13.10.1995

Krise der Arbeit – von den hehren Illusionen zur Flickschusterei?

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Krise der Arbeit – von den hehren Illusionen zur Flickschusterei?

WEIL die französische Regierung noch immer nicht zur Kenntnis nimmt, daß der technologische Fortschritt den Arbeitskräftebedarf in den traditionellen Industrieunternehmen nur reduziert, verfolgt sie weiterhin eine Politik öffentlicher Subventionen, mit deren Hilfe die Unternehmer Arbeitskräfte „zum Sparpreis“ einstellen können. Ohne Sinn und Verstand verschleudert Alain Juppé auf diese Weise Gelder, die man besser für eine zukunftsweisende Politik der allgemeinen Arbeitszeitverkürzung verwendet hätte.

Von BERNARD CASSEN

Würden Sprachforscher sich die Mühe machen, die in den letzten zwei oder drei Jahren erschienen Artikel oder Aufsätze zum Thema Arbeitslosigkeit auf die Häufigkeit einzelner Schlüsselwörter hin zu untersuchen, würden sie sicherlich entdecken, daß der Begriff „Wachstum“ in den letzten Monaten deutlich weniger verwendet wird, während die Worte „Flexibilität“ und „Arbeitszeit“ in der Häufigkeitsskala hochgeschnellt sind.

Fast niemand – schon gar nicht die Arbeitgeberseite – vertritt mehr jene jahrzehntelang als Dogma gehandelte These, daß ein Wachstum von mindestens 3 Prozent genügen würde, um allen 18 Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen in der EU Arbeitsplätze zu verschaffen. Der informationstechnologische Fortschritt ist darüber hinweggegangen und schreitet weiter voran. Wenn man ihn sozialpolitisch nicht in den Griff bekommt, wird er Wachstum ohne neue Arbeitsplätze schaffen und obendrein massenhaft Arbeitsplätze zerstören.1 Führt man sich dies vor Augen, dann ist der Titel des 1993 erschienenen Weißbuchs der Europäischen Kommission („Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätze“) fast schon eine Frechheit, bringt er doch Wachstum und Arbeitsplätze in einen engen Zusammenhang. Die im Titel vorgenommene Verbindung von Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätzen kann man nur als absoluten Widerspruch ansehen (siehe hierzu den Artikel von Riccardo Petrella auf Seite 2).

Im Namen ebendieser Wettbewerbsfähigkeit verlagern die großen deutschen Unternehmen – um nur ein Beispiel zu geben – massenweise Arbeitsplätze nach Mittel- und Osteuropa (wo die Löhne zehn- bis zwanzigmal niedriger sind) und fordern von den Arbeitnehmern in Deutschland eine immer größere Bereitschaft zu Zugeständnissen hinsichtlich der Löhne und der Arbeitszeit. In diesen Zusammenhang gehört das am 12. September geschlossene Abkommen zwischen VW und der IG Metall, mit dem immerhin 30000 bedrohte Arbeitsplätze, über die schon 1994 erbittert gestritten wurde, bis 1997 gesichert werden. Möglich war dies aber nur um den Preis weiterer Zugeständnisse. 1994 hatte die IG Metall einer Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 28,8 Stunden (also auf vier Arbeitstage) zugestimmt, wobei gleichzeitig die schon seit 1992 eingefrorenen Löhne um 10 bis 16 Prozent gesenkt wurden. 1995 wurde die Hälfte der bezahlten fünfminütigen Pausen pro Arbeitsstunde gestrichen, die Prämien für Samstagsarbeit wurden gesenkt und die Arbeitszeit auf das ganze Jahr berechnet, wodurch die Unternehmensleitung die wöchentliche Arbeitszeit auf bis zu 38,8 Stunden anheben kann, wenn die Auftragslage dies erfordern sollte. Wenigstens wurden aber die Löhne um 4 Prozent erhöht.

Der Kompromiß mag ja durchaus ehrenhaft sein, aber er macht auch eine tiefgreifende negative Entwicklung sichtbar: Für Regierung und Arbeitgeber ist das Streichen von Arbeitsplätzen zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit längst ein „normaler“ Vorgang. Jean-Claude Trichet, der Chef der französischen Staatsbank, die sich als Hüterin des harten Franc und der Maastrichter Konvergenzkriterien versteht, macht wegweisende Vorschläge: Er plant, in den nächsten drei Jahren 800 von 2425 Arbeitsplätzen in der Produktionsabteilung der Staatsbank zu streichen. Sein Motiv: Um im Jahr 1999 innerhalb Europas wettbewerbsfähig zu sein, wenn es um den Druck der Einheitswährung geht, muß es der Staatsbank gelingen, die Herstellungskosten für eine Banknote um 30 Prozent zu senken ...2

Neben dem Damoklesschwert der Entlassungen, droht – sozusagen als erster Schritt – der Abbau jener Sozialleistungen, die in jahrelangen Auseinandersetzungen mühsam erkämpft worden waren, heute aber als „Privilegien“ gebrandmarkt werden (siehe hierzu den Artikel von Christian de Brie auf Seite 3). Die Arbeitnehmer sollen also diesen Aufschub ihres Rausschmisses mit einer Senkung ihres Lebensstandards beziehungsweise mit verschlechterten Arbeitsbedingungen erkaufen. Dies wird dann gemeinhin als „Flexibilität“ bezeichnet. Entsprechend dem Kräfteverhältnis vor Ort hat diese Flexibilität mehr oder weniger große Nachteile für die Arbeitnehmer. Volkswagen ist wegen der Stärke der IG Metall in dieser Hinsicht ein Sonderfall.

Für die meisten Langzeitarbeitslosen und für die meisten Schulabgänger, denen es gelungen ist, eine Arbeit zu finden, stellt sich diese Frage nicht einmal: Für sie sind Zeitverträge längst die Regel – eine andere Spielart der „Flexibilität“. 1994 waren in Frankreich 70 Prozent der Neueinstellungen zeitlich befristet. Insgesamt haben nur 55 Prozent der werktätigen Bevölkerung einen festen Arbeitsplatz. 1970 waren es noch 76 Prozent. In einigen Jahren wird die Mehrheit der Arbeitnehmer einen befristeten Arbeitsplatz haben – gegenüber 21 Prozent heute.3 Die Vorbereitungen sind bereits in vollem Gange: „In den großen Konzernen braucht man heute für einen unbefristeten Vertrag die Zustimmung und Unterschrift von acht bis zehn Führungskräften“, erklärt Michel Berry, Forschungsdirektor für Unternehmensführung am französischen Wissenschaftszentrum CNRS.4

1993 waren in den Vereinigten Staaten 90 Prozent der angebotenen Stellen befristet beziehungsweise Teilzeitstellen. Ein Indiz dafür, daß sich die Vereinigten Staaten der Dritten Welt annähern, ist die Tatsache, daß 7,6 Millionen Amerikaner (das sind 500000 mehr als im Jahr zuvor) mehrere Jobs gleichzeitig haben, die natürlich alle schlecht bezahlt sind. „Jobs“ sind der einzige Ausweg für Arbeiter und Angestellte, die Opfer einer Massenentlassung werden, wie die 4000 Beschäftigten, die bei der in den Medien vielgerühmten Fusion der Chase Manhattan Bank und der Chemical Banking ihren Arbeitsplatz verlieren werden.5

Eine Gegenreform von riesigen Ausmaßen

VOR unseren Augen vollzieht sich derzeit eine „rückläufige“ Umverteilung der Einkommen, eine Gegenreform, die in der Gegenwartsgeschichte ohnegleichen ist. In seinem neuesten Buch mit dem bezeichnenden Titel „Das Ende der Arbeit“6 erinnert der amerikanische Ökologe Jeremy Rifkin daran, daß in den Vereinigten Staaten ein Viertel der werktätigen Bevölkerung Saison- oder Teilzeitarbeiter sind, die 20 bis 30 Prozent weniger pro Stunde bekommen als ihre (noch) festangestellten Kollegen und weder renten- noch krankenversichert sind. Auf der anderen Seite sind die Unternehmensgewinne in den achtziger Jahren um 92 Prozent gestiegen, die Dividenden haben sich vervierfacht, und die Führungskräfte haben sich ohne Skrupel astronomisch hohe Gehälter genehmigt: 1953 machten diese 22 Prozent der Unternehmensgewinne aus, 1987 waren es schon 61 Prozent.

So sieht also das „arbeitsplatzträchtige Wachstum“ aus, das von einem großen Teil der Presse gepriesen wird und auf das die Verfasser offizieller Berichte so gerne verweisen. Wenn es noch jemanden gibt, der im geringsten an der Existenz eines einheitlichen Denkens zweifelt, dann sei ihm – um seine Zweifel zu zerstreuen – die Lektüre jener erschreckend monotonen Dokumente empfohlen. Ob man in das oben erwähnte Weißbuch der Europäischen Kommission, in den Minc-Bericht7 oder auch in die (im negativen Sinne) verblüffende „Untersuchung“ der OECD zum Thema Frankreich8 schaut – nirgends werden Globalisierung, uneingeschränktes Funktionieren der Waren- und Kapitalmärkte und Senkung der gesetzlichen Abgaben auch nur zum Schein in Frage gestellt. Sie werden vielmehr längst ausgegeben als „irreversible (und alles in allem heilsame) Zwänge. Manövriermasse gibt es lediglich noch auf dem Arbeitsmarkt, dessen nationale Besonderheiten fortbestehen werden“9. Wenn man von diesen Postulaten ausgeht, dann ist die allgemeine Flexibilität hinsichtlich der Lohnkosten und der Arbeitszeit die einzige Alternative zur Arbeitslosigkeit. Von außen gesehen fragt man sich: Wie können Rezepte, die sich Tag für Tag als untauglich und gefährlich erweisen, weiterhin angewandt werden? Handelt es sich um ideologische Verblendung, gesellschaftspolitischen Konformismus, intellektuelle Erstarrung, oder ist es die Schwierigkeit, sich von dem jahre- beziehungsweise jahrzehntelangen moralinsauren Geschwätz zu lösen? Wer mag das entscheiden?

Der Wille, zumindest eine Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation zu verhindern, ist der politische Generalnenner der Regierung Alain Juppés, dessen Minister noch nie mit nonkonformistischen Ideen geglänzt haben und mittlerweile längst zu Gefangenen der Chiracschen Wahlkampfrhetorik (und des in diesem Zusammenhang vielbeschworenen „sozialen Bruchs“) geworden sind. Um so besser, wenn dieses vorrangige Ziel mit dem guten alten Mittel der Flexibilität erreicht werden kann, das die Arbeitgeber natürlich vorziehen. Und wenn man zu diesem Zweck die Unternehmer mit staatlichen Mitteln unterstützen muß, dann läßt man sich auch auf Subventionen ein. Genau darum geht es im wesentlichen bei der neuen „Arbeitsbeschaffungs-Initiative“, in deren Rahmen ein Unternehmen, das einen Langzeitarbeitslosen zum Mindestlohn einstellt, monatlich 2982,33 Francs (etwa 870 Mark) an Subventionen erhält.

Das Unternehmen profitiert dabei von dem „Almosen-“ oder „Substitutions- Effekt“; die öffentliche Hand finanziert einen neuen Arbeitsplatz, den das Unternehmen ohnehin geschaffen hätte. In die gleiche Richtung gehen die sogenannten Unterstützungs-Leistungen für 400000 hilfsbedürftige Personen: Da alte Menschen einen Anspruch auf solche Leistungen haben, können Zehntausende von zusätzlichen Stellen im Hauspflegebereich geschaffen werden. Dies verstärkt im übrigen nur eine ohnehin sehr ausgeprägt vorhandene Entwicklung, denn 1994 profitierten bereits 2,4 Millionen Menschen, das sind 9 Prozent der werktätigen Bevölkerung, von staatlichen Beihilfen für Arbeitsplätze und Lehrgänge. Damit allerdings ist die „Phantasie“ der Regierung auch schon am Ende, und so landet sie unausweichlich in einer Sackgasse. Am 23. Juni dieses Jahres fällte das Zentrum Junger Unternehmer über die Maßnahmen der Regierung das lapidare Urteil: „Arbeitsplatzeffekt: keiner.“

Dabei gibt es eine andere, bisher noch nicht erprobte Möglichkeit, die Jacques Chirac allerdings zunächst verworfen hatte, für die er sich jedoch bei einem Firmenbesuch im Juli dieses Jahres in Cholet zu erwärmen vermochte: die Möglichkeit einer massiven und umfassenden Arbeitszeitreduktion, die ohne finanzielle Einbußen für die unteren und mittleren Lohngruppen und nur mit wenig Einsatz an „Flexibilität“ funktionieren könnte. Dieser Plan unterscheidet sich grundlegend von dem Ergebnis der Verhandlungen bei Volkswagen, denn dort handelt es sich nur um eine defensive und örtlich begrenzte Umverteilung der Arbeitslosigkeit, ohne daß ein Mehr an freier Zeit für alle erreicht worden wäre. An die vierzig Forscher (Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen und Philosophen) und Gewerkschaftsmitglieder, die fast in keiner Frage einer Meinung waren, haben im Juli dieses Jahres ein drei Punkte umfassendes Manifest10 unterzeichnet, das im ersten Punkt die Empfehlung ausspricht, „eine einheitliche Menge bezahlter Arbeit, von der es unausweichlich immer weniger geben wird, gleichmäßig auf die gesamte werktätige Bevölkerung zu verteilen“. Die beiden anderen Punkte beschäftigen sich mit der Beschreibung und Weiterentwicklung einer solidarischen Wirtschaftsform und der Einführung eines Mindesteinkommens für alle, solange „die kapitalistische Marktwirtschaft unfähig ist, die von ihr ausgelöste Produktivitätslogik eigenständig zu regulieren und für die Menschen nutzbar zu machen“.

Unter allen europäischen Ländern ist Frankreich sicherlich dasjenige, in dem die Debatte über die Arbeitszeit11 am weitesten über den rein gewerkschaftlichen Bereich hinausgeht und zu einem politischen Thema geworden ist.12 Wird Jacques Chirac, der demnächst all die lächerlichen Mittel gegen die Arbeitslosigkeit, die er auf Lager hat, erfolglos ausprobiert haben dürfte, so mutig sein, die ausgetretenen Pfade zu verlassen, um das Problem der Arbeitszeit frontal anzugehen? Wenn er es denn nicht aus Mut tun wird, dann vielleicht, weil er politisch überleben will. Mit dem Vorschlag, bestimmte Kapitalerträge wenigstens geringfügig zu besteuern, hat die Regierung Juppé schon ein Tabu gebrochen, das noch von Pierre Bérégovoy und François Mitterrand stammt und schon von Edouard Balladur angetastet worden war, als er einige steuerliche Vorteile für Geldmarktfonds gestrichen hatte ...

dt. Christian Voigt

1 Siehe vor allem: Bernard Cassen, „Impérative transition vers une société de temps libéré“, Le Monde diplomatique, November 1994.

2 Le Monde, 14. September 1995.

3 Siehe den Artikel von Pascale-Marie Deschamps und Cathrine André in L'Expansion, Nr. 506a, Juli 1995.

4 Infomatin, 4. September 1995.

5 La Tribune Desfossés, 4. September 1995.

6 Jeremy Rifkin,„The End of Work. The Decline of the Global Labor Force and the Dawn of the Post- Market-Era, New York (Jeremy P. Tarcher-Putnam) 1995. André Gorz hat unter dem Titel „Vers une société post-marchande“ eine äußerst umsichtige Analyse dieses Buches verfaßt, die in Transversales science culture, Nr. 35, September/Oktober 1995 erschienen ist.

7 Es handelt sich dabei um den an den Premierminister gerichteten Bericht der von Alain Minc geleiteten Kommission „La France de l'an 2000“, Paris (Odile Jacob/La documentation française) 1994.

8 Die „Experten“ der OECD empfehlen vor allem eine Senkung des Mindestlohns und eine Verringerung der Sozialausgaben und der Zahl der Beamten (Le Monde, 24./25. September 1995).

9 Jacques Freyssinet, „Emploi et chômage: peu de résultats, beaucoup de rapports“, Document de travail Nr. 95-01, Institut de recherches économiques et sociales (IRES), April 1995.

10 Dieses Manifest mit dem Titel „Chômage: appel au débat“ wurde in der Beilage „Initiatives“ von Le Monde vom 28. Juni 1995 veröffentlicht.

11 Siehe: „Le temps de travail en Europe. Organisation et réduction“ (unter der Leitung von Reiner Hoffmann und Jean Lapeyre), Paris (Institut syndical européen/Syros) 1995. Zur weiteren Lektüre seien empfohlen: Michel Husson, „Le volume du travail et son partage. Étude comparative de sept grands pays“ in La Revue de l'IRES, Nr. 11, Winter 1993, und Eric Dumoulin/Delphine Lombard, „Le Guide de l'aménagement du temps de travail“, Paris (Editions d'Organisation) 1995.

12 Das Europaparlament hat im Juli dieses Jahres eine Resolution verabschiedet, mit der der „Bericht über eine kohärente Beschäftigungsstrategie in der Europäischen Union“ gebilligt wurde, der vom Sonderausschuß für Fragen der Arbeit (Berichterstatter: Ken Coates) erarbeitet wurde und eine einschneidende Reduzierung der Arbeitszeit empfiehlt (A 4-0166/95, 28. Juni 1995). Die Beratende Versammlung des Europarates, in der Vertreter aus 36 Staaten zusammenkommen, hat ihrerseits am 25. September des letzten Jahres einen Bericht des österreichischen Sozialisten Gusenbauer verabschiedet, der eine Reduzierung der gesamten Lebensarbeitszeit befürwortet.

Le Monde diplomatique vom 13.10.1995, von Bernard Cassen