09.04.2015

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Lob der Gewerkschaft

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Während sich alle Welt besorgt zeigt über die wachsende Ungleichheit, scheint niemand eine höchst aufschlussreiche IWF-Studie vom März 2015 bemerkt zu haben. Deren Ergebnisse sind allerdings unbequem. Zwei Ökonominnen aus dem Tempel des Neoliberalismus, Florence Jaumotte und Carolina Osorio Buitron, fanden „deutliche Hinweise, dass in den Industrieländern zwischen 1980 und 2010 ein niedrigerer gewerkschaftlicher Organisationsgrad mit einem Einkommenszuwachs bei den Topverdienern einherging“. Der Zusammenhang wird so erklärt: „Der verminderte Einfluss der Arbeitnehmer auf unternehmerische Entscheidungen“ durch die Schwächung der Gewerkschaften habe dazu geführt, dass „ein höherer Anteil der Unternehmenserträge in Managergehälter und die Renditen der Aktionäre fließt.“

Den IWF-Expertinnen zufolge resultiert etwa die Hälfte des Zuwachses an Ungleichheit – den die Neoliberalen gern unpersönlichen Faktoren wie Globalisierung und Technologien zuschreiben – aus dem Niedergang der Gewerkschaften. Kein Wunder: Wenn die Gewerkschaftsbewegung, lange Zeit Dreh- und Angelpunkt emanzipatorischen Fortschritts, verschwindet, ändert sich alles zum Schlechteren. Ihre Schwäche weckt zwangsläufig den Appetit der Kapitaleigner. Die Leerstelle besetzen die extreme Rechte und der religiöse Fundamentalismus, die beide zur Spaltung sozialer Gruppen beitragen, die eigentlich auf Solidarität angewiesen sind.

Das Schwinden der Gewerkschaften ist weder Zufall noch Schicksal. Im April 1947, der Westen stand am Anfang einer 30-jährigen Ära gleichmäßiger verteilten Wohlstands, gab Friedrich Hayek, ein prägender neoliberaler Vordenker des Jahrhunderts, die Marschrichtung für seine politischen Freunde vor: „Wenn Hoffnung auf Rückkehr zu einer freien Wirtschaft bestehen soll, muss die Frage, wie die Macht der Gewerkschaften eingeschränkt werden kann, eine der allerwichtigsten sein.“ Hayek stand damals noch allein, doch 50 Jahre später ist es mit der „Macht der Gewerkschaften“ tatsächlich vorbei – dank des direkten und brutalen Eingreifens seiner beiden Bewunderer Reagan und Thatcher in die entscheidenden Arbeitskämpfe der US-Fluglotsen 1981 und der britischen Bergarbeiter 1984/85.

Zwischen 1979 und 1999 ist in den USA die Zahl der Streiks mit mindestens 1 000 Arbeitern von 235 auf 17 gefallen und die Zahl der Streiktage von 20 Millionen auf 2 Millionen, schrieb das Wall Street Journal (am 4. 9. 2001). Und der Anteil der Löhne am Volkseinkommen schrumpft. Präsident Sarkozy hat 2007 das Streikrecht im öffentlichen Dienst per Gesetz eingeschränkt. Im Jahr darauf freute er sich wie ein Kind: „Wenn in Frankreich gestreikt wird, merkt das keiner mehr.“

Wenn es mit rechten Dingen zuginge, hätte die IWF-Studie zu dem Schluss kommen müssen, dass eine Stärkung der Gewerkschaften gesellschaftliche und politische Priorität haben sollte. Aber es heißt darin nur, es bleibe „zu ermitteln, ob die Zunahme der Ungleichheit infolge der Schwächung der Gewerkschaften gut oder schlecht für die Gesellschaft ist“. Diejenigen, die bereits eine Vorstellung von der Antwort haben, werden die passende Schlussfolgerung wohl mühelos ziehen.

Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 09.04.2015, von Serge Halimi