach außen als offene Leistungselite rechtfertigt, die sie gerade nicht ist, weder was die Offenheit noch was die Leistung angeht. Übrigens bringen die Angehörigen dieser Schicht nicht sich selbst außer Landes, wie der Mann meinte, der mit dem Pinsel denkt, sondern ihr Geld.

Die westeuropäische Arbeiterklasse als „historisches Subjekt“ ist mit dem Aufstieg der Wohlfahrtsstaaten verschwunden. Sie hat sich in den beeindruckenden Erfolgen ihrer reformistischen Programme verloren. Der utopischen Selbstabschaffung als Klasse in einer von Ausbeutung befreiten Gesellschaft ist die pragmatische Selbstauflösung in einem sozialstaatlich gezügelten Kapitalismus zuvorgekommen. Und die akademische Linke hat ihren weltanschaulichen „Abschied vom Proletariat“ mit André Gorz vor nahezu drei Jahrzehnten genommen.

Im Niedergang der Wohlfahrtsstaaten zeigt sich nun, dass zwar die Klasse verschwunden ist, nicht aber die Art von Leuten, die einst zu ihr gezählt wurden. Sie reicht von den Armen der Arte-Doku bis zum „kleinen Mann“ mit festem Job. Sie alle sind unterschiedlichen Graden klassistischer Benachteiligung ausgesetzt, von verborgenen Diskriminierungen bis zur offenen Stigmatisierung.

Während des Aufstiegs der Arbeiterparteien war der Klassismus ein Kampfinstrument des Bürgertums, das seine ökonomische Dominanz gegen die gefürchtete Masse und seine gesellschaftliche Zukunft gegen die Gefährdung durch sozialistische Revolutionen behaupten musste. Heute ist dieses Thema erledigt und der Klassismus vor allem ein Distinktionsverfahren einer verunsicherten Mittelschicht, deren Sehnsucht nach oben sich als illusionär und deren Abstiegsangst sich als begründet erweist. Die Oberschicht hält sich aus diesen mittelschichtigen Abgrenzungskämpfen nach unten heraus, sie hat so etwas nicht nötig.

Der Dreh- und Angelpunkt dessen, was man Klassismus ohne Klasse nennen könnte, ist nicht das Geld, sondern die Arbeit. Die Anglistin klagt darüber, dass sie weniger verdient als der Postbote, aber nicht darüber, dass sie keine Briefträgerin ist. Vorausgesetzt, sie hängt an der Anglistik, möchte sie Anglistin bleiben und nur die Bedingungen verbessern.

Der Briefträger, selbst wenn er am Postwesen hängt, möchte nicht bleiben, was er ist. Wahrscheinlich möchte er nicht gerade Anglist werden, und wahrscheinlich möchte er auch nicht sein oberster Boss Klaus Zumwinkel sein, denn der „ist ein feiner Pinkel, der es die Leute nur nicht so spüren lässt“, wie einmal im manager magazin stand.

In der Gewerkschaftszeitung ver.di publik wiederum stand über einen Müllmann: „Clemens weiß, wo seine Tonnen stehen. Er ist hier jede Woche, seit Jahren. ‚Eigentlich ist es eine langweilige Arbeit. Doch es ist mein Traum-job.‘ “

Es gibt zwei Möglichkeiten, und beide sind schlecht für Clemens: Entweder würde er wirklich bei seinem Traumjob bleiben, selbst wenn er eine Alternative hätte – dann ist er ein Trottel. Oder er meint das mit dem Traumjob nicht ernst, was man annehmen kann, und würde etwas Leichteres und Besseres vorziehen – dann ist er etwas, das er nicht sein möchte, selbst wenn das Geld stimmt. Er ist jemand, der nicht sein Leben wählen würde, wenn er die Wahl hätte. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit – er stammt aus einer Dynastie: „Schon als kleiner Junge wollte der heute 42-Jährige Müllmann werden – wie sein Vater.“

Gegen rassistische und klassistische Diskriminierung kursieren in der akademischen Linken seit einiger Zeit Theorien der Anerkennung und des Respekts. Sind diese Theorien hilfreich? Ja, für die Helfer. Symbolarbeiter neigen dazu, Konflikte um soziale Macht mit Problemen kultureller Anerkennung zu verwechseln. Die Theorie des Respekts ermöglicht denjenigen, die sich zu ihm herablassen, ein gutes Gewissen, ohne praktisch an den schlechten Verhältnissen, die eine solche Theorie erst nötig machen, zu rühren. Die hässlichen Tatsachen verschwinden hinter schönen Worten. Ein akademischer Respektslinker würde jemanden, der Müllmann für einen Traumjob hält, nie als Trottel bezeichnen. Er würde ihn nur stillschweigend für einen halten. Für eine person of no consequences eben.

Bruno Preisendörfer ist Schriftsteller. Ende Januar 2008 erscheint sein Buch „Das Bildungsprivileg. Warum Chancengleichheit unerwünscht ist“ beim Eichborn Verlag, Frankfurt am Main. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 14.12.2007, von Bruno Preisendörfer