16.06.1995

Die Zerrissenheiten fremder eigener Sprachwelten

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Die Zerrissenheiten fremder eigener Sprachwelten

DIE politischen Debatten um die „fatwah“ gegen Salman Rushdie läßt hierzulande nur zu leicht in Vergessenheit geraten, daß der „Gotteslästerer“ in erster Linie ein überragender Schriftsteller ist. Er gehört zu jener neuen breiten Strömung innerhalb der englischsprachigen Literatur, die sich vor allem in Indien und unter indischen Emigranten im früheren britischen Empire entwickelt hat. Texte, die in vielfältigster Weise von der Zerrissenheit der im wilden Tohuwabohu des ausgehenden Jahrhunderts brodelnden Vorstellungswelten zeugen.

Von TIRTHANKAR CHANDA *

Als die Jurymitglieder des erzbritischen Booker Prize 1981 entschieden, die „Mitternachtskinder“1 des indischen Immigranten Salman Rushdie auszuzeichnen, konnten sie nicht ahnen, welch ungeheuer mitreißende und befreiende Wirkung dieser Roman auf die in modischer Nabelschau versunkene englische Literatur haben sollte. Die Kritiker meinten, dieser schwer zugängliche Roman, der in den barocken Abenteuern seines Helden die jüngere indische Geschichte widerspiegelt, würde bei den Lesern keinen Anklang finden. Weit gefehlt. Mit über zwei Millionen verkauften Exemplaren war dieses Buch ein eindeutiger Publikumserfolg. Darüber hinaus gilt es heute als eines der großen Werke des ausgehenden Jahrhunderts. Die „Mitternachtskinder“, die „die Grenzen des Romans erweitert und unsere Sicht der gewaltsam sich verändernden Welt verwandelt haben“2, haben es geschafft, einer neuen Schriftstellergeneration aus allen Ecken des ehemaligen Commonwealth den Weg zu ebnen.

Amit Chaudhury, Amitav Ghosh, Keri Hulme, Kazuo Ishuguro, Firdaus Kanga, Rohinton Mistry, Timothy Mo, Ben Okri, Michael Ondaatje, Caryl Philipps, Vikram Seth, Shashi Tharoor heißen die kosmopolitischen Autoren, die der englischen Literatur die innovativsten Werke der letzten Jahre beschert haben. Angeregt von der Virtuosität, mit der Salman Rushdie mit den Grenzen zwischen Traum und Realität, Mitte und Rand, Fiktion und Geschichte spielt, haben sie die Sprache Shakespeares und Virginia Woolfs im Sturm erobert, um Bombay und Oxford in ihr zu vereinen.

Daß es in den Reihen dieser neuen Schriftstellergeneration mehrheitlich Inder gibt, rührt daher, daß Salman Rushdie, der seinen Stoff aus der ergiebigen indopakistanischen Lebenswelt schöpft, mit seinem Triumph die englischsprachige Literatur Indiens ungeheuer aufgewertet und so etliche zum Schreiben Berufene ermutigt hat. Das Bürgertum, aus dem die meisten anglophonen indischen Schriftsteller stammen, ist stolz auf seine lange und reiche Tradition in Sachen Anglophonie.3 Zu Beginn der achtziger Jahre jedoch ging es mit der anglophonen Literatur abwärts, weil in ihr Achtzigjährige (Mulk Raj Anand, Raja Rao, R.K. Narayan), die nicht gerade auf der Höhe der indischen Modernität waren, den Ton angaben. Und dann kam Rushdie. Seine originelle Auffassung vom Roman als Instrument zur Subversion der offiziellen, chronologischen Geschichte, sein an Bildern, Wortspielen und Worterfindungen reicher Stil, dessen erklärtes Ziel es ist, die Sprache aus ihrem Ghetto zu befreien, zu entkolonisieren, und außerdem sein von der Lebensfreude der Vorstadtjugend Bombays gesättigter Humor haben dem indoenglischen Roman eine neue Vitalität eingehaucht.

„In den vergangenen zehn Jahren wurden mehr englischsprachige indische Romane veröffentlicht als in der ganzen Zeit zwischen 1930 und 1980“4, schreibt Meenakshi Mukherjee, Professor für Literatur an der Nehru-Universität in Neu-Delhi. Daß die indoenglischen Romanciers der achtziger Jahre in London, New York und Toronto gleichermaßen hoch geschätzt werden und daß die Zahl der Titel so enorm zugenommen hat, entspricht laut Mukherjee einem allgemeinen Phänomen innerhalb der indischen Gesellschaft, nämlich dem Aufstieg der Mittelklasse. Die Urbanisierung und die stetige wirtschaftliche Entwicklung, die seit einigen Jahrzehnten in Indien stattfinden, haben die Entstehung einer neuen Elite begünstigt. Diese in den berühmten English medium schools ausgebildete Schicht steht der englischen Empfindungswelt instinktiv näher als jener, die sich in den Landessprachen ausdrückt.

Die lesenden Yuppies aus Bombay und Delhi zum Beispiel waren es, die dem Roman „English, August“ des jungen Schriftstellers Upamanyu Chatterjee5 zu seinem unerwarteten Erfolg verhalfen. Seit seinem Erscheinen 1988 sind 15.000 Exemplare des Buchs verkauft worden, eine mehr als respektable Anzahl für einen Erstlingsroman. Chatterjee, ein respektloser Ikonoklast wie Rushdie, doch ohne den epischen Atem, der dessen Werk charakterisiert, erzählt in seinem Schelmenroman die Leiden des Agastya Sen, eines zum Umgang mit Korruption und Mittelmäßigkeit verurteilten jungen Beamten, die der unüberwindliche Horizont der indischen Bürokratie zu sein scheinen. Daß zahlreiche Leser sich mit diesem Antihelden identifizierten, liegt daran, daß er den passiven, aber realen Widerstand der Jugend gegen den Zynismus und die Gemeinheit verkörpert, die im heutigen Indien verbreitet sind.

Der Roman ist um so attraktiver, als er sich auf weit verbreitete Erfahrungen stützt, wie etwa die Abscheu vor der Häßlichkeit der Vorstädte („Sechs Uhr morgens. Wir fahren durch die Industriestädte am Rande von Delhi, deren Häßlichkeit nicht einmal das Morgenlicht zu mildern vermag.“) oder die Anfälle von Verzweiflung angesichts des Überhandnehmens der Routine („sich vollaufen lassen, sich einsam fühlen, sich einen runterholen“).

Ein unerschrockenes Sicheinlassen auf die indische – von Fragmentierung, Wurzellosigkeit und Verzweiflung geprägte – Modernität, von der die indoenglische Literatur sich weitgehend entfernt hatte, scheint das Vorhaben der meisten zeitgenössischen Autoren zu sein. Alles vermittelt den Eindruck, als wollten sie die Deterritorialisierung der Sprache durch eine Reterritorialisierung in der Vorstellung kompensieren.

Der sowohl in Indien als auch im Westen zunehmende Anklang täuscht über die Spannungen im Schreiben der jungen indoenglischen Schriftstellergeneration hinweg, das auf der Dichotomie von Ausdrucksform (englische Sprache) und Inhalt (indische Themen) beruht. Schon 1938 schrieb Raja Rao im Vorwort zu seinem Roman „Kanthapura“: „Es war nicht leicht, diese Geschichte zu schreiben, denn es kam darauf an, den uns eigenen Geist in eine Sprache zu übertragen, die nicht die unsere ist.“6 Nichts anderes antwortete kürzlich die junge Autorin Nina Sibal auf eine entsprechende Frage: „Für uns indische Schriftsteller ist es undenkbar, das englische Englisch zu reproduzieren. Wir schreiben in jener Sprache, die man im guten wie im schlechten Sinn indisches Englisch nennt. Sie unterscheidet sich vom Standard English nicht aufgrund ihrer Konformität bzw. Nichtkonformität mit den grammatikalischen Regeln, sondern in der Art und Weise, in der wir sie aktiv verändern, um alle Nuancen eines Denkens oder Sprechens zu erfassen, das sich ursprünglich meist in einer anderen Sprache artikuliert.“

Zu dieser inneren Spannung kommt noch die mit dem soziologischen Status des Englischen in Indien verbundene Spannung hinzu. Die Unabhängigkeit hat den Gebrauch des Englischen problematisch gemacht und seine Deterritorialität verschärft. Das führt zu den ewigen Debatten über die Vorzüge einer Beibehaltung der Sprache des Kolonisators als allgemein verbindende Sprache (link language), die die Anhänger des Englischen den Pro-Landessprachlern entgegenhalten, zumal die Zahl der Anglophonen im Lande von kaum fünf Millionen beim Abzug der Briten 1947 auf fast fünfzig Millionen zu Beginn der neunziger Jahre angewachsen ist.

Trotz der einseitigen Politik der Zentralregierung zugunsten der Landessprachen hat sich das Hindi (die Sprache der Mehrheit) auf nationaler Ebene nicht durchsetzen können, vermutlich weil das Englische mehr und mehr als ein Faktor zur Öffnung auf die westliche Welt angesehen wird, die aufgrund ihrer materiellen und technologischen Überlegenheit ein ungeheures Prestige genießt. Außerdem hat sich bei der komplexen linguistischen Situation Indiens, wo achtzehn größere Landessprachen und mehrere tausend Dialekte nebeneinander existieren – eine Koexistenz, die nicht immer reibungslos verlief –, die neue, auf den Werten Laizismus und Demokratie beruhende panindische Identität um das Englische herum kristallisiert. Schließlich haben die totalitären Gelüste der Regierung Indira Gandhi und das Anwachsen des hinduistischen Fundamentalismus dazu beigetragen, die Rolle des Englischen als Träger einer progressiven „Gegenkultur“ zu verstärken.7 So kam es, daß Ende der achtziger Jahre die indoenglische Literatur in eine neue Phase trat, die der Auseinandersetzung mit der indischen Modernität.

Bedrohliche Intoleranz

VIELE Romanciers halten diese Modernität für äußerst prekär und von Chaos und Intoleranz bedroht. Anita Desai, die sehr einfühlsam die Themen des schwierigen Zusammenlebens zwischen Hindus und Muslimen und der zunehmenden Marginalisierung der Urdu- Kultur behandelt hat, beschreibt in ihrem Roman „Im hellen Licht des Tages“8 die Gewalttätigkeiten, zu denen es 1947 bei der Landverteilung kam: „In jenem Sommer stand die Stadt in Flammen. Jede Nacht erhellten Feuer den Horizont jenseits der Stadtmauern. Der Himmel nahm beunruhigende Farben an, mit fröhlichen orange-roten Flammen. Mitunter erhob sich eine weiße Rauchsäule, die gerade und starr wie ein Obelisk in der Dunkelheit stand. Bim ging auf der Terrasse auf und ab und glaubte Detonationen, Schreie und Geheul zu hören...“ Schreckensbilder, die Bim nicht vergessen kann, da sie sie mit dem Auseinanderbrechen ihrer Familie verbindet.

Die Einbettung der individuellen Erfahrung in das kollektive Gedächtnis ist offensichtlich eines der gemeinsamen Themen dieser Romanciers: Es geht ihnen darum, die Welt von innen her neu zu schreiben. Das ist auch Salman Rushdies Ziel, wenn er Saleem Sinai, den Helden der „Mitternachtskinder“, am 15. August 1947, Schlag Mitternacht, zur Welt kommen läßt: „Genau in dem Augenblick, als Indien unabhängig wurde, bin ich in die Welt gepurzelt.“ Muß man sich da wundern, daß er „an die Geschichte gekettet ist“ und daß sein „Schicksal unauflöslich mit dem seines Landes verbunden ist“? In ihrem Roman „Yatra“9 hat Nina Sibal die gleiche Strategie gewählt und das Geburtsdatum ihrer Heldin auf den Jahrestag des Massakers von Jallianwalabagh gelegt. (Am 13. April 1949 ließ ein englischer General dort in die Menge schießen, und es gab mehrere hundert Tote.) In „Beethoven Among the Cows“10 von Rukun Advani, halb Bildungsroman, halb Gesellschaftssatire, sagt der Erzähler, nachdem er aus der Zeitung von der Erstürmung des Goldenen Tempels von Amritsar11 durch die Armee erfahren hat, zu seinem Bruder, sie müßten sich das Taj Mahal ansehen, bevor es zu spät sei. Aber erst die Zerstörung der Moschee von Ayodhya acht Jahre später, 1992, durch Hindu-Fundamentalisten12 wird die Brüder dazu bewegen, ihren Besuch nicht länger aufzuschieben, aus Angst, daß das Taj Mahal „ebenfalls für das Publikum geschlossen oder beschlagnahmt oder abgerissen“ werden könnte. Dieses Nebeneinanderstellen der ungleichzeitigen, aber ein und derselben Logik der Intoleranz folgenden Ereignisse in Amritsar und Ayodhya bestätigt das geheime strategische Einverständnis des Staates und der Fundamentalisten gegenüber den Minderheiten, die verzweifelt versuchen, an ihrem Anderssein festzuhalten.

Ein anderes brillantes Beispiel für einen Text, der sich mit der herrschenden Sicht auseinandersetzt, ist „The Great Indian Novel“ von Shashi Tharoor13. Er will beweisen, daß „Indien kein unterentwickeltes Land ist, sondern im Gegenteil eine hochentwickelte Nation im Zustand fortgeschrittener Dekadenz“. Diese Dekadenz zeigt sich am eklatantesten im politischen Leben. Daher hat der Autor den ehrgeizigen Versuch unternommen, die politische Entwicklung des Landes der vergangenen hundert Jahre durch das Prisma des „Mahabharata“ zu interpretieren. Dieses Urepos liefert ihm eine reiche und exemplarische Genealogie, die er sich zum Vorbild nimmt, um die gegenwärtigen und früheren Politiker darzustellen und ihre geheimen Triebkräfte bloßzulegen: diese speisen sich weit häufiger aus persönlichen Ambitionen, Größenwahn, Lust am Luxus und an der Macht als am Gemeinwohl der Nation. Unter allen Hauptakteuren des politischen Lebens, die mit ätzender Unverschämtheit fertiggemacht werden, ist Indira Gandhi die bevorzugte Zielscheibe wüstester Verwünschungen, dargestellt in der Figur der diabolischen, autoritären Priya Duryodhani.

Shashi Tharoor ist keineswegs der einzige, der mit Indira Gandhi eine Rechnung zu begleichen hat. In den „Mitternachtskindern“ ist sie „die Witwe mit dem nachtschwarzen Haar“, mit der grünen Haut und den „langen, spitzen, schwarzen“ Fingernägeln, die die Wände mit dem schwarzen Blut der Kinder beschmieren. Der Emigrant Rohinton Mistry macht sie in seinem Roman „So eine lange Reise“14 zur Symbolfigur des Bösen. Diese unverhoffte literarische Karriere der Tochter Nehrus entspricht der tiefen Verwirrung, in die sie der zynische Umgang mit der Macht in der Öffentlichkeit gestürzt hat. Insbesondere der Ausnahmezustand, den sie 1975 durchsetzte, hat sie zum schwarzen Schaf der freiheitlichen und demokratischen Intelligenzija gemacht. So gibt Salman Rushdie in „Heimatländer der Phantasie“15 die allgemeine Stimmung wieder, wenn er schreibt: „Die zahlreichen Übel, die das heutige Indien bedrängen – allen voran das Wiederaufleben des religiösen Extremismus – sind in jener Zeit der Diktatur und der staatlichen Gewalt entstanden.“

Man muß jedoch feststellen, daß die Kritik oder die „Gegenmythen“, die die Schriftsteller den totalitären Bestrebungen der „Witwen“ bzw. einer Priya Duryodhanis entgegensetzen, ebenfalls in Verzweiflung münden. Saleem Sinai zum Beispiel wird von der Menge mit Füßen getreten, „weil es das Privileg und der Fluch der Mitternachtskinder ist, zugleich Herr und Opfer ihrer Zeit zu sein“. Ebenso gewinnt im letzten Kapitel von „So eine lange Reise“ einmal mehr noch die Traurigkeit die Oberhand, gepaart mit dem schmerzlichen Bewußtsein, daß man in „einer Welt“ lebt, „in der die öffentlichen Aborte Tempel und Kultstätten geworden sind, während die wirklichen Tempel und Kultstätten dem Verfall und dem Staub preisgegeben sind“.

Wenn schon der politische Roman mit seiner Sicht der offiziellen Geschichte in einer Sackgasse endet, eignet sich dann vielleicht das Thema Emigration, das bei den exilierten Romanciers im Mittelpunkt steht, zu einer optimistischeren Betrachtung? Paradoxerweise ja, wenn man den Figuren von Amitav Ghosh glaubt, die das Exil als Befreiung erleben. Diese Einstellung wird illustriert durch die Auseinandersetzung, die der Erzähler in „Schattenlinien“16 mit seiner Cousine Ila vor der Tür des Grand Hotel in Kalkutta hat. Die junge Londonerin, die in Indien zu Besuch ist, kommt nur schwer mit der patriarchalischen Mentalität ihrer Verwandten zurecht. Angesichts des Verbots, zu tanzen, mit wem sie will, bricht es aus ihr heraus: „Verstehst du jetzt, warum ich mich entschieden habe, in London zu leben? Verstehst du es? Einzig und allein, weil ich frei sein will! (...) Frei von euch! Frei von eurer beschissenen Kultur und frei von euch allen.“

Auch die indoamerikanische Erzählerin Bharati Mukherjee fordert lautstark diese absolute Freiheit, ihr Schicksal selbst wählen und ihre Identität jederzeit und uneingeschränkt neu definieren zu können. Sie, die aus Bengalen und dem Punjab stammt und nach einem Zwischenaufenthalt in Kanada in die Vereinigten Staaten ging, ist mit ihrer Weltläufigkeit und ihrer kulturellen Mixtur eine typische Vertreterin der postkolonialen Welt. Die Flüchtlinge, Immigranten und sogenannten Uramerikaner, die sich in ihren Romanen und Erzählungen allenthalben begegnen, sind selbst Teil dessen, was sie als „Tohuwabohu im labilen Magma zwischen den Kontinenten“ beschreibt.17

Dieses Tohuwabohu ist nicht nur Bharati Mukherjees wesentlichste Quelle der Inspiration, sondern gleichzeitig die Quelle neuer, parzellierter, zerrissener, vielschichtiger Identitäten, wie jene Jasmine, die Heldin des gleichnamigen ersten Romans von Bharati Mukherjee. Jasmine, die wie die Autorin aus Punjab stammt, landet schnurstracks in Florida. Die ganze Kunst der Erzählerin zeigt sich dann in der Darstellung der aufeinanderfolgenden Metamorphosen – eine dramatischer als die andere –, über die Jyoti-Jasmine-Jane-Jazzy-Jase lernen wird, sich neu zu erfinden. Das gleiche Hinausschieben der Grenzen einer vorgegebenen Identität findet sich in ihrem zweiten Roman. Die Heldin in „The Holder of the World“ ist eine schöne Amerikanerin des 17. Jahrhunderts, deren Spuren die Verfasserin in indischen Miniaturen nachgegangen ist.18 Das bewegte Leben Hannah Eastons, die zwischen ihrem heimatlichen Massachusetts und der Koromandelküste in Südindien hin- und herreist, ehe sie am gestrengen Hofe des Moguls Aurangzeb zu sich findet, ist die Folie, auf der die Autorin eine multikulturelle Erfahrung avant la lettre imaginiert.

Wie Bharati Mukherjee preist Salman Rushdie die Pluralität, eine intrakulturelle Gemeinschaft der Menschen. „The Courter“, die ausgereifteste Geschichte in seinem neuesten Erzählungsband „East & West“, schildert die bewegende Liebesgeschichte zwischen einem osteuropäischen Portier und einer indischen Gouvernante. Während Mary einige Wörter Englisch radebrechen kann, hat Mécir wegen seines starken Akzents Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen. Um seine sprachliche Unfähigkeit wettzumachen, führt Mécir Mary in die Regeln des Schachspiels ein, das diese im Nu beherrscht. Darauf entsteht zwischen den beiden ein seltsamer Einklang der Gefühle, unterbrochen von Schachpartien, die als regelrechte körperliche Vereinigungen erlebt werden!

Die Avisheks, Eshas, Shehnazs oder Mandiras aus den Büchern von Sunetra Gupta19 und Amit Chaudhuri20 scheinen ihr Migrantenschicksal etwas zurückhaltender zu beurteilen und diese etwas romantische Sicht von der Liebesverschmelzung des Orients und des Okzidents nicht zu teilen. Tod oder Trennung erweisen sich als die einzigen Metamorphosen, nach denen sie streben können. Jede der Geschichten in dem Band „Swimming Lessons and other Stories from Firozsha Bagh“ des Indokanadiers Rohinton Mistry verbreiten die immer gleiche Verzweiflung, die immer gleiche Sehnsucht nach dem Herkunftsland: „Und je weiter sie sich entfernen werden, um so mehr werden sie sich erinnern“, sagt der Erzähler in der Titelgeschichte „Swimming Lessons“. „Das kann ich ihnen versichern.“

Das Gefühl von Verzweiflung kommt wohl nirgends so stark zum Ausdruck wie in der feministischen Prosa, die dank innovativer Talente ungeheuer vital ist. Auch wenn Shashi Deshpande, Githa Hariharan, Jacqueline Singh oder Shama Futehally 21, um nur die bekanntesten zu nennen, von einer patriarchalischen Gesellschaft unterdrückte und gedemütigte Frauen darstellen, verstehen sie sich nicht ausschließlich als feminististische Autorinnen.

„Ich sehe die Menschheit als Individuen“, schreibt Jacqueline Singh, die sich nicht auf eine vereinfachende Dichotomie Mann/Frau zurückziehen will. Githa Hariharan, die mit „The Thousand Faces of the Night“ und mit ihrem Erzählungsband über physische und geistige Todesarten große Beachtung fand, lehnt es ab, als Wortführerin der indischen Frauen angesehen zu werden. „Das Bild von der stets opferbereiten indischen Frau ist ein Mythos“, sagt sie.

Dennoch bleiben das Schweigen, das die Gesellschaft den Frauen von frühester Kindheit an auferlegt, der Druck der Tradition und das ständige Zerrissensein zwischen gesellschaftlicher Rolle und Lebenstrieben die wichtigsten thematischen Schwerpunkte in den von Frauen veröffentlichten Romanen der letzten Jahre. Das Motiv des Schweigens, das dem sehr schönen Roman von Shashi Deshpande, „That Long Silence“, den Titel gab, ist die vielsagendste Metapher für das Frausein. Wenn sie sich aus diesem Schweigen befreien, wird es den Inderinnen gelingen, ihr Leben in die Hand zu nehmen.

Wie könnte dieser Überblick über die Tendenzen der zeitgenössischen indoenglischen Literatur anders enden als mit einem Hinweis auf Vikram Seth, dessen enorme Begabung und Virtuosität ihn zu einer Ausnahmeerscheinung machen? Seth, dessen über 1.200 Seiten langes Hauptwerk „A Suitable Boy“22 1993 erschien, war schon mit mehreren Lyrikbänden aufgefallen, insbesondere mit „The Golden Gate“, einem erzählenden Poem in Versen, genauer gesagt: in tetrametrischen Sonetten à la Puschkin! Sein im realistischen Erzählstil des 19. Jahrhunderts geschriebener Roman, dessen epischer Atem von der angelsächsischen Kritik gelobt wurde, „ist eine Auseinandersetzung mit der Liebe und der Ehe im postkolonialen Indien der fünfziger Jahre“, schreibt die Spezialistin für indische Literatur, Geetha Ganapathy.23

Im Mittelpunkt dieser breit angelegten Familiensaga steht die Suche nach „einem geeigneten Jungen“ für Lata, die Zentralfigur des Romans. Doch sehr schnell erweitert sich diese Suche nach einem individuellen Glück zu einer ausgedehnteren Suche, nämlich der nach einer „geeigneten“ Nation, verkörpert in der beschützenden Vaterfigur Nehru. Daß Vikram Seth seine Geschichte in der Realität der 50er Jahre, der Jahre des obsiegenden Säkularismus, angesiedelt hat, ist wahrscheinlich kein Zufall.

Mit diesem hochpolitischen Hintergrund schließt „A Suitable Boy“ an die „Mitternachtskinder“ an, denen es zu Unrecht entgegengestellt wurde. Hinter Salman Rushdies magischem Realismus und dem realistischen Realismus eines Vikram Seth steht das gleiche Anliegen, die Realität zu problematisieren, ein Anliegen, das das wesentliche Charakteristikum der zeitgenössischen anglophonen indischen Schriftsteller ist, deren Verdienst darin besteht, eine Kolonialsprache zum vermittelnden Ort der „landessprachlichen“ Auseinandersetzungen gemacht zu haben.

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Tirthankar Chanda