13.10.1995

Mit den "Leoparden" auf der Suche nach Kokaküchen

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Mit den "Leoparden" auf der Suche nach Kokaküchen

MIT Regelmäßigkeit und notorisch gutem Gewissen machen die westlichen Regierungen gegen die Drogenhändler mobil. Sie fordern von den Erzeugerländern eine harte Haltung gegenüber den Koka-Bauern. Aber wie sieht die aus? Die Behörden in Bolivien zum Beispiel haben sich – auf Druck der US-Regierung – vorgenommen, alle Koka-Plantagen zu zerstören. Bei den Betroffenen handelt es sich jedoch meist um ehemalige Bergarbeiter, die im Zuge der – von IWF diktierten – Strukturveränderungen aus den Zinnminen vertrieben worden waren. Der Koka-Anbau sichert ihnen das Überleben. Sie erzeugen kein Kokain und handeln nicht damit. Und sie haben keine rentable Alternative für den Anbau. Derweil scheffeln die Drogenhändler und ihre Komplizen ungehindert ihre Millionen.

Von unserem Sonderkorrespondenten MAURICE LEMOINE *

Zwischen Cochabamba und Villa Tunari, der bedeutendsten Stadt der Region Chapare, liegen 156 Kilometer. Und eine ungeheure Gebirgsmasse. 1940 wurde der Bau einer Verbindungsstraße begonnen. Fünfzig Jahre danach bemüht sich eine brasilianische Baugesellschaft unter dem Höllenlärm schwerer Maschinen, die für Stunden jeden Verkehr lahmlegen, um die Fertigstellung.

Chimoré mit seinen ungeteerten, im Dreieck angelegten Straßen hat mehr von einem Flüchtlingslager als von einem Urwaldparadies. In der einzigen „anständigen“ Bar des Ortes langweilt sich würdevoll ein grauhaariger Herr. Der Mann ist Beamter der Drug Enforcement Administration (DEA)1. Er spricht perfekt Spanisch. „Mit einem ganz leichten argentinischen Akzent“, präzisiert die Bedienung, nachdem er gegangen ist. Fünf Gringos halten sich in der Kaserne der Mobilen Einheiten der Landpatrouillen (Umopar)2 auf, die man am Ortsausgang errichtet hat: drei Funktionäre der DEA und zwei US- amerikanische Berater der Spezialeinheiten für die Drogenbekämpfung (FELCN).

Vor den zwei oder drei cantinas, die nach allen Himmelsrichtungen offen und mit Fernseher ausgestattet sind, stehen an die dreißig Leute im Staub und starren auf die Mattscheibe. Zwischen einem amerikanischen Film (spanisch untertitelt) und einem Fußballspiel (von lauten Rufen untermalt) brandmarkt zum zwanzigsten Mal an diesem Tage ein Fernsehspot der Regierung die „fünfundzwanzigtausend Familien der Tropenregion, die mehr als sechs Millionen Einwohnern Schaden zufügen“. Niemand gibt einen Kommentar. Jeder weiß, um was es geht.

Am Anfang (der allerdings nicht mehr so genau auszumachen ist) waren die Anden und die Indianer. Sie beackterten den unglückseligen Boden und überlebten in unablässigem acullicu3, damals wie heute. „Koka hat viele Vitamine“, äußert sich ein Aymara, „man saugt den Saft heraus, das bewahrt uns vor Müdigkeit, Kälte und Hunger. Dank Koka leben wir hundert Jahre und mehr.“ Der Indianer übertreibt etwas: Die Lebenserwartung eines bolivianischen Bauern liegt bei 51 Jahren in etwa ... Ansonsten hat er recht.

1953 ist das Jahr der Agrarreform. Die Bauern bekommen Land auf dem Altiplano zugewiesen. Aber nicht genug, um ihre Familien ernähren zu können. Also beginnen sie, in die waldreichen Niederungen des Amazonasbeckens abzuwandern. Als dann später, in den achtziger Jahren, die weltweite Nachfrage nach Kokain – und also der Preis für die Koka-Pflanzen – förmlich explodiert, kommt es unter anderem dadurch zu einem Ansturm von Siedlern; weitere Auslöser sind die anhaltenden Trockenperioden im Hochland und der Zusammenbruch der Bergbauindustrie: Als 1985 mit der „wirtschaftlichen Öffnung“ des Landes die Schließung der Zinnminen erfolgt, werden 23000 der 27000 Bergarbeiter auf die Straße gesetzt. Zu Tausenden verlassen sie die Hochlagen der Anden.

Hitze, sintflutartige Regenfälle, Angst vor dieser neuen, unbekannten Umgebung, mühevolle Rodungsarbeiten, chronischer Durchfall und Heimweh nach dem Hochland – trotz allem kommen sie durch. Wie in den anderen landwirtschaftlichen Gebieten Boliviens schließen sie sich zu Gewerkschaften und selbstverwalteten Kommunen zusammen. Ein oder zwei Hektar pro Familie, ein Drittel der Fläche für die eigene Versorgung, zwei Drittel für Koka. Ihnen bleibt keine Wahl. Sie sind arm, hierfür finden sich Abnehmer, und die Drogenhändler haben ein funktionierendes Netz aufgebaut. Einige Jahre später sind Dächer aus Zeltleinwand schon keine Seltenheit mehr. Die besonders glücklichen kaufen einen Lastwagen. Das große Geld haben sie mit dem Koka nicht gemacht. Dafür macht es sie heute zu Geächteten.

Punkt vierzehn Uhr verläßt die Patrouille von Leutnant Marco Ensinas im Toyota-Lieferwagen die Kaserne von Chimoré. Kurz darauf durchquert sie Chinahota, ein tropisches Nest, wo noch vor fünfzehn Jahren Kokain wie Zucker oder Mehl auf dem Markt verkauft wurde. Das war während der Diktatur von General Luis Garcia Meza.4 Die USA waren damals noch nicht so kleinlich wie heute. In Huanchaca etwa diente ein vom CIA kontrolliertes Drogenlabor zur Finanzierung geheimer Operationen – denen der „Contras“ in Nicaragua zum Beispiel.5

Eine ganze Weile später hält der Lieferwagen vor einem fast unkenntlichen Pfad. Ihre Schnellfeuergewehre im Anschlag, arbeiten sich die „Leoparden“, wie die Umopar-Einheiten ihrer Tarnuniform wegen genannt werden, ins Unterholz vor. Vor einer baufälligen Hütte fragen sie eine Frau höflich nach der Beschaffenheit des Geländes. Sie bleibt vage, blickt scheu um sich.

Seit der Wahl von Gonzalo Sánchez de Lozada zum Präsidenten im Juni 1993 zielt die sogenannte Nulloption auf eine Unterbindung der „überschüssigen“ Koka-Produktion, jener Produktion, die nicht für den Eigenbedarf, sondern für den Markt bestimmt ist. Trotz eines langen Marsches für Leben, Koka und Menschenwürde, der im September 1994 dreitausend Bauern bis nach La Paz führte, trotz einer landesweiten Debatte, „in der gesagt wurde, daß es sich hier in erster Linie um ein wirtschaftliches Problem handelte und daß eine andere Strategie eingeschlagen werden müßte“6, dauert die unerbittliche Repression an.

Es ist wahr, der Druck auf die politische Führung des Landes ist enorm. Der in La Paz allmächtigen US-Botschaft zufolge soll die Anbaufläche von 45000 Hektar im Januar 1992 auf gegenwärtig 48000 Hektar ausgeweitet worden sein (der gesetzliche Rahmen für die traditionelle Nutzung, für die hauptsächlich in der Region Yungas produziert wird, ist auf 12000 Hektar festgelegt worden). Die „überschüssige Produktion“, heißt es, würde die Herstellung von 93 Tonnen Kokain-Chlorhydrat ermöglichen.

Am 8. März 1995 stellt Washington ein Ultimatum: Entweder Bolivien sorgt bis Ende Juni für die Vernichtung von 1750 Hektar, stellt einen entsprechenden kurz-, mittel- und langfristigen Plan auf die Beine und paraphiert einen erneuten Auslieferungsvertrag, oder es riskiert die „Decertificación“ [ein Begriff, der den Vertrauensentzug der USA in puncto Drogenbekämpfung umschreibt. Anm. des Übers.]. Im Klartext würde das bedeuten: Internationale Wirtschaftsblockade seitens der Weltbank, des IWF, der Interamerikanischen Bank für Entwicklung, des Club de Paris, alles Organisationen, in denen die USA praktisch über ein Vetorecht verfügen. Die Regierung von Sánchez de Lozada setzt einen kurzfristigen Vernichtungsplan in Gang. Als Antwort darauf besetzen mehr als 850 bäuerliche Selbstverteidigungskomitees die Zufahrtswege zu den Koka-Anbaugebieten, um sich den Militäraktionen zu widersetzen.

Die Patrouille entdeckt in einer Waldlichtung eine Koka-Pflanzung, die von Bauern bestellt wird. „Wem gehört dieses Feld?“ fragt der Offizier. „Man weiß es nicht, ein fremder Herr bezahlt uns für die Arbeit.“ Ob legal oder illegal, „überschüssig“ oder nicht, darüber ist weiter nichts herauszubekommen. Der Offizier verzieht keine Miene, er insistiert nicht. Für den Moment besteht seine Aufgabe darin, nach „Kokainküchen“ zu suchen. „Man findet alle Tage welche“, versichert er. In ihnen erfolgt die erste Phase der Aufbereitung – die Blätter werden mit Kerosin oder anderen Stoffen versetzt –, um die sogenannte Paste zu gewinnen. In letzter Zeit haben einige cocaleros (wie die Bauern genannt werden) zusätzlich zum Anbau auch mit der Aufbereitung von Koka begonnen.

„Wir haben in den vergangenen sechs Monaten mehr als 1450 solcher Küchen zerstört“, versichert uns Oberstleutnant Luis Caballero, Kommandant der Umopar-Basis in Chimoré. „Wir schätzen ihre Zahl im gesamten Chapare auf sieben- bis zehntausend.“ Niemand kann diese Zahlen überprüfen; gleichwohl durften sie dazu herhalten, die Region als ein „geheimes Laboratorium von gigantischen Ausmaßen“ darzustellen und ihre bäuerliche Bevölkerung pauschal als Drogenhändler einzustufen.

Tausend Wege, die „Paste“ außer Landes zu schaffen

DIE Patrouille überquert einen Flußlauf, die Männer balancieren auf einem übers Flußbett geworfenen Baumstamm. Ein Pfad, zwei Abzugskanäle, drei Wildfährten tauchen auf und verlieren sich bald in der Vegetation. Der Leutnant zögert, schlägt auf gut Glück eine Richtung ein. Es ist lächerlich. Erbärmlich. Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

Drei Bauern in abgerissener Kleidung kommen des Weges; die Angst vor den Tarnuniformen ist ihnen anzusehen. Der Leutnant spricht sie an. Sie stammeln ein paar hastige Worte und machen sich eilig aus dem Staub. „Sie kennen den Urwald wie ihre Westentasche“, erläutert der Offizier, „bewegen sich in ihm wie die Fische im Wasser. Und halten zusammen. Sobald sie uns sehen, werden sie stumm.“

Bis vor kurzem wurde die „Paste“ auf dem Luftweg außer Landes geschafft – in Mengen von jeweils bis zu 500 Kilo. In

den letzten Monaten ist dies wegen der permanenten Luftüberwachung durch Hubschrauber vom Typ Huey UH1H und Pilatus-Flugzeuge PC-7 praktisch unmöglich geworden. „Aber es gibt tausend Wege, das Zeug über die Grenze zu bringen. Und viele Leute sind daran beteiligt, auf zahlreichen Verbindungswegen, bis hin zu den Umschlagplätzen“ –, nach Norden in den Verwaltungsbezirk Beni und von dort nach Kolumbien, in östlicher Richtung nach Brasilien. Was die zur Aufbereitung benötigten Stoffe betrifft: Es gibt 2500 Kilometer gemeinsamer Grenze mit Brasilien, und die Türen zu Argentinien und Paraguay stehen weit geöffnet ...

Bei Einbruch der Nacht knistert es im Funkgerät von Leutnant Marco Ensinas. Der andere Teil der Patrouille hat ebenfalls nichts gefunden. Er befiehlt den Rückzug. „Wir machen morgen weiter. Und übermorgen. Wie alle Tage. Bis wann? Ich weiß es nicht.“

Die „Koka-Diplomatie“, wie sie von der vorherigen Regierung unter Jaime Paz Zamora (1989-1993) praktiziert worden war, hatte das Verdienst, das Problem der Substitution und der Entwicklung alternativer agrarischer Produkte vor die internationale Gemeinschaft gebracht zu haben. Zwar gehorchte das 1988 ratifizierte „Gesetz 1008“ ebenfalls einer im Grunde repressiven Strategie7, insofern es die Vernichtung von jährlich mindestens 5000 Hektar vorsah, doch ist in den Artikeln 21 und 22 dieses Gesetzes immerhin noch von einem Prinzip der angepaßten Entwicklung die Rede.

Die „Nulloption“ dagegen wälzt den ganzen Druck auf die Bauern ab, stellt sie Verbrechern gleich. „Ich bin überhaupt noch nie“, so Gregorio Lanza, „einem berufstätigen, gut bezahlten Arbeiter begegnet, der sich auf den Drogenhandel eingelassen hätte. Die das tun, haben keine andere Wahl. Hätten sie sie, würden sie die Finger davon lassen.“

Strategien, die nicht greifen. Die Vorstellung, der Koka-Anbau werde einzig und allein wirtschaftlicher Rentabilität halber betrieben, ist absurd. „Da hat man nun“, erklärt Roberto Lacerna8, „große Anstrengungen unternommen, anstatt die Drogenhändler zu fangen lieber den Preis für Koka zu drücken, damit die ,Dealer‘ sich zurückziehen sollten und die Bauern an niemanden mehr verkaufen könnten.“ Die cocaleros hat man damit nicht entmutigt; sie sahen sich nur gezwungen, zur Sicherung ihrer Einkommen mehr zu produzieren. Verbohrtheit ihrerseits? So einfach ist es nicht ...

Als die von Washington in die Enge getriebene Regierung Sánchez de Lozada im vergangenen März ankündigte, daß bis zum 30. Juni 1750 Hektar „überschüssigen“ Kokas ausgerodet werden müßten, nahmen die Sprecher der cocaleros die Herausforderung an – „als Beitrag des bolivianischen Volkes zur Abwendung wirtschaflicher Sanktionen“. Im Gegenzug forderten sie allerdings – mit Erfolg – die Freilassung ihrer Anführer, die kraft Ausnahmezustand inhaftiert worden waren. Kaum sind diese Felder vernichtet, erfahren sie von der Existenz eines Forderungskatalogs der USA, der für die nächsten sechs Jahre das Verschwinden von diesmal 34000 Hektar vorsieht. Und die bolivianische Regierung, die den Hals nicht aus der Schlinge bekommt, kündigt einen nationalen Plan zur Vernichtung von 3600 Hektar bis Ende Dezember 1995 an – und das wenige Stunden vor dem Eintreffen US-amerikanischer Militärberater.

Zorn und Gereiztheit nehmen zu. Die Organisationen der cocaleros kündigen an, daß sie keinen einzigen Kokastrauch mehr ausreißen würden, solange nicht die Regierung die versprochenen Entwicklungsprogramme eingelöst hat.

Gegenwärtig bietet man in den „Übergangsgebieten“ zwischen 2000 und 2500 Dollar pro vernichtetem Hektar. Diese Summe ist geringer als der Ertrag aus einem Hektar Koka innerhalb von nur einem Jahr! Im übrigen ist die Umstellung von Koka auf andere Kulturpflanzen abhängig von ... Koka. Um in andere Agrarerzeugnisse investieren und die erste Ernte abwarten zu können, brauchen die Bauern Geld, das ihnen niemand gibt: „Das bedeutet doch, daß Programme geschaffen werden müssen, alternative Landbauprogramme, die sich nicht auf Ausrodungen beschränken können“, folgert Roberto Lacerna. „Kein Bauer wird alles auf eine Karte setzen, es bedarf einer Politik, die ihn schrittweise aus seiner Abhängigkeit vom Koka-Anbau befreit.“

Wie soll man arme Bauern dazu bewegen, tropische Produkte anzubauen, wo die dafür gezahlten Preise eine Beleidigung und das Fehlen jeglicher Infrastruktur eklatant ist? „Es gibt keinen Markt für alternative Produkte“, erzählt ein Bauer, der die 2000 Dollar erhalten und Kredite aufgenommen hat: „Ich kann meine Schulden nicht mehr bezahlen und bin drauf und dran, mein Land zu verlieren!“

Seltsame Naturschützer in Tarnuniform

SICHER lassen sich interessante Erfahrungen und örtliche Erfolge verbuchen, doch bleiben das Einzelerscheinungen. In den vergangenen zehn Jahren hat Bolivien kaum 230 Millionen Dollar für die Umstellung von Koka auf andere Produkte ausgegeben. Zieht man davon die Kosten für den Verwaltungsaufwand und ein ganzes Heer von Fachleuten ab, so bleiben noch etwa 140 Millionen, aufs Jahr gerechnet 14 Millionen übrig. „Um einen Wirtschaftsbereich zu ersetzen, der jährlich 500 Millionen Dollar abwirft!“ empört sich Gregorio Lanza. „Das ist fast nichts, das kann nicht funktionieren.“

Einige Tage zuvor hatte Victor Rico, Staatssekretär für äußere Angelegenheiten, wissen lassen: „Wir anerkennen, daß der bolivianische Staat im Kampf gegen den Drogenhandel große Anstrengungen zu unternehmen hat. Aber einen wirtschaftlich schwachen Staat, wie den unseren, mit katastrophalen, über viele Jahre hinweg angewachsenen sozialen Problemen in dieser Sache allein zu lassen, bedeutet soviel, wie ihn ans Messer zu liefern.“

Die Stimmung ist kurz vor dem Siedepunkt, jeden Augenblick ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. In Cochabamba kursieren Gerüchte hinter vorgehaltener Hand. Die Bauern hätten beschlossen, morgen den Posten der Umopar von Aromá „anzugreifen und einzunehmen“. Im pulverfeinen Staub des Nationalparks Isidoro-Sécure wäre das der zündende Funken.

Der Park mit seinen eineinhalb Millionen Hektar ist ein Kuriosum; er wurde 1965 eingerichtet, weil man sich für die seitens der Verwaltungsbezirke Beni und Cochabamba an der Region Chapare erhobenen Ansprüche auf keine Lösung einigen konnte. Seitdem haben sich etwa 3500 Familien (18000 Siedler) hier niedergelassen, die ersten vor fünfzehn Jahren. „Dieses Gebiet ist nicht zur Besiedelung freigegeben“, sagt Innenminister Carlos Sánchez Berzain. „Die Menschen halten sich illegal dort auf. Selbst wenn sie Ananas pflanzen würden, wäre das illegal.“ Doch während sich die Regierung mit dem „Schutz der natürlichen Umwelt“ ein ökologisches Mäntelchen umhängt, haben sich Viehzüchter und Forstbeamte längst Zehntausende Hektar unter den Nagel gerissen, nehmen Ölkonzerne in aller Öffentlichkeit Probebohrungen vor.9

Am 11. Juli 1995 dringen Einheiten der Umopar und der Naturschutzpolizei in den Nationalpark vor, um mutmaßliche neue Koka-Pflanzungen mit Gewalt zu zerstören. Die in geheimen Verbänden organisierten cocaleros (nach wie vor herrscht der Ausnahmezustand) haben beschlossen, sich gegen diese Zerstörung, für die sie niemand entschädigt, zur Wehr zu setzen. Am 14. Juli werden mehr als hundert Bauern und deren Anführer verhaftet. Es kommt zu offenen Konfrontationen. Die cocaleros blockieren die Straßen, die Einheiten der Umopar lassen sie von der Zivilbevölkerung wieder freiräumen, ohne dabei übertrieben behutsam vorzugehen. Ein von anonymer Hand geworfener Sprengsatz verursacht unter den durcheinander stehenden Bauern und Polizisten 21 Verletzte.

Ganz im Westen – eine schotterbedeckte Straße. Ab Chipiriri erhebt sich eine einzige Litanei hilfloser Wut. „Da kommt so ein Gringo von der DEA, zusammen mit den ,Leoparden‘. Sie dringen in die Häuser ein, treiben uns mit ihren Gewehrkolben nach draußen. Sie zwingen die Kinder, diejenigen zu verraten, die die Straßen verbarrikadiert haben.“ Isinuta, letztes Dorf vor dem Nationalpark. „Was uns diese Regierung antut, ist schlimmer als unter Garcia Meza! Täglich kommt die Umopar mit zehn Lastern hier durch. Ich arbeite als Fahrer; mir haben sie mit Bajonetten die Reifen zerstochen. Sechs unserer Lastwagen haben sie demoliert. Wir werden von allen Seiten angegriffen.“ Die Telefonverbindung nach Cochabamba ist aus unerfindlichen Gründen unterbrochen.

Eine Straße in erbärmlichem Zustand, und nicht minder erbärmliche Dörfer. Verzweifelte Männer, weinende Frauen. „In Bolivares läuft seit zehn Tagen die gewaltsame Ausrodung. Die Leute stehen vor dem Nichts.“ Folgt die ganze Litanei polizeilicher Willkür und Gewalt.

Ein kleines Camp ... Erdöl. Die Mannschaft der Umopar in dem gottverlassenen Nest Aromá weiß noch nicht, was sich über ihren Köpfen zusammenbraut, doch herrscht eine gespannte Atmosphäre. Noch ein Stück Straße und dann eine Patrouille der Naturschutzpolizei, die mit der Ausrodung von almacigos10 beschäftigt ist. Eine seltsame Spezies von Naturschützern, mit Tarnuniform und Schnellfeuergewehr ausgerüstet! Ein höflicher Offizier hält ein Kurzreferat über Drogenhandel. Frage: „Wie sollten die Bauern denn etwas anderes anbauen und exportieren, bei diesen Straßenverhältnissen?“ Antwort: „Die Leute sagen, es gebe keine Straßen, aber die Ausfuhr von Koka bereitet ihnen keine Probleme. Im übrigen würden ausgebaute Straßen nur noch mehr Siedler anlocken. Die würden kommen und hier das Land bewirtschaften ... mit Koka natürlich.“ Der Fall scheint endgültig und zuungunsten der Bauern entschieden. Und überhaupt, man befindet sich schließlich in einem Nationalpark. „Sie zerstören den Wald, vergiften die Flüsse, benutzen außerdem Sprengstoff.“ Aber auch die Ölgesellschaften verzichten keineswegs auf den Einsatz von Sprengstoff. „Schon, aber die haben eine Genehmigung. Und sie sind nicht ... gegen die Regierung!“

In Icoya blockieren Baumstämme die Straße; eine letzte noch intakte Barrikade. Eine Menschenmenge hat sich versammelt. Harte, undurchdringliche, verwitterte Gesichter indianischer Bauern. Einige tragen noch ihre alten Bergarbeiterhelme. Ihre Absicht steht fest. In einer Stunde setzt sich der Zug zum Angriff auf den Posten der Umopar in Bewegung. Sie tragen Macheten, Pfeil und Bogen, Knüppel. Auf der Gegenseite warten Schnellfeuergewehre. Es wird beratschlagt. Abgesandte aus Cochabamba sind eingetroffen und rufen zur Mäßigung auf: „Ihr lauft ins offene Messer ... Darauf hat die Regierung doch nur gewartet. Dann kann sie euch als Drogenterroristen diffamieren.“

Trotz der Verbitterung siegt an diesem Tage die Vernunft. Die zweitausend Bauern begnügen sich damit, nach Aromá zu ziehen und dort friedlich zu demonstrieren. Unerwartete Showeinlage: Weil sie über Funk von der Sache Wind bekommen haben, kommen General Simón Sejas, Kommandant der FELCN, und Victor-Hugo Canelas, Staatssekretär für innere Sicherheit, mit dem Hubschrauber zu einem spontanen Treffen angeflogen. Ein Gespräch wie unter Schwerhörigen. Die einen werden nicht müde zu versichern: „Befugnisse wurden nicht überschritten, wir halten uns nur an die Vorschriften.“ Die anderen fordern das Ende der „gewaltsamen Ausrodung“, die Freilassung ihrer inhaftierten Anführer und ernstzunehmende Verhandlungen.

Gegen Abend kehrt allmählich wieder Ruhe ein im Nationalpark Isidoro-Sécure. Aber für wie lange noch? „1985 hat man uns aus den Minen vertrieben“, klagt ein cocalero. „Da oben gebe es kein Land für uns. Um nicht zu betteln, haben wir von der Regierung Arbeit verlangt. Man hat uns rausgeworfen. Wir sind in diese Gegend gekommen, um unsere Familien ernähren zu können. Jetzt will man uns schon wieder fortschicken. Wo sollen wir hingehen? Wir gehen nicht weg. Wenn sie uns hier rausholen, dann nur unsere Leichen.“

dt. Christian Hansen

1 US-Behörde für die Bekämpfung des Drogenhandels.

2 Die paramilitärischen Polizeiverbände der Umopar sind den FELCN (Spezialeinheiten zur Bekämpfung des Drogenhandels) unterstellt, die ihrerseits von der DEA „beraten“ werden.

3 Kauen von Koka-Blättern.

4 17. Juli 1980 bis 5. Oktober 1982.

5 Vgl. Bernard Cassen, „Pleins feux sur la guerre ,secrète‘ des États-Unis“; Pierre Abramovici, „Des millions de dollars pour les ,combattants de la liberté‘“; und Ignacio Ramonet, „La longue guerre occulte contre le Nicaragua“. In dieser Reihenfolge erschienen in Le Monde diplomatique, Dezember 1985, April 1986 und Februar 1987.

6 Gregorio Lanza, ehemaliges Mitglied des Parlaments und der Kommission zur Bekämpfung des Drogenhandels, verantwortlich für den sozio-ökonomischen Bereich der Aktion Andenland.

7 Repressiv und gefährlich: während nach Artikel 16 der Verfassung jemand so lange für unschuldig gilt, wie seine Schuld nicht erwiesen ist, erlaubt das „Gesetz 1008“ in Artikel 95 die Inhaftierung von „mutmaßlich Schuldigen“.

8 Direktor des Centro de estudios sobre la realidad económica y social (Ceres) in La Paz.

9 Der spanische Repsol-Konzern in Verbindung mit der australischen BHP, der US-amerikanischen Maxus und dem französischen Elf-Konzern.

10 Junge Koka-Pflanzen.

11 Ende Juli 1995 werden sie freigelassen.

* Journalist und Schriftsteller; u.a. Autor von „Amérique latino-indienne“, Paris (Syros Alternatives) 1993.

Le Monde diplomatique vom 13.10.1995, von Maurice Lemoine