13.10.1995

Das einzige Heilmittel für den Menschen ist der Mensch Von MARIANNE BOILÈVE

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Das einzige Heilmittel für den Menschen ist der Mensch Von MARIANNE BOILÈVE

EIN großes gelbes Transparent, das notdürftig oberhalb eines steinernen Drachens an einer Hausfassade angebracht ist, stört die Ruhe des bürgerlichen Wohnviertels. Der Drachen mit seinem weitaufgerissenen Maul schaut herab in die gleichnamige Rue du Dragon, mitten in Paris, im Herzen von Saint-Germain-des-Prés, in der seit Monaten Dutzende Familien ohne Unterkunft, Obdachlose und Ausgegrenzte in einem leerstehenden Schulgebäude untergebracht sind, das die Organisation „Droit au logement“ (DAL – Recht auf Wohnung) im Dezember 1994 „beschlagnahmt“ hatte. Längst ist hier ein eigenständiger Verein enstanden: „Droits devant!“ (Vorwärts für unsere Rechte), der jeder Form der Ausgrenzung den Kampf angesagt hat. Sie haben die Kultur zu ihrem Schlachtroß erkoren, und zwar alle Arten von Kultur, insofern sie den Bürgern die Möglichkeit bietet, eigene Gedanken zu artikulieren.

Wieder eines dieser Hirngespinste einer Handvoll Intellektueller? Zahlreiche internationale Organisationen wie ATD Quart Monde und Institutionen wie die Europäische Kommission sind gemeinsam der Überzeugung: Kultur ist kein „Luxus, mit dem man das Dasein bereichern kann, wenn erst die gesellschaftlichen Probleme gelöst sind. Im Gegenteil, es handelt sich hierbei vielmehr um ein zentrales Element der sozialen Ausgrenzung, denn gerade kulturelle Barrieren, Unwissenheit, Scham und die allgemeine Unsicherheit erschweren die politische und gesellschaftliche Partizipation und berühren die Grundwerte unseres Daseins“1.

Alle Organisationen, die Kultur als Mittel im Kampf gegen die Ausgrenzung einsetzen, haben dies zum Ausgangspunkt. Droits devant! hat in Paris sehr schnell eine Reihe von Kulturwerkstätten aufgebaut, in denen unter Anleitung von Künstlern, Intellektuellen und Obdachlosen Theater- und Video-Gruppen arbeiten, Kurse in bildender Kunst angeboten werden, jedoch auch Wissensvermittlung stattfindet (Mathematik, Philosophie, Soziologie der Ausgrenzung usw.).

Auch die Volksuniversitäten von ATD Quart Monde arbeiten auf der Grundlage des Gedankens „Wissen für alle!“, doch hier nimmt die politische Botschaft zweifellos mehr Raum ein. Diese Einrichtungen, die über die ganze Welt verstreut arbeiten – auf Madagaskar, in Senegal, auf Haiti, in den USA wie in Europa – sind so konzipiert, daß Arme und weniger Arme lernen, gemeinsam nachzudenken und gemeinsam eine Strategie gegen die Armut zu entwickeln. Armut gilt ihnen als eine Menschenrechtsverletzung. Kultur und Politik gehören hier eng zusammen, wie folgender Ausspruch eines Aktivisten aus Senegal zeigt: „Bei uns gibt es ein Sprichwort: Das einzige Heilmittel für den Menschen ist der Mensch (...) Kultur, das bedeutet, gemeinsam nein sagen zu können, und gemeinsam ja sagen zu können.“2

Begegnung zweier Welten

DAS war auch die Erfahrung der Jugendlichen bei der Volksuniversität in Martigues im Departement Bouches-du-Rhône, wo die Bewohner der Trabantenstadt zusammen mit Studenten und Professoren aktiv an der gesellschaftlichen Umgestaltung mitwirken. Während die Bewohner der Wohnsilos an der Universität Kurse abhalten, begeben sich Studenten und Professoren in die Außenbezirke, um die Wirklichkeit dieser Stadtviertel in sich aufzunehmen. „Wir wissen sehr genau, daß die Volksuniversität keine Arbeitsplätze schaffen wird“, sagt Rachida Kaabeche, eine junge arbeitslose Erzieherin. „Wir geben uns keinen Illusionen hin. Worauf es ankommt, ist die Begegnung zweier Erfahrungswelten, der der Hochhaussiedlung und der der Universität. Die Beziehung zum Anderen ermutigt zum Engagement, dazu, die Dinge zu verändern.“

Der Ansatz der Université du Citoyen (Bürgeruniversität) von Marseille ist vergleichbar. Er besteht darin, bei den Hochhausbewohnern ein Bewußtsein über ihren Platz und ihre Rolle in der Gesellschaft zu wecken, um zwischen ihnen und den Entscheidungsträgern (gewählte Funktionäre, Partner, Vermieter) ein konstruktives Bündnis entstehen zu lassen. „Die Leute verfügen über ein eigenes Wissen, doch sie können es nicht ausdrücken“, erklärt Jo Ross, sozialer Vermittler bei der Subpräfektur und „Erfinder“ der Université du Citoyen im Jahr 1992.3 „Unsere Universität hilft ihnen, ihre Fragen zu formulieren, sich an die entsprechenden Entscheidungsträger zu richten, und erlaubt ihnen so, aus einer instinktiv reaktiven Haltung herauszukommen und selber aktiv zu werden. (...) Diese schweigende Mehrheit hat unendlich viel zu sagen, ist voller Ideen, aber sie weiß es derzeit nicht.“

Einmal im Monat finden Plenarsitzungen statt, in denen – je nach Thema (Wohnraum, Gesundheit, Justiz ...) – zwischen dreißig und hundert Personen anwesend sind. Die „Bürger-Studenten“ lernen, die richtigen Fragen zu stellen und die richtigen Gesprächspartner und Entscheidungsinstanzen herauszufinden, um selbständig zu sein. Der Weg dahin, als Bürger seine Stimme zu erheben, ist für Männer und Frauen, Alte und Junge, die sich nach dem Verlust ihres Selbstvertrauens ins Schweigen zurückgezogen haben, ein äußerst schwieriger. „Ich habe dreißig Jahre gebraucht. Dreißig Jahre hat es gedauert, bis ich mich davon freimachen konnte, mich für meine Armut und Ausgeschlossenheit zu schämen“, sagt ein belgischer Aktivist. „Erst über den Kontakt mit ATD Quart Monde habe ich gelernt zu sprechen, meinen Standpunkt zu verteidigen, habe ich begriffen, daß wir wie alle anderen sind.“

All diesen „aus dem Leben Verbannten“, die vergessen haben oder womöglich nie gewußt haben, daß sie „wie alle anderen sind“, muß man als erstes vermitteln, daß es „eine Bedeutung hat, was jemand sagt oder tut“4, und ihnen zeigen, daß sie über ein Wissen, ja, einen inneren Reichtum verfügen, den mitzuteilen sich lohnt.

Der Rückgriff auf künstlerische Ausdrucksformen ist einer der Schlüssel zu dieser Selbstwertschätzung, denn dadurch erhalten die Menschen, die von der „Schande, arm zu sein“, gezeichnet sind, nicht nur Zugang zu schönen Dingen, sondern sie können sie sogar selber erschaffen. In Guatemala, wo ATD Quart Monde das Programm „Kunst für alle“ lanciert hat, sind Künstler in die Slums gefahren, um dort ihre Leidenschaft zu vermitteln. Einer von ihnen hatte sich mit Kindern auf eine öffentliche Müllhalde begeben: „Ich möchte bei ihnen Gefühle wecken, denn ich glaube, daß, wenn das Leben zu hart ist, die Menschen sich in Steine verwandeln müssen, sie verhärten sich, um ihre Lage ertragen zu können. (...) Durch die Kunst, dadurch daß ein Kind ein Bild malt und seinen Namen darunter setzt, kann es sagen: ,Ich bin ein menschliches Wesen, ich bin in der Lage, Gutes zu tun, ich bin in der Lage, etwas zu fühlen.“

Tausende Kilometer von dort entfernt, in einem verrufenen Stadtteil von Dublin mit einer Arbeitslosenquote von 80 Prozent, hat Fiona Nolan, theaterbegeisterte Sozialarbeiterin, ein Dutzend Mütter ermutigt, ihre Lebensgeschichten zu inszenieren, auf die stolz zu sein sie bis dahin keinerlei Grund gehabt hatten. Seit zwölf Jahren schreiben und spielen die „Balcony Belles“ aus der Sheriff Street Stücke, die die verschiedenen Aspekte ihrer Kultur und ihres Alltags beleuchten (Arbeitslosigkeit, Schwarzarbeit, Sozialversicherung etc.). Sie hatten einen schwierigen Start, aber mittlerweile sind sie so berühmt, daß sich das Image des gesamten Stadtteils verändert hat.

„Cardboard Citizens“ heißt eine Londoner Truppe, die vor vier Jahren „von und für Obdachlose“ gegründet wurde. Die Citizens schöpfen aus derselben Inspirationsquelle wie die Balcony Belles, das heißt aus den eigenen Erfahrungen der Mitglieder. Doch sie haben eine wesentlich intensivere Beziehung zu ihrem Publikum geschaffen, denn sie arbeiten nach dem Prinzip des „Forum-Theaters“ des brasilianischen Regisseurs Augusto Boal. Dieses Konzept bietet die Möglichkeit zu einem wirklichen kritischen Austausch mit dem Publikum, ob mit oder ohne festen Wohnsitz.5

All diese Initiativen bringen Marginalisierte dazu, sich in einem gemeinsamen Projekt zu engagieren, zu Handelnden zu werden und Verantwortung zu übernehmen. All diese Projekte, anspruchsvolle wie bescheidene, entwickeln sich so rasant, daß die Institutionen, die versuchen, die soziale Kluft zu verringern, nicht länger über sie hinwegsehen können.

Allein in Europa leben 52 Millionen Arme, die einen Anspruch auf die Verwirklichung der Grundrechte haben, die in den meisten europäischen Verfassungen garantiert sind. Dazu gehört auch das Recht auf Kultur. Sicherlich liegt darin der Grund, warum die Generaldirektion für Information und Kultur der Europäischen Kommission eine Reihe von Aktionen plant. Pilotprogramme wie das Programm „Horizon“ sind bereits angelaufen, mit dem klar formulierten Ziel, in den „heißen“ Stadtteilen mehrerer europäischer Städte „durch kulturelle Aktivitäten soziale Beziehungen und gesellschaftliche Kohärenz wiederherzustellen“. Doch wir warten noch auf ein globales Projekt, mit einem reellen Budget und reellen Möglichkeiten.

dt. Sophie Mondésir

1 „Une politique à partir des plus pauvres“ (Eine Politik, die bei den Ärmsten ansetzt), ATD Quart Monde, Paris 1993. ATD Quart Monde (Adr.: 23, rue de Bièvres, 75005 Paris) ist eine in den fünfziger Jahren aus der christlichen Bewegung entstandene, von Pater Joseph Wresinski gegründete Organisation, die insgesamt in 23 Ländern mit den Ärmsten der Armen arbeitet.

2 Senegalesischer Beitrag zur vierten Versammlung der Volksuniversitäten in Brüssel, Juni 1995.

3 Die Université du Citoyen funktioniert so gut, daß La Seyne, Toulon, Avignon und Créteil angekündigt haben, eine Entsprechung gründen zu wollen.

4 Monique Janvier, ehrenamtliche Mitarbeiterin von Quart Monde in Genf.

5 Auch in Frankreich werden ähnliche Experimente durchgeführt, so zum Beispiel in der Siedlung Minguettes in Vénissieux, wo die Truppe „Traction Avant“ auf der Erfahrung der Bewohner aufbaut und Workshops für Jugendliche organisiert. Siehe auch Miguel Angel Estrella: „A quoi bon jouer Beethoven quand les gens ont faim?“ (“Was nützt es, Beethoven zu spielen, wenn die Menschen Hunger haben?“), Le Monde diplomatique, Juni 1989.

Le Monde diplomatique vom 13.10.1995, von Marianne Boileve