14.12.2007

Vielleicht in der Kunst

zurück

Vielleicht in der Kunst

von Mathias Greffrath

In der Pinakothek der Moderne staute es sich vor den Beckmann-Bildern. Aus drei Ecken tönten die ikonografischen Explikationen der Führer – kein Raum für das, was der erlösungsgierige Expressionist vor seinen Bilder forderte: Meditation, Resonanz zwischen Werk und Betrachter. Also Flucht in die Nebensäle.

Sind das dreihundert, sind es vierhundert Plastiken, die da mattsilbrig auf der weißen Ebene glänzen? Ich habe sie nicht gezählt, all die Pferde, Fantasievögel, Schildkröten, Fische; Bäume, Blüten, Gemüse; Giacometti-Menschen und Embryonen; Schlitten, Häuser, Stiefel, Gefäße – und nur ein paar abstrakte Ornamente. Keine der Figuren im diesem silbernen Skulpturenwald war höher als vier Zentimeter, der weiße Tisch vielleicht sieben mal sieben Meter, und darauf alles, was zu einer Welt gehört. Der slowakische Künstler Roman Ondak hat fünfhundert Schokoladentafeln an japanische Stahlarbeiter verschenkt und sie gebeten, aus dem Stanniolpapier Plastiken zu formen. „Passage“ heißt die Installation, und an den umgebenden Wänden im großen Saal wächst von Tag zu Tag ein durchbrochenes Band aus Strichen, Daten, Namen: Der Besucher wird an die Wand gestellt, ein Helfer zieht eine schwarze Linie über dem Scheitel und notiert Namen und Tag. Von Tag zu Tag wächst so ein dynamischer, unvorhersehbarer Strichcode – „Measuring the Universe“.

Eine Woche nach dem Besuch in München steht anlässlich des „Berliner Börsentags“ eine Installation vor dem Veranstaltungsort: das „Börsell“. Eine Toncollage aus Bordell- und Börsenparkett-Geräuschen tönt aus einer telefonzellengroßen Box in Puffrot, aufgeblasene Kondome quellen heraus und zerknallen – wie Börsenblasen, klar. Die Künstlerin Vanessa Stern erklärt dazu: „Ob im Bordell oder an der Börse: Statt nach den Bedingungen für ein gutes Leben zu fragen, werden zwischenmenschliche Beziehungen gnadenlos der Profit- und Verwertungslogik unterworfen.“

Stimmt ja, irgendwie. Aber ich gebe zu, der Silberwald aus banalen Dingen und das Muster an der Wand in München haben mich stärker berührt als der Agitprop in Berlin. Politischer berührt, obwohl das „Börsell“ eine Aktion von Attac war und die Münchner Installation durch eine Zuwendung der Firma KPMG möglich wurde – eine der vier größten Wirtschaftsprüfungsfirmen der Welt. Sie stellt Bilanzen auf, berät im Private Equity Sektor, und auch dem Siemensvorstand hat sie wunschgemäß attestiert, dass alles in Ordnung sei.

Die Schergen der Finanzindustrie sponsern den zarten Humanismus – spontan geht mir das immer noch gegen den Strich. So wie ich es obszön fand, dass beim Empfang der Süddeutschen Zeitung im Bode-Museum zwei Sponsorenlimousinen, wahrscheinlich von BMW, das Portal des Bode-Museums flankierten und der Geschäftsführer die heiligen Gemäldehallen als tolle „location“ pries. Derlei Impulse sind hilflos, und sie kommen mir – das ist neu – zunehmend redundant vor. Sie sind so richtig – und so veraltet. Schwer auszurotten die Illusion, Kunst und Wissenschaft seien autonome Sphären des beseelenden Schönen, des aufklärenden Wahren, der Selbstkritik einer Gesellschaft. Dabei kommen aus den drittmittelsüchtigen und Bologna-verschulten Universitäten keine „Göttinger Erklärungen“ mehr, die das Parlament beunruhigen; und die „semantischen Potenziale“ der Kunst sind schon lange als Rohstoff freigegeben: „Man kann mit Autos handeln, aber auch mit atonaler Musik“ (Arnold Gehlen, 1956!) Der gute alte Kommerz-tötet-Kunst-Affekt könnte sich ebenso gut gegen die Museumsshops richten, die aus Beckmann Schlüsselanhänger, aus Michelangelo Kühlschrankmagneten oder aus Picasso Untersetzer machen.

Veraltet aber ist auch das Börsell. „Unsere Aktion richtet sich gegen diese Barbarisierung und Kommerzialisierung des gesamten Lebens“, sagt der Attac-Sprecher. Gut, gut, aber wer wäre dafür? Dass der Porsche-Chef 5 Millionen im Monat nach Hause trägt und die Büfettkraft 800 „verdient“, ist in Bild am Sonntag nachzulesen – und gleich dazu, dass sich bei 72 Prozent der Manager nach eigenem Bekunden die „moralisch-ethischen“ Maßstäbe bedenklich verschoben haben. Wir haben kein Erkenntnisproblem mehr. „Kritische“ Kunst verdoppelt meist nur schlecht, was die Analysen präziser sagen, und auch die Gefühle, die sie wecken will, sind politisch eher „unterkomplex“.

Die europäischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts wollten die Kunst aus der „feierlichen Isolierung“, ihrer „Erhebung zum Religionsersatz“ eines aufgeklärten Bürgertums befreien und mit Realismus, schriller Expressivität oder formaler Reinigung der „Aufklärung, Besserung, ja, Erlösung der Menschheit“ (Eduard Beaucamp) dienen. Heute besichtigen wir ihre Gesten – die „engagierte Kunst“, den inszenierten elitären Rückzug, den Minimalismus, die Reflexion auf die Entstehungsbedingungen – in den Museen; sie sind tausendmal durchgespielt, sie haben ihren Weg in die Werbung gefunden, „kritische Kunst“ löst schon lange keine Skandale mehr aus und wird von Großbanken gesammelt. Keine Spur von „feierlicher Isolierung“, aber auch keine Spannung mehr zwischen der Gesellschaft und der Sphäre des Idealen und Kritischen.

Warum hat mich diese harmlose Installation von Roman Ondak berührt und zum Bleiben verführt, ja, mir ein kleines Erweckungserlebnis beschert? Sie hat mich an eine wahnwitzige, utopische Hoffnung erinnert, die der Bildungsbürger Thomas Mann gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hegte. Die Kunst, so schrieb er, werde schon bald „mit einer Bildungselite, ‚Publikum‘ genannt … zum Aussterben allein sein, es sei denn, sie fände den Weg zum ‚Volk‘, das heißt, um es unromantisch auszudrücken, zu den Massen. Viel melancholische Ambition wird von ihr abfallen und eine neue Unschuld, ja Harmlosigkeit ihr Teil sein. Die Zukunft wird in ihr – sie selbst wird in sich die Dienerin sehen an einer Gemeinschaft, die weit mehr als ‚Bildung‘ umfassen und Kultur nicht haben, vielleicht aber dergleichen sein wird.“

Harmlosigkeit, Gemeinschaft, neue Unschuld – was kann das heißen? Offenbar nicht Komödiantenstadel, Wellnessmalerei oder Neunlive, und auch nicht opportunistische Flachheit, Basteltherapie oder „Publikumsbeteiligung“. Und sicherlich auch mehr als „ästhetische Erziehung für bildungsferne Schichten“ – so erfreulich Aktionen wie „Rhythm Is It“ sind, sie haben einen Hauch von Nacherziehung. Nein, Thomas Manns Hoffnung war anspruchsvoller, zielte auf nichts weniger als die „Resozialisierung“ der Kunst selbst: „Das Gegenteil von ‚Kultur‘, wie wir sie kannten, ist nicht Barbarei, sondern Gemeinschaft“ – eine Wiedereinbettung ästhetischer Praxis und Erkenntnis in die profane Lebenswirklichkeit der Menschen.

Das klingt verdächtig, weil positiv, aber wo mich neue Kunst in letzter Zeit berührt hat, folgt sie diesem utopischen Programm. Der „Wallenstein“ von Peter Stein ist ein schönes altes Lehrstück aus dem Museum; der von „Rimini-Protokoll“ eine gemeinsame Übung von Zeitgenossen und Künstlern über jedermanns Scheitern an Ambition und Machtgier. In der Theaterarbeit mit Demenzkranken in Moers wird kein Leid demonstriert, sondern die Grenze zwischen Fantasie und Weltverlust, zwischen Sprache und Körper, Leben und Erlöschen erkundet – in einem Erfahrungsraum, der den Horizont der Künstler, der Kranken und der Zuschauer erweitert, übergreift, verändert. Alle diese Versuche operieren an den Grenzen der Darstellung, der Repräsentation, des Symbolisierens und des Zeigens und überschreiten oder durchlöchern sie – behutsam, ohne große Geste oder Populismus. Einer der Wege, auf der sich die bildende Kunst dieser Grenze nähert, ist die begehbare Installation. Sie umgreift den „Betrachter“, statt ihm etwas zu zeigen, und wenn es gut geht, schafft sie damit eine „Ergriffenheit, die sich nicht wie Ergriffenheit anfühlt“ (Sloterdijk).

Etwas dieser Art habe ich in Ondaks völlig unspektakulärem Ensemble erlebt. Natürlich spielt die Erwartung ein wenig mit. Was suchen Menschen, was suche ich immer noch in Kunsthallen, warum fährt man zur documenta? Ich glaube, immer noch: um etwas zu finden, das über einen selbst hinausweist. Und da liegen nun auf einem großen Tisch in der Mitte des Saals die unschuldigen Dinge des vormodernen Lebens, aus trivialem Material, gemacht von Fremden, irgendwo auf dieser Welt, in einer Arbeitspause. Und wenn ich mich umdrehe, sehe ich eine fragmentarische Spur flüchtiger, unverbundener Individuen. Und dazwischen – ein leerer Raum, weit genug für Bewegungen aller Art, Gespräche, Meditation.

Was war die Arbeit des Künstlers dabei? Die Herstellung einer Situation, in der – halb körperlich, halb virtuell – diese unaufdringliche Resonanz entstehen kann, zwischen den Universalien aus Stanniol, den fernen Mitbewohnern der Welt und mir. Eine banale Resonanz – aber „Banalität“, das ist nicht nur das Selbstverständliche, sondern – ach, die Etymologie – so hieß vor der Neuzeit einmal das, was dem Herrn gehörte (der Boden, auf dem wir stehen), und später das, was allen gehören soll. Das liegt da nun auf dem Tisch. Und ähnelt dem Experiment des Klimaforschers Carlo Jäger: Er bat Bürger europäischer Länder, die Zukunft der Welt zu malen. Er war entsetzt über die Resultate: bukolische Idyllen oder Technoalbträume. Und nichts dazwischen – ein leerer Raum, für den wir noch keine Bilder haben.

Gut, Installationen, Performances, avancierende Kunst sind „for the happy few“, und auch das nur am Sonntag. Aber für einen Augenblick kam es mir so vor, als werde hier – im geschützten Raum des Museums – im kleinen Modell nicht nur eine Grenze zwischen Kunst und Leben, Wissen und Fühlen geöffnet, sondern auch eine entscheidende politische Praxisform der Zukunft postuliert: Rituale der Verbindung, Orte der Kontemplation zu konstruieren. Orte, die angesichts der Furien der Beschleunigung, der depressiven Individualisierung neuartige Verbindungen ermöglichen – physische, virtuelle, emotionale, politische. Die uns zu Zeit-Genossen machen.

Und irgendwie, so schien es mir jedenfalls, passte es sogar dazu, dass Heuschreckenhelfer und hehre Institution zu meinem kleinen utopischen Advents-Erlebnis zusammengewirkt haben. Denn das andere fällige politische Desiderat unseres Klimajahrhunderts sind unwahrscheinliche Arbeitsbündnisse von Eliten in riskanten Situationen. Etwa um die Zeit, als wir in München waren, saßen in London Al Gore, der Klimaforscher und Kanzlerberater Schellnhuber und Vertreter der acht größten Pensionsfonds – „5 Prozent des gesamten Weltsozialprodukts“ – in einem Raum zusammen und erkundeten die Möglichkeit klimafreundlicher Investitionen. Etwa um dieselbe Zeit begab sich in einem Kiez im Berliner Wedding zum fünften Mal die Aktion „Lebendiger Adventskalender“: 24 Tage lang öffnet sich in einem der Häuser eine Wohnungstür, zum Kaffeetrinken, Unterhalten, Singen oder Vorlesen. Alle sind eingeladen, wie unbekannt sie einander auch sein mochten. Rituale zu animieren, in denen Menschen leben und sich verbinden können, zum Überleben und zu Neuem – die Situationisten glaubten, das werde die letzte Aufgabe der Kunst sein.

Beim Rausgehen kreuzten wir noch einmal durch die Räume mit Beckmanns vergrübelten, schwül-schönen Apokalypsen und Erlösungstryptichen. Erbschaften aus dem vorigen Jahrhundert, kostbar und sehr weit weg; man kann sich davorstellen, und manch einem stößt dabei etwas zu. Aber plötzlich kamen sie mir noch kostbarer vor: die nüchternen, harmlosen, banalen Transzendenzen, in die wir uns selbst einstellen können. Mit dem Rücken zur Wand, nicht größer als wir sind, und mit dem Blick auf den Silberwald.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 14.12.2007, von Mathias Greffrath