13.10.1995

... ob sie wissen, was Frieden ist

zurück

... ob sie wissen, was Frieden ist

ANGOLA, eine zerrüttete Nation, die eben erst einen der längsten und blutigsten Kriege des Kontinents hinter sich hat, steht vor der schier unmöglich scheinenden Aufgabe des Wiederaufbaus. Doch noch zögert das Land, diesen Schritt zu tun. In den Führungsschichten des Landes fehlen mehrere Generationen, in der Folge des Konflikts ist das gesellschaftliche Regelsystem zusammengebrochen. Die Unita hat nach ihrer Wahlniederlage von 1992 ihre Strategie des Zermürbungskrieges fortgesetzt. Der Zerfall des Landes schreitet voran.

Von unserer Sonderkorrespondentin VICTORIA BRITTAIN *

Angola steht vor dem Zusammenbruch: eine beispiellose soziale Krise, eine orientierungslose politische Führung, ein Staat am Rande des Bankrotts. Vor den Wahlen 1992 drohte ein Führer der Union für die völlige Unabhängigkeit Angolas (Unita), daß seine Partei im Falle einer Wahlniederlage in der Lage sei, das Land in ein zweites Somalia zu verwandeln; niemand glaubte damals, daß diese Prophezeiung sich erfüllen könnte. Nicht einmal der Tschad vor zehn Jahren (als dort der Bürgerkrieg tobte) oder das Uganda des Idi Amin Dada hatten sich in einer so hoffnungslosen Lage befunden.

Die Unterentwicklung – ein Vermächtnis Portugals (der rückständigsten europäischen Kolonialmacht), aber auch eine Folge des seit der Unabhängigkeitserklärung von 1975 anhaltenden und vom Ausland geschürten Krieges – hat zwei Generationen dezimiert und erschöpft. Im Namen des Kampfes gegen den Kommunismus haben die USA und Südafrika die Unita Jonas Savimbis mit Waffen und militärischen Ausbildern versorgt.1

Die 1975 vom CIA finanzierten Interventionen, die die Machtübernahme durch die Volksbefreiungsbewegung Angolas (MPLA) verhindern sollten, und vor allem die wiederholten Einfälle Südafrikas in den siebziger und achtziger Jahren sind mittlerweile eingestellt. Aber das Engagement der UNO, die sich seit drei Jahren um eine politische Lösung bemühte, zeichnet sich durch eine unglaubliche Kurzsichtigkeit aus. Das zwischen der Unita und der MPLA im Mai 1991 geschlossene Friedensabkommen von Bicesse beendete zwar den Krieg und legte für das Folgejahr Präsidentschafts- und Parlamentswahlen fest, doch nach dem Wahlsieg der MPLA im September 1992 weigerte sich die Unita, das Ergebnis anzuerkennen, und nahm den Bürgerkrieg wieder auf.2 Trotz dieses Verstoßes gegen das Abkommen haben die UNO und die westlichen Mächte alles unternommen, um einen neuen Kompromiß zu erwirken. Zwar durchlebte die Unita in den letzten vier Jahren eine tiefe innere Krise, doch sie kontrolliert weiterhin vierzig Prozent des Landes. Als Ergebnis der Befriedungsstrategie unterzeichneten Regierung und Unita im November 1994 den Friedensvertrag von Lusaka, der einen fragilen Waffenstillstand festlegte und Savimbi das Amt des Vizepräsidenten anbot.

Fast ein Jahr später erweist sich diese Politik nun als Mißerfolg – die Instabilität der Lage nahm zu. Die Schlüsselelemente des Abkommens – Abzug der aus Zaire und Südafrika kommenden Söldner, Freilassung der Gefangenen, Sammlung, Entwaffnung und Demobilisierung der Unita- Truppen beziehungsweise ihre Eingliederung in die reguläre Armee – sind noch nicht so recht in Gang gekommen, wie General João de Matos, Stabschef der angolanischen Armee, bestätigt: „Der Waffenstillstand ist äußerst labil. Zwar gab es in letzter Zeit keine größeren Gefechte mehr, doch immer wieder kommt es zu Übertretungen, so daß wir die letztes Jahr eingeleitete Demobilisierung der Truppen stoppen mußten.“ Vertreter regierungsunabhängiger Organisationen weisen auf zahlreiche Scharmützel bei der Verteilung von Lebensmitteln oder der Kontrolle strategisch wichtiger Punkte hin.

Nach Aussagen von General de Matos erhält die Unita noch immer bedeutende Unterstützung von Zaire, was von UNO- Vertretern, die in den nördlichen Provinzen arbeiten, bestätigt wird. Dieser Abnützungskrieg drohe die Regierung zu lähmen, fügt der General hinzu: „Warum hindert die Unita die Menschen daran, sich frei zu bewegen? Die Bevölkerung kann so nicht weiterleben. Sie hat die Einschränkungen während des Krieges verstanden, jetzt möchte sie aber das Land bebauen, Handel treiben ...“

Diese Ansichten stehen im Widerspruch zum Optimismus von Boutros Boutros-Ghali, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, und seinem Sonderbeauftragten für Angola, Alioune Blondin Beye. „Wir können nicht länger so tun, als sei alles in Ordnung“, beharrt der General. „Fragen Sie die Leute zwanzig Kilometer außerhalb von Luanda, ob sie wissen, was Frieden ist. Sie sehen nur Tote und Minen.“ Die Sorge der Mehrheit der Bürger gilt dem täglichen Brot und dem Überleben. Der seit 1992 wieder tobende Bürgerkrieg hat Handel und Landwirtschaft praktisch lahmgelegt, die Grundlage der Industrie noch mehr geschwächt und Hunderttausende neuer Flüchtlinge auf die Straße getrieben. Von Streiks sind fast alle Wirtschaftssektoren betroffen, auch das Bildungs- und Gesundheitswesen in einigen Provinzen. Zahlreiche Beamte haben seit Monaten keinen Lohn erhalten, und die rasante Inflation verschlingt einen Großteil der Gehälter. Ein Universitätsprofessor beispielsweise verdient umgerechnet fünfundzwanzig US-Dollar im Monat, ein Beamter drei und eine Krankenschwester einen. Das Land hat eine ganze Generation von Intellektuellen verloren und ist heute nicht imstande, der neuen Generation eine Ausbildung zukommen zu lassen.

Das Beispiel von Chianga, einem international anerkannten landwirtschaftlichen Forschungsinstitut in einem Vorort von Huambo, illustriert diesen Niedergang. Die Stadt wurde 1993 nach fünfundfünfzigtägiger Belagerung von der Unita eingenommen; ihr Anführer, Jonas Savimbi, lebte bis November 1994 auf dem Campus. Das Forschungszentrum war bereits verwüstet, doch bei der Rückeroberung wurde es erst von den Regierungstruppen geplündert, danach machte sich auch die Bevölkerung darüber her, die im verzweifelten alltäglichen Kampf ums Überleben hier die Holzverkleidungen der Wände, das Quecksilber der Thermometer und das Mobiliar stahl.

Der Krieg, die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank erzwungene Liberalisierung und die Inkompetenz des Managements haben das Aufkommen eines wild wuchernden Kapitalismus begünstigt. In der Provinz Nord-Lunda, an der Grenze zu Zaire, herrscht die Anarchie, während französische, britische und südafrikanische Gruppen unter dem Schutz einer Allianz von Unita-Einheiten und Regierungssoldaten – hier scheint der Bann gebrochen – riesige Mengen von Diamanten erbeuten. Die Korruption der politischen Klasse und der ehemaligen Offiziere in Luanda ist unübersehbar. „Die gesamte Bevölkerung versucht, sich jener neuen, aus den Fugen geratenen Wirtschaft anzupassen, die sich jeglichen Kontrollmechanismen entzieht. Nutze deine Position und bereichere dich! lautet heute die Devise. Die Männer der Armee können meinethalben Geschäfte treiben, aber sie müssen sich an den Rahmen der Legalität halten; ich werde nicht zulassen, daß sie sich am Staatseigentum vergreifen“, warnt General de Matos.

Neueröffnete Restaurants, Staus aufgrund der Vielzahl neuerworbener Autos und ein verbreitetes Baufieber bilden einen erschreckenden Kontrast zu den Straßenkindern, den Invaliden in ihren alten Uniformen und den halbnackten Bettlern, deren Körper von offenen Wunden gezeichnet sind. Radio und Fernsehen berichten von den neuesten Rezepten aus der Hohen Kunst des Kochens oder werben für Reisen nach Südafrika – und bieten so der neuen Bourgeoisie ein Mittel zur Zerstreuung. Die Kriminalität nimmt rasant zu, und die von Korruption zerfressene Polizei steht ihr ohnmächtig gegenüber.

In Luanda leben eine halbe Million Flüchtlinge im Elend. Selbst wenn der Waffenstillstand von Dauer wäre und Frieden einzöge, könnten diese Flüchtlinge nicht in ihre Heimat zurückkehren: Der Verlust zweier Ernten hat aus diesen Bauern verelendete Städter gemacht. Auf dem Land ist zudem das Gesundheitswesen zusammengebrochen, und Tuberkulose, Malaria und die Schlafkrankheit sind überall im Vormarsch. Viele Ärzte arbeiten lieber für die UNO – und sei es als Telefonisten, Chauffeure und Dolmetscher.

Zwanzig Jahre Bemühungen um eine nationale Einheit sind zunichte gemacht. Der Quasi-Zusammenbruch der MPLA als Partei nach den Wahlen von 1992 hat bewirkt, daß das Land keine politischen Strukturen besitzt, um sich diesen Herausforderungen zu stellen. Die Regierung hat sich bis auf wenige Ausnahmen national und regional in Geschäfte gestürzt, und alle Eingaben gegen Korruption und Verschwendung sind Papier geblieben.

Nur das Oberkommando der Armee ist bisher noch nicht von diesem Auflösungsprozeß erfaßt und bemüht sich um einen Ausweg aus den festgefahrenen Verhandlungen mit der Unita. Die gemeinsame Kommission, die mit der Realisierung des Protokolls von Luanda beauftragt ist, besteht aus Vertretern der Regierung, der Unita, der UNO, der USA, Portugals und Rußlands. General de Matos hat letzten Juli die Initiative ergriffen und über die Köpfe der Politiker und der UNO hinweg den Militärführern der Unita einen detaillierten Plan vorgeschlagen, der jedem ihrer Soldaten eine Zukunft garantieren würde: Danach soll eine vierte Abteilung der Armee – ein mit dem Wiederaufbau der Infrastruktur auf dem Lande betrautes Korps – eingerichtet und später die Demobilisierung gemeinsam durchgeführt werden. Dieses Korps soll 50000 Soldaten der angolanischen Streitkräfte und 20000 bis 30000 der Unita umfassen, jeder von ihnen soll vor der Demobilisierung, die in zwei Jahren durchgeführt werden soll, eine Ausbildung und eine Anstellung erhalten, ferner die Möglichkeit, für sich und seine Familie ein Haus zu bauen.

Dieser Plan stellt einen konkreten Beitrag zur Friedenssicherung dar und versucht, die Armee, die noch 1992 in Angola ein Störfaktor war, zu einem Stabilisierungsfaktor zu machen. Dieser Plan, den die Unita zunächst verworfen, mittlerweile jedoch akzeptiert hat, könnte von großem Erfolg gekrönt sein – falls Savimbi ihn wirklich unterstützt und die Regierung die finanziellen Mittel zu seiner Realisierung bereitstellen kann; dies ist allerdings ungewiß, da die ausländischen Geldgeber die Fähigkeit der Regierung in Luanda ebenso wie die Friedensaussichten allgemein in diesem Land äußerst zurückhaltend einschätzen.

Die angolanischen Streitkräfte (FAA), heute ein Berufsheer und weniger politisiert, sind bei der Suche nach einer politischen Lösung zu einem wichtigen Faktor geworden. Die früheren Volksstreitkräfte für die Befreiung Angolas (Fapla), die sich im Kampf gegen den portugiesischen Kolonialismus behauptet hatten, wurden nach dem Friedensabkommen von Bicesse von 1991 aufgelöst. Den Militärs war dieser Schritt gar nicht recht, und als die regierende MPLA 1993 bei den Angriffen der Unita beinahe die Macht verloren hätte, zeigte sich, wie katastrophal er gewesen war.

Unter den 100000 Soldaten der FAA gibt es 3000 ehemalige Mitglieder der Unita, darunter etwa ein Drittel der Generäle dieser Organisation. Die übrigen Soldaten sind Berufsoffiziere, zumeist kompetent und selbstbewußt, seit es ihnen gelungen ist, in Rekordzeit eine Armee aufzustellen und die Angriffe der Unita zurückzuschlagen. Bezeichnend für die neuere Entwicklung in der Region ist, daß sie dabei von südafrikanischen Ausbildern unterstützt wurden: Die Armee hatte tatsächlich versucht, Angolaner, die für Südafrika gekämpft hatten, zurückzuholen; die Firma Executive Outcomes, die der Unita Männer verschafft hatte, bot ihre Dienste an, und so haben die FAA mit Pragmatismus und zu einem sehr hohen Preis dreihundert Südafrikaner rekrutiert, von denen noch ungefähr die Hälfte aktiv ist.

Die siegreichen Offensiven des vergangenen Jahres waren ein erstes Zeichen für den Umschwung in den Beziehungen zwischen der Armee und der MPLA, die, obwohl sie nun in einem Mehrparteiensystem agiert, weiterhin die dominierende Kraft im Lande darstellt. Trotz des Drucks der USA auf die FAA, ihre Angriffe einzustellen und Huambo, das Hauptquartier der Unita, nicht einzunehmen, hat sich das Zentralkomitee der MPLA den Warnungen der Armee gebeugt und Savimbi freien Abzug gewährt. Gleichzeitig hat Washington jedoch die politische Zusicherung erhalten, daß die FAA nicht darüber hinausgehen würden.

Die Bedeutung der FAA wächst just in einem Moment, da die traditionellen Akteure – die Unita, die MPLA und die UNO – mit ihren Kräften und Ideen am Ende zu sein scheinen. Die Unita wurde durch den Fall von Huambo traumatisiert; daß sie ihr Hauptquartier sechzig Kilometer weiter nördlich in der Stadt Bailundo einrichten mußte, stellt eine schwere Niederlage dar. Boutros-Ghalis Besuch in Bailundo im Juli hob das Ansehen Savimbis – der aus Sicherheitsgründen nicht nach Luanda gehen wollte – allerdings wieder und verpaßte gleichzeitig dem Präsidenten José Eduardo dos Santos eine Ohrfeige. Dieser Besuch symbolisiert den gefährlichen Kurswechsel der internationalen Gemeinschaft seit dem Wahlsieg der MPLA 1992.

Ende 1992 weigerte sich eine Delegation der Organisation für afrikanische Einheit (OAU) unter der Führung von Robert Mugabe, dem Präsidenten Simbabwes, Jonas Savimbi außerhalb von Luanda zu treffen. Damals wurde die Unita für die neuentfachten Kämpfe verantwortlich gemacht. Inzwischen arbeiten fast alle internationalen Organisationen mit der Unita zusammen und akzeptieren ihre Bedingungen. Auf den von der Unita kontrollierten vierzig Prozent des Territoriums herrscht jedoch die gleiche Paranoia wie in Jamba, dem Hauptquartier der Organisation vor 1992. Zahlreiche Zeugenaussagen von Mitgliedern regierungsunabhängiger Organisationen und Überlebenden von Arbeitslagern bestätigen das Ausmaß der Repressionen, die von einer Bewegung ausgehen, der das Schicksal der Zivilbevölkerung gleichgültig ist.

Der ethnische Faktor gewinnt zunehmend an Bedeutung: Heute sind die wichtigsten Anführer der Unita mit Savimbi verwandt oder gehören seinem Clan an. Die übrigen Führer wie Nzau Puna und Tony da Costa Fernandes de Cabinda wurden aus der Partei ausgeschlossen oder sprangen ab. Die fünfunddreißig Prozent der bei den Wahlen auf die Unita entfallenen Stimmen entsprechen grosso modo dem Anteil der Ovimbundu an der Bevölkerung. Das Gefühl der Marginalisierung dieser Ethnie reicht in die Zeit vor der Unabhängigkeit zurück, als Massendeportationen der Ovimbundu zu den Kaffeeplantagen im Norden des Landes stattfanden. Ihre oppositionelle Haltung zur Zentralmacht wurde lange Jahre von der Unita ausgenutzt.

Angesichts der unberechenbaren Strategie der Unita ist die Zukunft des Landes nur sehr schwer vorherzusehen. Jonas Savimbi hat sich immer noch nicht klar dazu geäußert, ob er das ihm angebotene Amt des Vizepräsidenten annehmen wird, und selbst wenn es zu einer stärkeren Aufteilung der Macht käme, geben die jüngsten Strategien der Unita wenig Anlaß, auf eine rasche Rückkehr zum Frieden zu hoffen.

Die Politik der UNO scheint ebenso unklar. Zwar spielt sie seit den Wahlen eine entscheidende Rolle: Sie hat eine gemeinsame Kommission aus Unita und Regierung eingesetzt und unter dem Druck der USA die Regierung in Luanda gezwungen, ihre Armee kurzzuhalten. Aber dadurch, daß sie der Unita die Nichteinhaltung der Verhandlungsergebnisse hat durchgehen lassen, hat sie schwere Verantwortung übernommen. Dadurch hat die UNO ihren Teil beigetragen zu dieser Tragödie, die Angola seit seiner Unabhängigkeit durchlebt und seitdem sich Südafrika und die USA zusammengeschlossen haben, um zu verhindern, daß Angola das Vorzeigeland des postkolonialen afrikanischen Kontinents würde.

dt. Andrea Marenzeller

* Journalistin (Guardian, London).

1 Vgl. Victoria Brittain, „L' amnésie pour prix de la paix en Afrique australe“, Le Monde diplomatique, Dezember 1994.

2 Vgl. Victoria Brittain und Kevin Watkins, „Impossible réconciliation en Angola et au Mozambique“, Manière de voir Nr. 21, Februar 1994 (von Le Monde diplomatique herausgegebene Vierteljahresschrift).

Le Monde diplomatique vom 13.10.1995, von Victoria Brittain