Jordanien nimmt Kurs auf den Westen
MIT fast einjähriger Verspätung haben Jitzhak Rabin und Jassir Arafat Ende September dem Abkommen über die zweite Phase der palästinensischen Autonomie zugestimmt. Daß die Unterzeichnung des Vertrags in Washington stattfindet, unterstreicht den amerikanischen Einfluß im Nahen Osten, wo die USA wichtige nationale Interessen verfolgen und im Begriff sind, die politische Landkarte neu zu zeichnen. Ohne die besonderen Beziehungen zu Israel anzutasten, ist es der amerikanischen Außenpolitik gelungen, die Hinwendung Jordaniens zum Westen zu beschleunigen und das irakische Regime weiter zu isolieren.
Von PAUL-MARIE DE LA GORCE *
Am 18. August 1995 begannen im haschemitischen Königreich erstmals seit dem Golfkrieg umfangreiche amerikanisch-jordanische Militärübungen. Es folgten weitere Schritte zur Stärkung der amerikanischen Militärpräsenz in der Region, die sich bis Anfang September auf über 22000 Mann erhöhte. Diese Operation signalisiert nicht nur eine langfristige strategische Orientierung, sondern soll auch ein umfassendes politisches Programm umsetzen helfen, das darauf angelegt ist, das von den USA etablierte Überwachungssystem zu konsolidieren und zu verewigen.
Seit dem Ende des Kalten Kriegs gehört das strategische Projekt, eine Achse von Marokko über den Mittelmeerraum durch Kleinasien und den Nahen Osten bis zum Indischen Ozean herzustellen, zu den beiden wichtigsten außenpolitischen Prioritäten – die andere bezieht sich auf Osteuropa und auf jene Republiken, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion von Rußland losgesagt haben. Die Gründe liegen auf der Hand: Diese Region bildet die ideale Ausgangsbasis für militärische Operationen in Europa und Afrika, von Südosteuropa aus in Richtung der ehemaligen Sowjetunion wie auch nach Zentralasien und natürlich in den Großraum um den Indischen Ozean (siehe den Artikel von Raoul Delcorde auf Seite 18). Überdies konzentrieren sich in diesem Gürtel die am leichtesten und billigsten förderbaren Ölvorkommen der Welt.
Wie die Geschichte zeigt, handelt es sich aber auch um eine Krisenregion, was allein die Ereignisse im Zeitraum 1990 bis 1995 schon hinreichend belegen: der Golfkrieg, der Bürgerkrieg im Jemen, das Abkommen von Oslo wie auch die Opposition dagegen, die Anschläge der Islamisten in Ägypten, der algerische Bürgerkrieg, ganz zu schweigen von der Blockade gegen den Irak, den politischen Unruhen in Bahrein, dem Teilembargo gegen Libyen, dem nach wie vor gespannten Verhältnis zum Iran, den Konflikten im Kaukasus und den Erschütterungen im Zusammenhang mit der Kurdenfrage. Gründe genug also für das Weiße Haus, die Region und ihre von den USA geschaffene Ordnung unter ständiger Beobachtung und Kontrolle zu halten.
Präsident Bush hatte bereits unmittelbar nach dem Golfkrieg hervorgehoben, die Beendigung des israelisch-arabischen Konflikts gehöre zu den wichtigsten Schritten auf dem Weg in die „neue Weltordnung“, als deren Architekt er gelten wollte. Denn die Stabilität der Region, die der Sicherung amerikanischer Interessen diente, war offensichtlich jedes Mal bedroht, wenn der Konflikt zwischen dem jüdischen Staat und seinen arabischen Nachbarn erneut aufflackerte.
Es kommt hinzu, daß man im Weißen Haus stets bemüht ist, auf die entscheidenden Interessen Israels Rücksicht zu nehmen, was nicht nur wirtschaftliche und strategische, sondern auch ideologische, moralische und religiöse Hintergründe hat. Der Golfkrieg, und mehr noch die Auflösung der UdSSR, haben Washington erneut gezeigt, wie tief und dauerhaft das sogenannte „Arabische Lager“ auseinandergebrochen ist, das nur mehr aus einzelnen Staaten besteht, die – bereitwillig oder gezwungenermaßen – mit Washington verhandeln müssen, für die strategischen Interessen der USA also keine Bedrohung mehr darstellen.
Im Gegensatz dazu bleiben die Gründe, die Israel seinen privilegierten Status in der amerikanischen Innen- und Außenpolitik garantieren, nach wie vor gültig. Unter der Regierung Clinton wurde diese Allianz aufs neue bekräftigt. Das läßt sich unter anderem daran ablesen, daß Martin Indyk, ein führender Vertreter der proisraelischen Organisation Aipac (American Israel Public Affairs Committee), zuerst in den Nationalen Sicherheitsrat berufen und dann als Botschafter nach Israel entsandt wurde.
Präsident Clinton mußte natürlich daran gelegen sein, eine Beilegung des arabisch-israelischen Konflikts zu erreichen. Nach dem fait accompli des Osloer Abkommens zwischen Israel und der PLO, das nicht auf die Initiative der amerikanischen Diplomatie zurückging, versuchte Clinton, das Beste daraus zu machen, und übernahm bei der Unterzeichnung des Vertrages durch Arafat und Rabin auf den Stufen des Weißen Hauses die Rolle des Zeremonienmeisters. Bei diesem Anlaß kam man aber auch überein, daß sich die Amerikaner aus den weiteren Verhandlungen heraushalten sollten – es sei denn, um Druck auf die Palästinenser auszuüben. Die israelische Diplomatie sollte in diesem für sie so wichtigen Bereich völlig freie Hand behalten. Im Gegenzug durfte sich Präsident Clinton persönlich engagieren und versuchen, den syrischen Präsidenten Hafis al-Assad – bei einem Treffen in Genf am 16. Januar 1994 – zum Ausgleich mit Israel zu bewegen.1 Aber die Verhandlungen mit Syrien blieben in der Sackgasse stecken: Israel machte seinen vollständigen Abzug von den Golan-Höhen von einer qualitativen und quantitativen Reduzierung der syrischen Streitkräfte abhängig, konnte diese Forderung aber nicht durchsetzen. Vergeblich wiesen die amerikanischen Diplomaten darauf hin, daß durch ein Abkommen mit Damaskus die Führung der Palästinenser isoliert und zu größeren Zugeständnissen bewegt werden könnte. Premierminister Rabin glaubte, in den Verhandlungen mit der PLO bereits am längeren Hebel zu sitzen, und war nicht bereit, sich den Bedingungen Assads zu fügen.
Das besondere Verhältnis zu Israel
DER Friedensvertrag zwischen Israel und Jordanien, der am 26. Oktober 1994 unterzeichnet wurde, bedeutete für Clinton allerdings einen wichtigen Erfolg. Zum einen wurde die Auflösung des „Arabischen Lagers“ vorangetrieben, zum anderen war damit ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Eingliederung des jüdischen Staates in das Gefüge des Nahen Ostens vollzogen – der wichtigste seit den Camp- David-Abkommen von 1978 zwischen Ägyten und Israel. Diese Normalisierung erleichterte dann auch das großangelegte politische Manöver, das im August dieses Jahres seinen erfolgreichen Abschluß fand.
Als am 8. August 1995 in Amman zwei Schwiegersöhne des irakischen Präsidenten Saddam Hussein auftauchten und überraschend erklärten, nicht in den Irak zurückkehren zu wollen, war die Weltöffentlichkeit elektrisiert. Zunächst sah es so aus, als habe das Regime in Bagdad eine erneute Belastungsprobe gut überstanden, da die beiden den Konflikt mit ihrem Schwiegervater nicht zu ihren Gunsten hatten entscheiden können und deshalb die Flucht angetreten hatten.
Aber die Episode machte gleichzeitig deutlich, wie sehr die politische und soziale Basis von Saddam Hussein zusammengeschrumpft war. Bereits im Mai war es zwischen dem Machthaber und der mächtigen und zahlreichen Sippe der Duleimi zu einem heftigen Konflikt gekommen, der bei der Beisetzung des Luftwaffengenerals Mohammed Maslum al- Duleimi offen sichtbar wurde. Nachdem der General Ende 1994 verhaftet worden war, wurde der Familie am 17. Mai 1995 sein Leichnam übergeben. Dieser wies deutliche Spuren von Mißhandlung auf. Die anschließenden Unruhen erfaßten vor allem die Städte al-Ambar und al-Ramadi, was deutlich machte, daß diese Region zwischen der syrischen und der iranischen Grenze dem Regime nicht mehr so treu ergeben ist, wie angenommen. Hussein reagierte mit der Entlassung einiger seiner wichtigsten Mitarbeiter, die zugleich Verwandte waren – allen voran des Innen- und des Verteidigungsministers. Erstmals gingen die Risse also auch durch den Takriti-Clan, der stets die tragende Säule des Regimes gewesen war.
Die wichtigste Folge dieser ebenso dramatischen wie bizarren Angelegenheit war freilich der deutliche Kurswechsel in der jordanischen Politik: König Hussein zögerte nicht, die beiden abtrünnigen Schwiegersöhne des irakischen Präsidenten öffentlich willkommen zu heißen, ja, er machte sich sogar deren höchst abenteuerliche Darstellung zu eigen und sprach von einem „unmittelbar bevorstehenden“ Angriff gegen Kuwait, Saudi- Arabien, ja sogar gegen Jordanien. Kein ernstzunehmender Beobachter hielt es für denkbar, daß die irakischen Streitkräfte gegenwärtig solche Pläne verfolgten, da ihnen jegliche Präsenz südlich des 32. Breitengrades untersagt war und sie mit keinerlei Luftunterstützung rechnen konnten, wohl aber mit erheblichen Nachschubproblemen. Aber in der von Hysterie und Falschinformationen erfüllten Atmosphäre holten diese Geschichten Jordanien mit dem nötigen Theaterdonner auf die politische Bühne zurück.
Vorbereitet hatte diesen Auftritt der amerikanische Unterstaatssekretär Robert Pelletreau, der dabei Schritt für Schritt vorging: zunächst die Wiederannäherung zwischen dem haschemitischen Königreich und den Monarchien am Golf, dann die Normalisierung der Beziehungen und die Wiederaufnahme der Ölgeschäfte. Daran knüpfte sich im dritten Schritt die Hoffnung, Jordanien werde seine Handelsbeziehungen mit Bagdad reduzieren, was wiederum die politische Isolation und wirtschaftliche Einschnürung des Irak verstärken sollte. Den USA ging es aber nicht nur um die Verschärfung dieser Blockade, sondern zugleich um eine grundlegende und dauerhafte Neuorientierung der jordanischen Wirtschaftsbeziehungen in Richtung Westen – mit anderen Worten, um eine Öffnung nach Israel.
Dieses großangelegte, hocheffizient durchgezogene politische Manöver wirft allerdings einige Probleme auf. Für Jordanien ist der Irak der wichtigste Handelspartner unter den arabischen Staaten: 13 Prozent der jordanischen Ausfuhren gehen in den Irak, mehr als ein Fünftel des Gesamtexports in die arabischen Länder. Und mehr als 12 Prozent des jordanischen Importvolumens kommen aus dem Irak, das sind über 55 Prozent der Einfuhren aus der arabischen Welt. Der endgültige Bruch zwischen Bagdad und Amman muß der jordanischen Geschäftswelt als ernsthafte Bedrohung erscheinen.
Doch offensichtlich tritt der jordanische König Hussein höchstpersönlich dafür ein, den Sturz von Saddam Hussein möglichst rasch herbeizuführen. Er kann dabei mit der Unterstützung des ägyptischen Staatschefs Hosni Mubarak rechnen, dessen Macht natürlich gestärkt würde, wenn eine neue Friedensordnung den islamistischen Gruppen den Wind aus den Segeln nähme. Ähnliche Ziele verfolgt die türkische Regierung, die darauf hofft, sich mit einer neuen irakischen Führung über das Problem der Überwachung jener nordirakischen Gebiete zu einigen, die zum Hinterland der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) geworden sind.
Hafis al-Assad dagegen hat sein Mißfallen an der Kehrtwendung in der haschemitischen Politik bekundet: Er ist der Meinung, daß König Hussein sich ohne Gegenleistung für die amerikanischen Zwecke einspannen läßt und die Annäherung an Israel ohne Rücksicht auf seine arabischen Nachbarn betreibt. Schlimmer noch: Jordanien trage dazu bei, den Irak zu isolieren und zu schwächen, obwohl es keine seriösen Alternativen zum gegenwärtigen Regime in Bagdad gebe.
Der syrische Staatspräsident hat sich in verschiedenen Gesprächen sehr deutlich zu dieser Frage geäußert. Er befürchtet, daß im Irak islamistische Kräfte an die Macht kommen könnten, die enge Verbindungen zu Saudi-Arabien oder dem Iran unterhalten und folglich eine Bedrohung für das Regime in Damaskus darstellen würden. Und vor allem will er auch keine irakische Regierung, die sich den wirtschaftlichen, politischen und strategischen Interessen der Vereinigten Staaten unterordnet, weil dies all jene Staaten schwächen würde, die sich nach wie vor mit Israel im Streit befinden.
Unter diesen Umständen haben es die Vereinigten Staaten mit der Wachablösung in Bagdad nicht eilig. Zumal sie mit den bislang erreichten Erfolgen schon ganz zufrieden sein können: Jordanien und die Monarchien am Golf sind sich nähergekommen, im Irak ist die politische Macht Saddam Husseins ernsthaft erschüttert und die Wirtschaft weiter geschwächt, während sich engere Wirtschaftsbeziehungen zwischen Jordanien und Israel abzeichnen. Und rechtzeitig zu Beginn der neuen Phase in den endlosen und schwierigen Verhandlungen mit der Führung der Palästinenser ist die Position des jüdischen Staates gestärkt.
Gleichzeitig wird der Irak wirkungsvoll in Schach gehalten und kann die Rohölpreise nicht durcheinanderbringen. Das Embargo bleibt in Kraft – mindestens bis zur abschließenden Auswertung der siebzig Tonnen Unterlagen über die Programme zur Herstellung nichtkonventioneller Waffen, die der Irak bereits abliefern mußte. Madeleine Albright, die amerikanische Vertreterin im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, hat sich dazu ganz offen geäußert: Das werde lange dauern, mindestens bis zum Herbst 1996 – zufällig das Datum der amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Wer denkt heute eigentlich noch an die furchtbaren Folgen, die das Embargo für die Menschen im Irak hat?2
dt. Edgar Peinelt
1 Siehe Paul-Marie de La Gorce, „Damas détient les clefs de la paix“, Le Monde diplomatique, Januar 1995.
2 Siehe Éric Rouleau, „Le peuple irakien, première victime de l'ordre américain“, Le Monde diplomatique, November 1994.
* Von Paul-Marie de La Gorce erschien zuletzt „39-45, Une guerre inconnue“, Paris (Flammarion) 1995.